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07. Červen 2009
I
Der Heizer
Als der siebzehnjährige
Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden
war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen
hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork
einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin
wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem
Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.
"So hoch",
sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von
der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen,
allmählich bis an das Bordgeländer geschoben.
Ein junger Mann, mit dem
er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war sagte im Vorübergehn:
"Ja haben Sie denn noch keine Lust auszusteigen?" "Ich bin
doch fertig", sagte Karl ihn anlachend und hob, aus Übermut und weil
er ein starker Junge war, den Koffer auf die Achsel. Aber wie er über
seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon
mit den andern entfernte, merkte er, daß er seinen Regenschirm unten im
Schiff vergessen hatte. Er bat schnell den Bekannten, der nicht sehr beglückt
schien, um die Freundlichkeit, bei seinem Koffer einen Augenblick zu
warten, überblickte schnell die Situation um sich bei der Rückkehr
zurechtzufinden und eilte davon. Unten fand er zu seinem Bedauern einen
Gang, der seinen Weg sehr verkürzt hätte, zum erstenmal versperrt, was
wahrscheinlich mit der Ausschiffung sämtlicher Passagiere zusammenhieng,
und mußte sich seinen Weg durch eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend
abbiegende Korridore, kurze Treppen, die einander aber immer wieder
folgten, ein leeres Zimmer mit einem verlassenen Schreibtisch mühselig
suchen, bis er sich tatsächlich, da er diesen Weg nur ein oder zweimal
und immer in größerer Gesellschaft gegangen war, ganz und gar verirrt
hatte. In seiner Ratlosigkeit und da er keinen Menschen traf und nur
immerfort über sich das Scharren der tausend Menschenfüße hörte und
von der Ferne wie einen Hauch das letzte Arbeiten der schon eingestellten
Maschine merkte, fieng er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe
zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. "Es ist ja
offen", rief es von innen und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen
die Tür. "Warum schlagen Sie so verrückt auf die Tür?" fragte
ein riesiger Mann, kaum daß er nach Karl hinsah. Durch irgendeine
Oberlichtluke fiel ein trübes oben im Schiff längst abgebrauchtes Licht
in die klägliche Kabine, in welcher ein Bett, ein Schrank, ein Sessel und
der Mann knapp neben einander wie eingelagert standen. "Ich habe mich
verirrt", sagte Karl, "ich habe es während der Fahrt gar nicht
so bemerkt, aber es ist ein schrecklich großes Schiff. " "Ja da
haben Sie recht", sagte der Mann mit einigem Stolz und hörte nicht
auf an dem Schloß eines kleinen Koffers zu hantieren, den er mit beiden Händen
immer wieder zudrückte, um das Einschnappen des Riegels zu behorchen.
"Aber kommen Sie doch herein", sagte der Mann weiter, "Sie
werden doch nicht draußen stehn." "Störe ich nicht"
fragte Karl. "Ach wie werden Sie denn stören. " "Sind Sie
ein Deutscher?" suchte sich Karl noch zu versichern, da er viel von
den Gefahren gehört hatte, welche besonders von Irländern den Neuankömmlingen
in Amerika drohen. "Bin ich, bin ich", sagte der Mann. Karl zögerte
noch. Da faßte unversehens der Mann die Türklinke und schob mit der Türe,
die er rasch schloß, Karl zu sich herein. "Ich kann es nicht leiden,
wenn man mir vom Gang hereinschaut", sagte der Mann, der wieder an
seinem Koffer arbeitete. "Da lauft jeder vorbei und schaut herein,
das soll der Zehnte aushalten." "Aber der Gang ist doch ganz
leer", sagte Karl, der unbehaglich an den Bettpfosten gequetscht
dastand. "Ja jetzt", sagte der Mann. "Es handelt sich doch
um jetzt", dachte Karl, "mit dem Mann ist schwer zu reden.
" "Legen Sie sich doch aufs Bett, da haben Sie mehr Platz",
sagte der Mann. Karl kroch so gut es gieng hinein und lachte dabei laut über
den ersten vergeblichen Versuch sich herüber zu schwingen. Kaum war er
aber drin, rief er: "Gotteswillen, ich habe ja ganz an meinen Koffer
vergessen." "Wo ist er denn?" "Oben auf dem Deck, ein
Bekannter gibt acht auf ihn. Wie heißt er nur? " Und er zog aus
einer Geheimtasche, die ihm seine Mutter für die Reise im Rockfutter
angelegt hatte, eine Visitkarte. "Butterbaum, Franz Butterbaum."
"Haben Sie den Koffer sehr nötig" "Natürlich. "
"Ja warum haben Sie ihn dann einem fremden Menschen gegeben?"
"Ich hatte meinen Regenschirm unten vergessen und bin gelaufen ihn zu
holen, wollte aber den Koffer nicht mitschleppen. Dann habe ich mich auch
noch verirrt. " "Sie sind allein? Ohne Begleitung?."
"Ja, allein. " Ich sollte mich vielleicht an diesen Mann halten,
gieng es Karl durch den Kopf, wo finde ich gleich einen bessern Freund.
"Und jetzt haben Sie auch noch den Koffer verloren. Vom Regenschirm
rede ich gar nicht", und der Mann setzte sich auf den Sessel, als
habe Karls Sache jetzt einiges Interesse für ihn gewonnen. "Ich
glaube aber, der Koffer ist noch nicht verloren. " "Glauben
macht selig", sagte der Mann und kratzte sich kräftig in seinem
dunklen kurzen dichten Haar. "Auf dem Schiff wechseln mit den Hafenplätzen
auch die Sitten, in Hamburg hätte Ihr Butterbaum den Koffer vielleicht
bewacht, hier ist höchstwahrscheinlich schon von beiden keine Spur
mehr." "Da muß ich aber doch gleich hinaufschauen", sagte
Karl und sah sich um wie er herauskommen könnte. "Bleiben Sie
nur", sagte der Mann und stieß ihn mit einer Hand gegen die Brust
geradezu rauh ins Bett zurück. "Warum denn?" fragte Karl ärgerlich.
"Weil es keinen Sinn hat", sagte der Mann. "In einem
kleinen Weilchen gehe ich auch, dann gehn wir zusammen. Entweder ist der
Koffer gestohlen, dann ist keine Hilfe und Sie können ihm nachweinen bis
an das Ende Ihrer Tage oder der Mensch bewacht ihn noch immer, dann ist er
ein Dummkopf und soll weiter wachen oder er ist bloß ein ehrlicher Mensch
und hat den Koffer stehn gelassen, dann werden wir ihn bis das Schiff ganz
entleert ist, desto besser finden. Ebenso auch Ihren Regenschirm."
"Kennen Sie sich auf dem Schiff aus?" fragte Karl mißtrauisch
und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf
dem leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen
verborgenen Haken. "Ich bin doch Schiffsheizer", sagte der Mann.
"Sie sind Schiffsheizer", rief Karl freudig, als überstiege das
alle Erwartungen, und sah den Elbogen aufgestützt den Mann näher an.
"Gerade vor der Kammer, wo ich mit den Slowacken geschlafen habe, war
eine Luke angebracht durch die man in den Maschinenraum sehen
konnte." "Ja dort habe ich gearbeitet", sagte der Heizer.
"Ich habe mich immer so für Technik interessiert", sagte Karl,
der in einem bestimmten Gedankengang blieb, "und ich wäre sicher später
Ingenieur geworden, wenn ich nicht nach Amerika hätte fahren müssen."
"Warum haben Sie denn fahren müssen?" "Ach was! "
sagte Karl und warf die ganze Geschichte mit der Hand weg. Dabei sah er lächelnd
den Heizer an, als bitte er ihn selbst für das nicht Eingestandene um
seine Nachsicht. "Es wird schon einen Grund gehabt haben", sagte
der Heizer und man wußte nicht recht, ob er damit die Erzählung dieses
Grundes fordern oder abwehren wolle. "Jetzt könnte ich auch Heizer
werden", sagte Karl, "meinen Eltern ist es jetzt ganz
gleichgiltig was ich werde." "Meine Stelle wird frei",
sagte der Heizer, steckte im Vollbewußtsein dessen die Hände in die
Hosentaschen und warf die Beine, die in faltigen, lederartigen,
eisengrauen Hosen steckten, aufs Bett hin, um sie zu strecken. Karl mußte
mehr an die Wand rücken. "Sie verlassen das Schiff?"
"Jawoll, wir marschieren heute ab." "Warum denn? Gefällt
es Ihnen nicht? " "Ja, das sind so die Verhältnisse, es
entscheidet nicht immer, ob es einem gefällt oder nicht. Übrigens haben
Sie recht, es gefällt mir auch nicht. Sie denken wahrscheinlich nicht mit
Entschlossenheit daran Heizer zu werden, aber gerade dann kann man es am
leichtesten werden. Ich also rate Ihnen entschieden ab. Wenn Sie in Europa
studieren wollten, warum wollen Sie es denn hier nicht. Die amerikanischen
Universitäten sind ja unvergleichlich besser. " "Das ist ja möglich",
sagte Karl, "aber ich habe ja fast kein Geld zum Studieren. Ich habe
zwar von irgend jemandem gelesen, der bei Tag in einem Geschäft
gearbeitet und in der Nacht studiert hat, bis er Doktor und ich glaube Bürgermeister
wurde. Aber dazu gehört doch eine große Ausdauer, nicht Ich fürchte,
die fehlt mir. Außerdem war ich gar kein besonders guter Schüler, der
Abschied von der Schule ist mir wirklich nicht schwer geworden. Und die
Schulen hier sind vielleicht noch strenger. Englisch kann ich fast gar
nicht. Überhaupt ist man hier gegen Fremde so eingenommen, glaube ich.
" "Haben Sie das auch schon erfahren Na, dann ist gut. Dann sind
Sie mein Mann. Sehn Sie, wir sind doch auf einem deutschen Schiff, es gehört
der Hamburg Amerika Linie, warum sind wir nicht lauter Deutsche hier?
Warum ist der Obermaschinist ein Rumäne? Er heißt Schubal. Das ist doch
nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem
deutschen Schiff, Glauben Sie nicht" – ihm gieng die Luft aus, er
fakkelte mit der Hand – "daß ich klage um zu klagen. Ich weiß daß
Sie keinen Einfluß haben und selbst ein armes Bürschchen sind. Aber es
ist zu arg. " Und er schlug auf den Tisch mehrmals hart mit der Faust
und ließ kein Auge von ihr, während er schlug. "Ich habe doch schon
auf so vielen Schiffen gedient" – und er nannte zwanzig Namen
hinter einander als sei es ein Wort, Karl wurde ganz wirr – "und
habe mich ausgezeichnet, bin belobt worden, war ein Arbeiter nach dem
Geschmack meiner Kapitäne, sogar auf dem gleichen Handelssegler war ich
einige Jahre" – er erhob sich als sei das der Höhepunkt seines
Lebens – "und hier auf diesem Kasten, wo alles nach der Schnur
eingerichtet ist, wo kein Witz erfordert wird – hier taug ich nichts,
hier steh ich dem Schubal immer im Wege, bin ein Faulpelz, verdiene
herausgeworfen zu werden und bekomme meinen Lohn aus Gnade. Verstehn Sie
das? Ich nicht. " "Das dürfen Sie sich nicht gefallen
lassen", sagte Karl aufgeregt. Er hatte fast das Gefühl davon
verloren, daß er auf dem unsichern Boden eines Schiffes an der Küste
eines unbekannten Erdteils war, so heimisch war ihm hier auf dem Bett des
Heizers zumute. "Waren Sie schon beim Kapitän? Haben Sie schon bei
ihm Ihr Recht gesucht?" "Ach gehn Sie, gehn Sie lieber weg. Ich
will Sie nicht hier haben. Sie hören nicht zu, was ich sage und geben mir
Ratschläge. Wie soll ich denn zum Kapitän gehn. " Und müde setzte
sich der Heizer wieder und legte das Gesicht in beide Hände. "Einen
bessern Rat kann ich ihm nicht geben", sagte sich Karl. Und er fand
überhaupt, daß er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt hier
Ratschläge zu geben die ja nur für dumm gehalten wurden. Als ihm der
Vater den Koffer für immer übergeben hatte, hatte er im Scherz gefragt:
Wie lange wirst du ihn haben? und jetzt war dieser teuere Koffer
vielleicht schon im Ernst verloren. Der einzige Trost war noch, daß der
Vater von seiner jetzigen Lage nicht das allergeringste erfahren konnte,
selbst wenn er nachforschen sollte. Nur daß er bis Newyork gekommen war,
konnte die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Karl daß
er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es
beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da
hatte er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt wo er es gerade am Beginn
seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet aufzutreten, würde er
im schmutzigen Hemd erscheinen müssen. Das waren schöne Aussichten.
Sonst wäre der Verlust des Koffers nicht gar so arg gewesen, denn der
Anzug, den er anhatte war sogar besser, als jener im Koffer, der
eigentlich nur ein Notanzug war, den die Mutter noch knapp vor der Abreise
hatte flicken müssen. Jetzt erinnerte er sich auch, daß im Koffer noch
ein Stück Veroneser Salami war, die ihm die Mutter als Extragabe
eingepackt hatte, von der er jedoch nur den kleinsten Teil hatte aufessen
können, da er während der Fahrt ganz ohne Appetit gewesen war und die
Suppe, die im Zwischendeck zur Verteilung kam, ihm reichlich genügt
hatte. Jetzt hätte er aber die Wurst gern bei der Hand gehabt, um sie dem
Heizer zu verehren. Denn solche Leute sind leicht gewonnen wenn man ihnen
irgendeine Kleinigkeit zusteckt, das wußte Karl noch von seinem Vater
her, welcher durch Cigarrenverteilung alle die niedrigern Angestellten
gewann, mit denen er geschäftlich zu tun hatte. Jetzt hatte Karl an
Verschenkbarem noch sein Geld bei sich und das wollte er, wenn er schon
vielleicht den Koffer verloren haben sollte, vorläufig nicht anrühren.
Wieder kehrten seine Gedanken zum Koffer zurück und er konnte jetzt
wirklich nicht einsehn, warum er den Koffer während der Fahrt so
aufmerksam bewacht hatte, daß ihn die Wache fast den Schlaf gekostet
hatte, wenn er jetzt diesen gleichen Koffer so leicht sich hatte wegnehmen
lassen. Er erinnerte sich an die fünf Nächte, während derer er einen
kleinen Slowacken, der zwei Schlafstellen links von ihm lag, unausgesetzt
im Verdacht gehabt hatte, daß er es auf seinen Koffer abgesehen habe.
Dieser Slowacke hatte nur darauf gelauert, daß Karl endlich von Schwäche
befallen für einen Augenblick einnicke, damit er den Koffer mit einer
langen Stange, mit der er immer während des Tages spielte oder übte, zu
sich hinüberziehen könne. Bei Tage sah dieser Slowacke genug unschuldig
aus, aber kaum war die Nacht gekommen, erhob er sich von Zeit zu Zeit von
seinem Lager und sah traurig zu Karls Koffer herüber. Karl konnte dies
ganz deutlich erkennen, denn immer hatte hie und da jemand mit der Unruhe
des Auswanderers ein Lichtchen angezündet, trotzdem dies nach der
Schiffsordnung verboten war, und versuchte unverständliche Prospekte der
Auswanderungsagenturen zu entziffern. War ein solches Licht in der Nähe,
dann konnte Karl ein wenig eindämmern, war es aber in der Ferne oder war
es dunkel, dann mußte er die Augen offenhalten. Diese Anstrengung hatte
ihn recht erschöpft. Und nun war sie vielleicht ganz umsonst gewesen.
Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen sollte.
In diesem Augenblick ertönten
draußen in weiter Ferne in die bisherige vollkommene Ruhe hinein kleine
kurze Schläge wie von Kinderfüßen, sie kamen näher mit verstärktem
Klang und nun war es ein ruhiger Marsch von Männern. Sie giengen
offenbar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war, in einer Reihe, man
hörte Klirren wie von Waffen. Karl der schon nahe daran gewesen war, sich
im Bett zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowacken befreiten
Schlafe auszustrecken, schreckte auf und stieß den Heizer an um ihn
endlich aufmerksam zu machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür
gerade erreicht zu haben. "Das ist die Schiffskapelle", sagte
der Heizer. "Die haben oben gespielt und gehn einpacken. Jetzt ist
alles fertig und wir können gehn. Kommen Sie. " Er faßte Karl bei
der Hand, nahm noch im letzten Augenblick ein Muttergottesbild von der
Wand über dem Bett, stopfte es in seine Brusttasche, ergriff seinen
Koffer und verließ mit Karl eilig die Kabine.
"Jetzt gehe ich ins
Bureau und werde den Herren meine Meinung sagen. Es ist niemand mehr da,
man muß keine Rücksichten nehmen", wiederholte der Heizer
verschiedenartig und wollte im Gehn mit Seitwärtsstoßen des Fußes eine
den Weg kreuzende Ratte niedertreten, stieß sie aber bloß schneller in
das Loch hinein, das sie noch rechtzeitig erreicht hatte. Er war überhaupt
langsam in seinen Bewegungen, denn wenn er auch lange Beine hatte, so
waren sie doch zu schwer.
Sie kamen durch eine
Abteilung der Küche, wo einige Mädchen in schmutzigen Schürzen – sie
begossen sie absichtlich – Geschirr in großen Bottichen reinigten. Der
Heizer rief eine gewisse Line zu sich, legte den Arm um ihre Hüfte und führte
sie, die sich immerzu kokett gegen seinen Arm drückte, ein Stückchen
mit. "Es gibt jetzt Auszahlung, willst Du mit?" fragte er.
"Warum soll ich mich bemühn, bring mir das Geld lieber mit",
antwortete sie, schlüpfte unter dem Arm durch und lief davon. "Wo
hast Du denn den schönen Knaben aufgegabelt", rief sie noch, wollte
aber keine Antwort mehr. Man hörte das Lachen aller Mädchen, die ihre
Arbeit unterbrochen hatten.
Sie giengen aber weiter
und kamen an eine Türe, die oben einen kleinen Vorgiebel hatte, der von
kleinen vergoldeten Karyatiden getragen war. Für eine Schiffseinrichtung
sah das recht verschwenderisch aus. Karl war, wie er merkte niemals in
diese Gegend gekommen, die wahrscheinlich während der Fahrt den
Passagieren der ersten und zweiten Klasse vorbehalten war, während jetzt
vor der großen Schiffsreinigung die Trennungstüren ausgehoben waren. Sie
waren auch tatsächlich einigen Männern schon begegnet, die Besen an der
Schulter trugen und den Heizer gegrüßt hatten. Karl staunte über den
großen Betrieb, in seinem Zwischendeck hatte er davon freilich wenig
erfahren. Entlang der Gänge zogen sich auch Drähte elektrischer
Leitungen und eine kleine Glocke hörte man immerfort.
Der Heizer klopfte
respektvoll an der Türe an und forderte, als man "herein" rief,
Karl mit einer Handbewegung auf, ohne Furcht einzutreten. Er trat auch
ein, aber blieb an der Türe stehn. Vor den drei Fenstern des Zimmers sah
er die Wellen des Meeres und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung
schlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf lange Tage das Meer
ununterbrochen gesehn. Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und
gaben dem Wellenschlag nur soweit nach als es ihre Schwere erlaubte. Wenn
man die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu
schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Flaggen, die
zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und her
zappelten. Wahrscheinlich von Kriegsschiffen her erklangen Salutschüsse,
die Kanonenrohre eines solchen nicht allzuweit vorüberfahrenden Schiffes,
strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels, waren wie gehätschelt von
der sichern, glatten und doch nicht wagrechten Fahrt. Die kleinen
Schiffchen und Boote konnte man wenigstens von der Tür aus nur in der
Ferne beobachten, wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den großen
Schiffen einliefen. Hinter alledem aber stand Newyork und sah Karl mit den
hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja in diesem Zimmer wußte
man, wo man war.
An einem runden Tisch saßen
drei Herren, der eine ein Schiffsofficier in blauer Schiffsuniform, die
zwei andern, Beamte der Hafenbehörde, in schwarzen amerikanischen
Uniformen. Auf dem Tisch lagen hochaufgeschichtet verschiedene Dokumente,
welche der Officier zuerst mit der Feder in der Hand überflog, um sie
dann den beiden andern zu reichen, die bald lasen, bald excerpierten, bald
in ihre Aktentaschen einlegten, wenn nicht gerade der eine, der fast
ununterbrochen ein kleines Geräusch mit den Zähnen vollführte, seinem
Kollegen etwas in ein Protokoll diktierte.
Am Fenster saß an einem
Schreibtisch, den Rücken der Türe zugewendet ein kleinerer Herr, der mit
großen Folianten hantierte, die auf einem starken Bücherbrett in Kopfhöhe
vor ihm nebeneinandergereiht waren. Neben ihm stand eine offene wenigstens
auf den ersten Blick leere Kassa.
Das zweite Fenster war
leer und gab den besten Ausblick. In der Nähe des dritten aber standen
zwei Herren in halblautem Gespräch. Der eine lehnte neben dem Fenster,
trug auch die Schiffsuniform und spielte mit dem Griff des Degens.
Derjenige, mit dem er sprach, war dem Fenster zugewendet und enthüllte
hie und da durch eine Bewegung einen Teil der Ordensreihe auf der Brust
des andern. Er war in Civil und hatte ein dünnes Bambusstöckchen, das,
da er beide Hände an den Hüften festhielt, auch wie ein Degen abstand.
Karl hatte nicht viel
Zeit alles anzusehn, denn bald trat ein Diener auf sie zu und fragte den
Heizer mit einem Blick, als gehöre er nicht hierher, was er denn wolle.
Der Heizer antwortete so leise als er gefragt wurde, er wolle mit dem
Herrn Oberkassier reden. Der Diener lehnte für seinen Teil mit einer
Handbewegung diese Bitte ab, gieng aber dennoch auf den Fußspitzen dem
runden Tisch im großen Bogen ausweichend zu dem Herrn mit den Folianten.
Dieser Herr, das sah man deutlich, erstarrte geradezu unter den Worten des
Dieners, sah sich aber endlich nach dem Manne um, der ihn zu sprechen wünschte,
fuchtelte dann streng abwehrend gegen den Heizer und der Sicherheit halber
auch gegen den Diener hin. Der Diener kehrte daraufhin zum Heizer zurück
und sagte in einem Tone, als vertraue er ihm etwas an: "Scheren Sie
sich sofort aus dem Zimmer! "
Der Heizer sah nach
dieser Antwort zu Karl hinunter, als sei dieser sein Herz dem er stumm
seinen Jammer klage. Ohne weitere Besinnung machte sich Karl los, lief
quer durchs Zimmer, daß er sogar leicht an den Sessel des Offiziers
streifte, der Diener lief gebeugt mit zum Umfangen bereiten Armen, als
jage er ein Ungeziefer, aber Karl war der erste beim Tisch des
Oberkassiers, wo er sich festhielt für den Fall, daß der Diener
versuchen sollte ihn fortzuziehn.
Natürlich wurde gleich
das ganze Zimmer lebendig. Der Schiffsoffizier am Tisch war aufgesprungen,
die Herren von der Hafenbehörde sahen ruhig aber aufmerksam zu, die
beiden Herren am Fenster waren nebeneinander getreten, der Diener, der
glaubte, er sei dort, wo schon die hohen Herren Interesse zeigten, nicht
mehr am Platze, trat zurück. Der Heizer an der Türe wartete angespannt
auf den Augenblick, bis seine Hilfe nötig würde. Der Oberkassier endlich
machte in seinem Lehnsessel eine große Rechtswendung.
Karl kramte aus seiner
Geheimtasche, die er den Blicken dieser Leute zu zeigen keine Bedenken
hatte, seinen Reisepaß hervor, den er statt weiterer Vorstellung geöffnet
auf den Tisch legte. Der Oberkassier schien diesen Paß für nebensächlich
zu halten, denn er schnippte ihn mit zwei Fingern beiseite, worauf Karl,
als sei diese Formalität zur Zufriedenheit erledigt, den Paß wieder
einsteckte. "Ich erlaube mir zu sagen", begann er dann, "daß
meiner Meinung nach dem Herrn Heizer Unrecht geschehen ist. Es ist hier
ein gewisser Schubal, der ihm aufsitzt. Er selbst hat schon auf vielen
Schiffen, die er Ihnen alle nennen kann, zur vollständigen Zufriedenheit
gedient, ist fleißig, meint es mit seiner Arbeit gut und es ist wirklich
nicht einzusehn, warum er gerade auf diesem Schiff, wo doch der Dienst
nicht so übermäßig schwer ist, wie z. B. auf Handelsseglern, schlecht
entsprechen sollte. Es kann daher nur Verläumdung sein, die ihn in seinem
Vorwärtskommen hindert und ihn um die Anerkennung bringt, die ihm sonst
ganz bestimmt nicht fehlen würde. Ich habe nur das Allgemeine über diese
Sache gesagt, seine besondern Beschwerden wird er Ihnen selbst vorbringen.
" Karl hatte sich mit dieser Sache an alle Herren gewendet weil ja
tatsächlich auch alle zuhörten und es viel wahrscheinlicher schien, daß
sich unter allen zusammen ein Gerechter vorfand, als daß dieser Gerechte
gerade der Oberkassier sein sollte. Aus Schlauheit hatte außerdem Karl
verschwiegen, daß er den Heizer erst so kurze Zeit kannte. Im übrigen hätte
er noch viel besser gesprochen, wenn er nicht durch das rote Gesicht des
Herrn mit dem Bambusstöckchen beirrt worden wäre, den er von seinem
jetzigen Standort überhaupt zum erstenmal erblickte.
"Es ist alles Wort für
Wort richtig", sagte der Heizer, ehe ihn noch jemand gefragt, ja ehe
man noch überhaupt auf ihn hingesehen hatte. Diese Übereiltheit des
Heizers wäre ein großer Fehler gewesen, wenn nicht der Herr mit den
Orden, der wie es jetzt Karl aufleuchtete jedenfalls der Kapitän war,
offenbar mit sich bereits übereingekommen wäre, den Heizer anzuhören.
Er streckte nämlich die Hand aus und rief zum Heizer: "Kommen Sie
her! " mit einer Stimme, fest, um mit einem Hammer darauf zu
schlagen. Jetzt hieng alles vom Benehmen des Heizers ab, denn was die
Gerechtigkeit seiner Sache anbelangte, an der zweifelte Karl nicht.
Glücklicherweise zeigte
sich bei dieser Gelegenheit, daß der Heizer schon viel in der Welt
herumgekommen war. Musterhaft ruhig nahm er aus seinem Kofferchen mit dem
ersten Griff ein Bündelchen Papiere sowie ein Notizbuch,
gieng damit, als verstünde
sich das von selbst, unter vollständiger Vernachlässigung des
Oberkassiers zum Kapitän und breitete auf dem Fensterbrett seine
Beweismittel aus. Dem Oberkassier blieb nichts übrig als sich selbst
hinzubemühn. "Der Mann ist ein bekannter Querulant", sagte er
zur Erklärung, "er ist mehr in der Kassa als im Maschinenraum. Er
hat Schubal diesen ruhigen Menschen ganz zur Verzweiflung gebracht. Hören
Sie einmal! " wandte er sich an den Heizer, " Sie treiben Ihre
Zudringlichkeit doch schon wirklich zu weit. Wie oft hat man Sie schon aus
den Auszahlungsräumen herausgeworfen, wie Sie es mit Ihren ganz, vollständig
und ausnahmslos unberechtigten Forderungen verdienen! Wie oft sind Sie von
dort hierher in die Hauptkassa gelaufen gekommen! Wie oft hat man Ihnen im
Guten gesagt, daß Schubal Ihr unmittelbarer Vorgesetzter ist, mit dem
allein Sie sich als sein Untergebener abzufinden haben! Und jetzt kommen
Sie gar noch her, wenn der Herr Kapitän da ist, schämen sich nicht,
sogar ihn zu belästigen, sondern entblöden sich nicht, als eingelernten
Stimmführer Ihrer abgeschmackten Beschuldigungen diesen Kleinen
mitzubringen, den ich überhaupt zum erstenmal auf dem Schiffe sehe.
"
Karl hielt sich mit
Gewalt zurück, vorzuspringen. Aber da war auch schon der Kapitän da,
welcher sagte: "Hören wir den Mann doch einmal an. Der Schubal wird
mir so wie so mit der Zeit viel zu selbstständig, womit ich aber nichts
zu Ihren Gunsten gesagt haben will." Das letztere galt dem Heizer, es
war nur natürlich, daß er sich nicht sofort für ihn einsetzen konnte,
aber alles schien auf dem richtigen Weg. Der Heizer begann seine Erklärungen
und überwand sich gleich am Anfang, indem er den Schubal mit Herr
titulierte. Wie freute sich Karl am verlassenen Schreibtisch des
Oberkassiers, wo er eine Briefwage immer wieder niederdrückte vor lauter
Vergnügen. Herr Schubal ist ungerecht. Herr Schubal bevorzugt die Ausländer.
Herr Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinenraum und ließ ihn
Klosete reinigen, was doch gewiß nicht des Heizers Sache war. Einmal
wurde sogar die Tüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt, die eher
scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte. Bei dieser Stelle starrte
Karl mit aller Kraft den Kapitän an, zutunlich als sei er sein Kollege,
nur damit er sich durch die etwas ungeschickte Ausdrucksweise des Heizers
nicht zu seinen Ungunsten beeinflussen lasse. Immerhin erfuhr man aus den
vielen Reden nichts eigentliches und wenn auch der Kapitän noch immer vor
sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit den Heizer diesmal bis zu
Ende anzuhören, so wurden doch die andern Herren ungeduldig und die
Stimme des Heizers regierte bald nicht mehr unumschränkt in dem Raum, was
manches befürchten ließ. Als erster setzte der Herr in Civil sein
Bambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise auf das
Parkett. Die andern Herren sahen natürlich hie und da hin, die Herren von
der Hafenbehörde, die offenbar pressiert waren, griffen wieder zu den
Akten und begannen, wenn auch noch etwas geistesabwesend sie durchzusehn,
der Schiffsofficier rückte seinem Tische wieder näher und der
Oberkassier, der gewonnenes Spiel zu haben glaubte, seufzte aus Ironie
tief auf. Von der allgemein eintretenden Zerstreuung schien nur der Diener
bewahrt, der von den Leiden des unter die Großen gestellten armen Mannes
einen Teil mitfühlte und Karl ernst zunickte, als wolle er damit etwas
erklären.
Inzwischen gieng vor den
Fenstern das Hafenleben weiter, ein flaches Lastschiff mit einem Berg von
Fässern, die wunderbar verstaut sein mußten, daß sie nicht ins Rollen
kamen, zog vorüber und erzeugte in dem Zimmer fast Dunkelheit, kleine
Motorboote, die Karl jetzt, wenn er Zeit gehabt hätte, genau hätte
ansehn können, rauschten nach den Zuckungender Hände eines am 'Steuer
aufrecht stehenden Mannes schnurgerade dahin, eigentümliche Schwimmkörper
tauchten hie und da selbständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich
wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick, Boote der
Ozeandampfer wurden von heiß arbeitenden Matrosen vorwärtsgerudert und
waren voll von Passagieren, die darin, so wie man sie hineingezwängt
hatte still und erwartungsvoll saßen, wenn es auch manche nicht
unterlassen konnten die Köpfe nach den wechselnden Scenerien zu drehn.
Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe, übertragen von dem unruhigen
Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.
Aber alles mahnte zur
Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung, aber was tat der
Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf dem Fenster
konnte er längst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten, aus
allen Himmelsrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen
seiner Meinung nach jede einzelne genügt hätte diesen Schubal vollständig
zu begraben, aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein
trauriges Durcheinanderstrudeln aller insgesamt. Längst schon pfiff der
Herr mit dem Bambusstöckchen schwach zur Decke hinauf, die Herren von der
Hafenbehörde hielten schon den Officier an ihrem Tisch und machten keine
Miene ihn je wieder loszulassen, der Oberkassier wurde sichtlich nur durch
die Ruhe des Kapitäns vor dem Dreinfahren zurückgehalten, wonach es ihn
juckte. Der Diener erwartete in Habtachtstellung jeden Augenblick einen
auf den Heizer bezüglichen Befehl seines Kapitäns.
Da konnte Karl nicht mehr
untätig bleiben. Er gieng also langsam zu der Gruppe hin und überlegte
im Gehn nur desto schneller, wie er die Sache möglichst geschickt
angreifen könnte. Es war wirklich höchste Zeit, noch ein kleines
Weilchen nur und sie konnten ganz gut beide aus dem Bureau fliegen. Der
Kapitän mochte ja ein guter Mann sein und überdies gerade jetzt, wie es
Karl schien, einen besondern Grund haben, sich als gerechter Vorgesetzter
zu zeigen, aber schließlich war er kein Instrument, das man in Grund und
Boden spielen konnte – und gerade so behandelte ihn der Heizer,
allerdings aus seinem grenzenlos empörten Inneren heraus.
Karl sagte also zum
Heizer: "Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän
kann das nicht würdigen so wie Sie es ihm erzählen. Kennt er denn alle
Maschinisten und Laufburschen bei Namen oder gar beim Taufnamen, daß er,
wenn Sie nur einen solchen Namen aussprechen gleich wissen kann, um wen es
sich handelt. Ordnen Sie doch Ihre Beschwerden, sagen Sie die Wichtigste
zuerst und absteigend die andern, vielleicht wird es dann überhaupt nicht
mehr nötig sein, die meisten auch nur zu erwähnen. Mir haben Sie es doch
immer so klar dargestellt. " Wenn man in Amerika Koffer stehlen kann,
kann man auch hie und da lügen, dachte er zur Entschuldigung.
Wenn es aber nur geholfen
hätte! Ob es nicht auch schon zu spät war? Der Heizer unterbrach sich
zwar sofort, als er die bekannte Stimme hörte, aber mit seinen Augen, die
ganz von Tränen, der beleidigten Mannesehre, der schrecklichen
Erinnerungen, der äußersten gegenwärtigen Not verdeckt waren, konnte er
Karl schon nicht einmal gut mehr erkennen. Wie sollte er auch jetzt, Karl
sah das schweigend vor dem jetzt Schweigenden wohl ein, wie sollte er auch
jetzt plötzlich seine Redeweise ändern, da es ihm doch schien, als hätte
er alles was zu sagen war ohne die geringste Anerkennung schon vorgebracht
und als habe er andererseits noch gar nichts gesagt und könne doch den
Herren jetzt nicht zumuten, noch alles anzuhören. Und in einem solchen
Zeitpunkt
kommt noch Karl sein
einziger Anhänger daher, will ihm gute Lehren geben, zeigt ihm aber statt
dessen, daß alles alles verloren ist.
Wäre ich früher
gekommen, statt aus dem Fenster zu schauen, sagte sich Karl, senkte vor
dem Heizer das Gesicht und schlug die Hände an die Hosennaht zum Zeichen
des Endes jeder Hoffnung.
Aber der Heizer mißverstand
das, witterte wohl in Karl irgendwelche geheime Vorwürfe gegen sich und
in der guten Absicht sie ihm auszureden fieng er zur Krönung seiner Taten
mit Karl jetzt zu streiten an. Jetzt, wo doch die Herren am runden Tisch längst
empört über den nutzlosen Lärm waren, der ihre wichtigen Arbeiten störte,
wo der Hauptkassier allmählich die Geduld des Kapitäns unverständlich
fand und zum sofortigen Ausbruch neigte, wo der Diener ganz wieder in der
Sphäre seiner Herrn den Heizer mit wildem Blicke maß und wo endlich der
Herr mit dem Bambusstöckchen, zu welchem sogar der Kapitän hie und da
freundschaftlich hinübersah, schon gänzlich abgestumpft gegen den
Heizer, ja von ihm angewidert, ein kleines Notizbuch hervorzog und
offenbar mit ganz andern Angelegenheiten beschäftigt die Augen zwischen
dem Notizbuch und Karl hin und her wandern ließ.
"Ich weiß ja, ich
weiß ja", sagte Karl der Mühe hatte den jetzt gegen ihn gekehrten
Schwall des Heizers abzuwehren, trotzdem aber quer durch allen Streit noch
ein Freundeslächeln für ihn übrig hatte. " Sie haben recht, recht,
ich habe ja nie daran gezweifelt. " Er hätte ihm gern die
herumfahrenden Hände aus Furcht vor Schlägen gehalten, noch lieber
allerdings ihn in einen Winkel gedrängt um ihm ein paar leise beruhigende
Worte zuzuflüstern, die niemand sonst hätte hören müssen. Aber der
Heizer war außer Rand und Band. Karl begann jetzt schon sogar aus dem
Gedanken eine Art Trost zu schöpfen, daß der Heizer im Notfall mit der
Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen könne.
Allerdings lag auf dem Schreibtisch wie ein Blick dorthin lehrte ein
Aufsatz mit viel zu vielen Druckknöpfen der elektrischen Leitung und eine
Hand, einfach auf sie niedergedrückt, konnte das ganze Schiff mit allen
seinen von feindlichen Menschen gefüllten Gängen rebellisch machen.
Da trat der doch so
uninteressierte Herr mit dem Bambusstöckchen auf Karl zu und fragte nicht
überlaut, aber deutlich über allem Geschrei des Heizers: "Wie heißen
Sie denn eigentlich?" In diesem Augenblick, als hätte jemand hinter
der Tür auf diese Äußerung des Herrn gewartet klopfte es. Der Diener
sah zum Kapitän hinüber, dieser nickte. Daher gieng der Diener zur Tür
und öffnete sie. Draußen stand in einem alten Kaiserrock ein Mann von
mittlern Proportionen, seinem Aussehn nach nicht eigentlich zur Arbeit an
den Maschinen geeignet und war doch – Schubal. Wenn es Karl nicht an
aller Augen erkannt hätte, die eine gewisse Befriedigung ausdrückten,
von der nicht einmal der Kapitän frei war, er hätte es zu seinem
Schrecken am Heizer sehen müssen, der die Fäuste an den gestrafften
Armen so ballte, als sei diese Ballung das Wichtigste an ihm, dem er alles
was er an Leben habe zu opfern bereit sei. Da steckte jetzt alle seine
Kraft, auch die, welche ihn überhaupt aufrecht erhielt.
Und da war also der Feind
frei und frisch im Festanzug, unter dem Arm ein Geschäftsbuch,
wahrscheinlich die Lohnlisten und Arbeitsausweise des Heizers und sah mit
dem ungescheuten Zugeständnis, daß er die Stimmung jedes einzelnen vor
allem feststellen wolle, in aller Augen der Reihe nach. Die sieben waren
auch schon alle seine Freunde, denn wenn auch der Kapitän früher gewisse
Einwände gegen ihn gehabt oder vielleicht auch nur vorgeschützt hatte,
nach dem Leid, das ihm der Heizer angetan hatte, schien ihm wahrscheinlich
an Schubal auch das Geringste nicht mehr auszusetzen. Gegen einen Mann wie
den Heizer konnte man nicht streng genug verfahren und wenn dem Schubal
etwas vorzuwerfen war, so war es der Umstand, daß er die
Widerspenstigkeit des Heizers im Laufe der Zeiten nicht so weit hatte
brechen können, daß es dieser heute noch gewagt hatte vor dem Kapitän
zu erscheinen.
Nun konnte man ja
vielleicht noch annehmen, die Gegenüberstellung des Heizers und Schubals
werde die ihr vor einem höhern Forum zukommende Wirkung auch vor den
Menschen nicht verfehlen, denn wenn sich auch Schubal gut verstellen
konnte, er mußte es doch durchaus nicht bis zum Ende aushalten können.
Ein kurzes Aufblitzen seiner Schlechtigkeit sollte genügen, um sie den
Herren sichtbar zu machen, dafür wollte Karl schon sorgen. Er kannte doch
schon beiläufig den Scharfsinn, die Schwächen, die Launen der einzelnen
Herren und unter diesem Gesichtspunkt war die bisher hier verbrachte Zeit
nicht verloren. Wenn nur der Heizer besser auf dem Platze gewesen wäre,
aber der schien vollständig kampfunfähig. Wenn man ihm den Schubal
hingehalten hätte, hätte er wohl dessen gehaßten Schädel mit den Fäusten
aufklopfen können, wie eine dünnschalige Nuß. Aber schon die paar
Schritte zu ihm hinzugehn, war er wohl kaum imstande. Warum hatte denn
Karl das so leicht vorauszusehende nicht vorausgesehn, daß Schubal
endlich kommen müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Kapitän
gerufen. Warum hatte er auf dem Herweg mit dem Heizer nicht einen genauen
Kriegsplan besprochen, statt wie sie es in Wirklichkeit getan hatten
heillos unvorbereitet einfach dort einzutreten, wo eine Türe war? Konnte
der Heizer überhaupt noch reden, ja und nein sagen, wie es bei dem
Kreuzverhör, das allerdings nur im günstigsten Fall bevorstand nötig
sein würde. Er stand da, die Beine auseinandergestellt, die Knie ein
wenig gebogen, den Kopf etwas gehoben und die Luft verkehrte durch den
offenen Mund als gebe es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten.
Karl allerdings fühlte
sich so kräftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu hause niemals
gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden
Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es
auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung
sich vollkommen bereit stellte. Würden sie ihre Meinung über ihn
revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal einmal in
die ihnen so ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und ungeeignetester
Augenblick sie zu stellen!
"Ich komme, weil ich
glaube, daß mich der Heizer irgendwelcher Unredlichkeiten beschuldigt.
Ein Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte ihn auf dem Wege hierher
gesehen. Herr Kapitän und Sie alle meine Herren, ich bin bereit, jede
Beschuldigung an der Hand meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussagen
unvoreingenommener und unbeeinflußter Zeugen, die vor der Türe stehn, zu
widerlegen. " So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede
eines Mannes und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte
man glauben können, sie hörten zum erstenmal nach langer Zeit wieder
menschliche Laute. Sie bemerkten freilich nicht, daß selbst diese schöne
Rede Löcher hatte. Warum war das erste sachliche Wort das ihm einfiel
"Unredlichkeiten"? Hätte vielleicht die Beschuldigung hier
einsetzen müssen, statt bei seinen nationalen Voreingenommenheiten? Ein Mädchen
aus der Küche hatte den Heizer auf dem Weg ins Bureau gesehn und Schubal
hatte sofort begriffen? War es nicht das Schuldbewußtsein, das ihm den
Verstand schärfte Und Zeugen hatte er gleich mitgebracht und nannte sie
noch außerdem unvoreingenommen und unbeeinflußt? Gaunerei, nichts als
Gaunerei und die Herren duldeten das und anerkannten es noch als richtiges
Benehmen? Warum hatte er zweifellos sehr viel Zeit zwischen der Meldung
des Küchenmädchens und seiner Ankunft hier verstreichen lassen, doch zu
keinem andern Zwecke als damit der Heizer die Herren so ermüde, daß sie
allmählich ihre klare Urteilskraft verloren hätten, welche Schubal vor
allem zu fürchten hatte? Hatte er der sicher schon lange hinter der Tür
gestanden war nicht erst in dem Augenblick geklopft, als er infolge der
nebensächlichen Frage jenes Herren hoffen durfte, der Heizer sei
erledigt?
Alles war klar und wurde
ja auch von Schubal wider Willen so dargeboten, aber den Herren mußte man
es anders, noch handgreiflicher sagen. Sie brauchten Aufrüttelung. Also
Karl, rasch, nütze jetzt wenigstens die Zeit aus, ehe die Zeugen
auftreten und alles überschwemmen.
Eben aber winkte der
Kapitän dem Schubal ab, der daraufhin sofort – denn seine Angelegenheit
schien für ein Weilchen verschoben worden zu sein – beiseite trat und
mit dem Diener, der sich ihm gleich angeschlossen hatte, eine leise
Unterhaltung begann, bei der es an Seitenblicken nach dem Heizer und Karl
sowie an den überzeugtesten Handbewegungen nicht fehlte. Schubal schien
so seine nächste große Rede einzuüben.
"Wollten Sie nicht
den jungen Mann hier etwas fragen, Herr Jakob?" sagte der Kapitän
unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.
"Allerdings",
sagte dieser mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeit dankend.
Und fragte dann Karl nochmals: "Wie heißen Sie eigentlich?"
Karl, welcher glaubte, es
sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen, wenn dieser Zwischenfall
des hartnäkkigen Fragers bald erledigt würde, antwortete kurz, ohne wie
es seine Gewohnheit war, durch Vorlage des Passes sich vorzustellen, den
er erst hätte suchen müssen: "Karl Roßmann. "
"Aber", sagte
der mit Jakob Angesprochene und trat zuerst fast ungläubig lächelnd zurück.
Auch der Kapitän, der Oberkassier, der Schiffsofficier, ja sogar der
Diener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstaunen wegen Karls Namen.
Nur die Herren von der Hafenbehörde und Schubal verhielten sich gleichgültig.
"Aber",
wiederholte der Herr Jakob und trat mit etwas steifen Schritten auf Karl
zu, "dann bin ich ja Dein Onkel Jakob und Du bist mein lieber Neffe.
Ahnte ich es doch die ganze Zeit über", sagte er zum Kapitän hin,
ehe er Karl umarmte und küßte, der alles stumm geschehen ließ.
"Wie heißen
Sie?" fragte Karl nachdem er sich losgelassen fühlte, zwar sehr höflich
aber gänzlich ungerührt und strengte sich an, die Folgen abzusehn,
welche dieses neue Ereignis für den Heizer haben könne. Vorläufig
deutete nichts daraufhin, daß Schubal aus dieser Sache Nutzen ziehen könnte.
"Begreifen Sie doch
junger Mann Ihr Glück", sagte der Kapitän, der durch die Frage die
Würde der Person des Herrn Jakob verletzt glaubte, der sich zum Fenster
gestellt hatte, offenbar um sein aufgeregtes Gesicht, das er überdies mit
einem Taschentuch betupfte, den andern nicht zeigen zu müssen. "Es
ist der Staatsrat Edward Jakob, der sich Ihnen als Ihr Onkel zu erkennen
gegeben hat. Es erwartet Sie nunmehr, doch wohl ganz gegen Ihre bisherigen
Erwartungen eine glänzende Laufbahn. Versuchen Sie das einzusehn, so gut
es im ersten Augenblick geht und fassen Sie sich. "
"Ich habe allerdings
einen Onkel Jakob in Amerika", sagte Karl zum Kapitän gewendet,
"aber wenn ich recht verstanden habe, lautet bloß der Zuname des
Herrn Staatsrat Jakob. "
"So ist es",
sagte der Kapitän erwartungsvoll.
"Nun, mein Onkel
Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber mit dem Taufnamen
Jakob während sein Zuname natürlich gleich jenem meiner Mutter lauten müßte,
welche eine geborene Bendelmayer ist. "
"Meine Herren!"
rief der Staatsrat, der von seinem Erholungsposten beim Fenster munter zurückkehrte,
mit Bezug auf Karls Erklärung aus. Alle mit Ausnahme der Hafenbeamten
brachen in Lachen aus, manche wie in Rührung, manche undurchdringlich.
So lächerlich war das
was ich gesagt habe doch keineswegs, dachte Karl.
"Meine Herren",
wiederholte der Staatsrat, "Sie nehmen gegen meinen und gegen Ihren
Willen an einer kleinen Familienscene teil und ich kann deshalb nicht
umhin, Ihnen eine Erläuterung zu geben, da wie ich glaube nur der Herr
Kapitän (diese Erwähnung hatte eine gegenseitige Verbeugung zur Folge)
vollständig unterrichtet ist. "
Jetzt muß ich aber
wirklich auf jedes Wort achtgeben, sagte sich Karl und freute sich als er
bei einem Seitwärtsschauen bemerkte, daß in die Figur des Heizers das
Leben zurückzukehren begann.
"Ich lebe seit allen
den langen Jahren meines amerikanischen Aufenthaltes – das Wort
Aufenthalt paßt hier allerdings schlecht für den amerikanischen Bürger
der ich mit ganzer Seele bin – seit allen den langen Jahren lebe ich
also von meinen europäischen Verwandten vollständig abgetrennt, aus Gründen
die erstens nicht hierhergehören und die zweitens zu erzählen mich
wirklich zu sehr hernehmen würde. Ich fürchte mich sogar vor dem
Augenblick, wo ich gezwungen sein werde, sie meinem lieben Neffen zu erzählen,
wobei sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang
nicht vermeiden lassen wird. "
"Er ist mein Onkel,
kein Zweifel", sagte sich Karl und lauschte. "Wahrscheinlich hat
er seinen Namen ändern lassen."
"Mein lieber Neffe
ist nun von seinen Eltern – sagen wir nur das Wort, das die Sache auch
wirklich bezeichnet – einfach beiseitegeschafft worden, wie man eine
Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert. Ich will durchaus nicht beschönigen,
was mein Neffe gemacht hat, daß er so gestraft wurde – beschönigen ist
nicht amerikanische Art – aber sein Verschulden ist von der Art daß
dessen einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält. "
"Das läßt sich hören",
dachte Karl, "aber ich will nicht daß er es allen erzählt. Übrigens
kann er es ja auch nicht wissen. Woher denn? Aber wir werden sehn, er wird
schon alles wissen. "
"Er wurde nämlich",
fuhr der Onkel fort und stützte sich mit kleinen Neigungen auf das vor
ihm eingestemmte Bambusstöckchen wodurch es ihm tatsächlich gelang, der
Sache einen Teil der unnötigen Feierlichkeit zu nehmen, die sie sonst
unbedingt gehabt hätte – "er wurde nämlich von einem Dienstmädchen
Johanna Brummer, einer etwa fünfunddreißigjährigen Person verführt.
Ich will mit dem Worte verführt meinen Neffen durchaus nicht kränken,
aber es ist doch schwer, ein anderes gleich passendes Wort zu finden.
"
Karl der schon ziemlich
nahe zum Onkel getreten war, drehte sich hier um, um den Eindruck der Erzählung
von den Gesichtern der Anwesenden abzulesen. Keiner lachte, alle hörten
geduldig und ernsthaft zu. Schließlich lacht man auch nicht über den
Neffen eines Staatsrates bei der ersten Gelegenheit die sich darbietet.
Eher hätte man schon sagen können, daß der Heizer wenn auch nur ganz
wenig Karl anlächelte, was aber erstens als neues Lebenszeichen
erfreulich und zweitens entschuldbar war, da ja Karl in der Kabine aus
dieser Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Geheimnis hatte
machen wollen.
"Nun hat diese
Brummer", setzte der Onkel fort, "von meinem Neffen ein Kind
bekommen, einen gesunden Jungen, welcher in der Taufe den Namen Jakob
erhielt, zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit, welche selbst in den
sicher nur ganz nebensächlichen Erwähnungen meines Neffen auf das Mädchen
einen großen Eindruck gemacht haben muß. Glücklicherweise, sage ich.
Denn da die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bis
an sie selbst heranreichenden Skandales – ich kenne wie ich betonen muß,
weder die dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhältnisse der Eltern,
sondern weiß nur von zwei Bettelbriefen der Eltern aus früherer Zeit,
die ich zwar unbeantwortet gelassen aber aufgehoben habe und welche meine
einzige und überdies einseitige briefliche Verbindung mit ihnen in der
ganzen Zeit bedeuten – da also die Eltern zur Vermeidung der
Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn meinen lieben Neffen nach
Amerika haben transportieren lassen, mit unverantwortlich ungenügender
Ausrüstung, wie man sieht – wäre der Junge, wenn man von den gerade
noch in Amerika lebendigen Zeichen und Wundern absieht, auf sich allein
angewiesen, wohl schon gleich in einem Gäßchen im Hafen von Newyork
verkommen, wenn nicht jenes Dienstmädchen in einem an mich gerichteten
Brief, der nach langen Irrfahrten vorgestern in meinen Besitz kam, mir die
ganze Geschichte, samt Personenbeschreibung meines Neffen und vernünftigerweise
auch Namensnennung des Schiffes mitgeteilt hätte. Wenn ich es darauf
angelegt hätte, Sie meine Herren zu unterhalten, könnte ich wohl einige
Stellen jenes Briefes" – er zog zwei riesige eng beschriebene
Briefbogen aus der Tasche und schwenkte sie – "hier vorlesen. Er würde
sicher Wirkung machen, da er mit einer etwas einfachen wenn auch immer
gutgemeinten Schlauheit und mit viel Liebe zu dem Vater ihres Kindes
geschrieben ist. Aber ich will weder Sie mehr unterhalten, als es zur
Aufklärung nötig ist noch vielleicht gar zum Empfang möglicherweise
noch bestehende Gefühle meines Neffen verletzen, der den Brief, wenn er
mag, in der Stille seines ihn schon erwartenden Zimmers zur Belehrung
lesen kann. "
Karl hatte aber keine Gefühle
für jenes Mädchen. Im Gedränge einer immer mehr zurückgestoßenen
Vergangenheit saß sie in ihrer Küche neben dem Küchenschrank, auf
dessen platte sie ihren Elbogen stützte. Sie sah ihn an, wenn er hin und
wieder in die Küche kam, um ein Glas zum Wassertrinken für seinen Vater
zu holen oder einen Auftrag seiner Mutter auszurichten. Manchmal schrieb
sie in der vertrackten Stellung seitlich vom Küchenschrank einen Brief
und holte sich die Eingebungen von Karls Gesicht. Manchmal hielt sie die
Augen mit der Hand verdeckt, dann drang keine Anrede zu ihr. Manchmal
kniete sie in ihrem engen Zimmerchen neben der Küche und betete zu einem
hölzernen Kreuz, Karl beobachtete sie dann nur mit Scheu im Vorübergehn
durch die Spalte der ein wenig geöffneten Tür. Manchmal jagte sie in der
Küche herum und fuhr wie eine Hexe lachend zurück, wenn Karl ihr in den
Weg kam. Manchmal schloß sie die Küchentüre, wenn Karl eingetreten war,
und behielt die Klinke solange in der Hand bis er wegzugehn verlangte.
Manchmal holte sie Sachen, die er gar nicht haben wollte, und drückte sie
ihm schweigend in die Hände. Einmal aber sagte sie "Karl! " und
führte ihn, der noch über die unerwartete Ansprache staunte, unter
Grimassen seufzend in ihr Zimmerchen, das sie zusperrte. Würgend umarmte
sie seinen Hals und während sie ihn bat sie zu entkleiden, entkleidete
sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von
jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende
der Welt. "Karl, o Du mein Karl", rief sie als sehe sie ihn und
bestätige sich seinen Besitz, während er nicht das geringste sah und
sich unbehaglich in dem vielen warmen Bettzeug fühlte, das sie eigens für
ihn aufgehäuft zu haben schien. Dann legte sie sich auch zu ihm und
wollte irgendwelche Geheimnisse von ihm erfahren, aber er konnte ihr keine
sagen und sie ärgerte sich im Scherz oder Ernst, schüttelte ihn, horchte
sein Herz ab, bot ihre Brust zum gleichen Abhorchen hin, wozu sie Karl
aber nicht bringen konnte, drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib,
suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen
heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch
einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und
vielleicht aus diesem Grunde hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit
ergriffen. Weinend kam er endlich nach vielen Wiedersehenswünschen
ihrerseits in sein Bett. Das war alles gewesen und doch verstand es der
Onkel, daraus eine große Geschichte zu machen. Und die Köchin hatte also
auch an ihn gedacht und den Onkel von seiner Ankunft verständigt. Das war
schön von ihr gehandelt und er würde es ihr wohl noch einmal vergelten.
"Und jetzt",
rief der Senator, "will ich von Dir offen hören, ob ich Dein Onkel
bin oder nicht. "
"Du bist mein
Onkel", sagte Karl und küßte ihm die Hand und wurde dafür auf die
Stirn geküßt. "Ich bin sehr froh daß ich Dich getroffen habe, aber
Du irrst, wenn Du glaubst, daß meine Eltern nur Schlechtes von Dir reden.
Aber auch abgesehen davon sind in Deiner Rede einige Fehler enthalten
gewesen, d. h. ich meine, es hat sich in Wirklichkeit nicht alles so
zugetragen. Du kannst aber auch wirklich von hier aus die Dinge nicht so
gut beurteilen und ich glaube außerdem, daß es keinen besondern Schaden
bringen wird, wenn die Herren in Einzelheiten einer Sache, an der ihnen
doch wirklich nicht viel liegen kann, ein wenig unrichtig informiert
worden sind. "
"Wohl
gesprochen", sagte der Senator, führte Karl vor den sichtlich
teilnehmenden Kapitän und sagte: "Habe ich nicht einen prächtigen
Neffen?"
"Ich bin glücklich",
sagte der Kapitän mit einer Verbeugung wie sie nur militärisch geschulte
Leute zustande bringen, "Ihren Neffen, Herr Senator, kennen gelernt
zu haben. Es ist eine besondere Ehre für mein Schiff, daß es den Ort
eines solchen Zusammentreffens abgeben konnte. Aber die Fahrt im
Zwischendeck war wohl sehr arg, ja wer kann das wissen wer da mit geführt
wird. Einmal ist z. B. auch der Erstgeborene des obersten ungarischen
Magnaten, der Name und der Grund der Reise ist mir schon entfallen, in
unserem Zwischendeck gefahren. Ich habe es erst viel später erfahren. Nun
wir tun alles mögliche, den Leuten im Zwischendeck die Fahrt möglichst
zu erleichtern, viel mehr z. B. als die amerikanischen Linien, aber eine
solche Fahrt zu einem Vergnügen zu machen, ist uns allerdings noch immer
nicht gelungen. "
"Es hat mir nicht
geschadet", sagte Karl.
"Es hat ihm nicht
geschadet! " wiederholte laut lachend der Senator.
"Nur meinen Koffer fürchte
ich verloren zu – ". Und damit erinnerte er sich an alles, was
geschehen war und was noch zu tun übrig blieb, sah sich um und erblickte
alle Anwesenden stumm vor Achtung und Staunen auf ihren frühem Plätzen,
die Augen auf ihn gerichtet. Nur den Hafenbeamten sah man, soweit ihre
strengen selbstzufriedenen Gesichter einen Einblick gestatteten, das
Bedauern an, zu so ungelegener Zeit gekommen zu sein und die Taschenuhr
die sie jetzt vor sich liegen hatten, war ihnen wahrscheinlich wichtiger
als alles was im Zimmer vorgieng und vielleicht noch geschehen konnte.
Der erste welcher nach
dem Kapitän seine Anteilnahme aussprach, war merkwürdigerweise der
Heizer. "Ich gratuliere Ihnen herzlich", sagte er und schüttelte
Karl die Hand, womit er auch etwas wie Anerkennung ausdrücken wollte. Als
er sich dann mit der gleichen Ansprache auch an den Senator wenden wollte,
trat dieser jedoch zurück, als überschreite der Heizer damit seine
Rechte; der Heizer ließ auch sofort ab.
Die übrigen aber sahen
jetzt ein, was zu tun war und bildeten gleich um Karl und den Senator
einen Wirrwarr. So geschah es, daß Karl sogar eine Gratulation Schubals
erhielt, annahm und für sie dankte. Als letzte traten in der wieder
entstandenen Ruhe die Hafenbeamten hinzu und sagten zwei englische Worte,
was einen lächerlichen Eindruck machte.
Der Senator war ganz in
der Laune, um das Vergnügen vollständig auszukosten, nebensächlichere
Momente sich und den andern in Erinnerung zu bringen, was natürlich von
allen nicht nur geduldet, sondern mit Interesse hingenommen wurde. So
machte er darauf aufmerksam, daß er sich die in dem Brief der Köchin erwähnten
hervorstechendsten Erkennungszeichen Karls in sein Notizbuch zu möglicherweise
notwendigem augenblicklichen Gebrauch eingetragen hatte. Nun hatte er während
des unerträglichen Geschwätzes des Heizers zu keinem andern Zweck, als
um sich abzulenken, das Notizbuch herausgezogen und die natürlich nicht
gerade detektivisch richtigen Beobachtungen der Köchin mit Karls Aussehn
zum Spiel in Verbindung zu bringen gesucht. "Und so findet man seinen
Neffen", schloß er in einem Tone, als wolle er noch einmal
Gratulationen bekommen.
"Was wird jetzt dem
Heizer geschehn?" fragte Karl, vorbei an der letzten Erzählung des
Onkels. Er glaubte in seiner neuen Stellung, alles was er dachte auch
aussprechen zu können.
"Dem Heizer wird
geschehn, was er verdient", sagte der Senator, "und was der Herr
Kapitän erachtet. Ich glaube wir haben von dem Heizer genug und übergenug,
wozu mir jeder der anwesenden Herren sicher zustimmen wird. "
"Darauf kommt es
doch nicht an, bei einer Sache der Gerechtigkeit", sagte Karl. Er
stand zwischen dem Onkel und dem Kapitän und glaubte vielleicht durch
diese Stellung beeinflußt die Entscheidung in der Hand zu haben.
Und trotzdem schien der
Heizer nichts mehr für sich zu hoffen. Die Hände hielt er halb in den
Hosengürtel, der durch seine aufgeregten Bewegungen mit Streifen eines
gemusterten Hemdes zum Vorschein gekommen war. Das kümmerte ihn nicht im
geringsten, er hatte sein ganzes Leid geklagt, nun sollte man auch noch
die paar Fetzen sehn, die er am Leibe trug und dann sollte man ihn
forttragen. Er dachte sich aus, der Diener und Schubal als die zwei hier
im Range tiefsten sollten ihm diese letzte Güte erweisen. Schubal würde
dann Ruhe haben und nicht mehr in Verzweiflung kommen, wie sich der
Oberkassier ausgedrückt hatte. Der Kapitän würde lauter Rumänen
anstellen können, es würde überall rumänisch gesprochen werden und
vielleicht würde dann wirklich alles besser gehn. Kein Heizer würde mehr
in der Hauptkassa schwätzen, nur sein letztes Geschwätz würde man in
ziemlich freundlicher Erinnerung behalten, da es, wie der Senator ausdrücklich
erklärt hatte, die mittelbare Veranlassung zur Erkennung des Neffen
gegeben hatte. Dieser Neffe hatte ihm übrigens vorher öfters zu nützen
gesucht und daher für seinen Dienst bei der Wiedererkennung längst
vorher einen mehr als genügenden Dank abgestattet; dem Heizer fiel gar
nicht ein, jetzt noch etwas von ihm zu verlangen. Im übrigen, mochte er
auch der Neffe des Senators sein, ein Kapitän war er noch lange nicht,
aber aus dem Munde des Kapitäns würde schließlich das böse Wort
fallen. – So wie es seiner Meinung entsprach versuchte auch der Heizer
nicht zu Karl hinzusehn, aber leider blieb in diesem Zimmer der Feinde
kein anderer Ruheort für seine Augen.
"Mißverstehe die
Sachlage nicht", sagte der Senator zu Karl, "es handelt sich
vielleicht um eine Sache der Gerechtigkeit, aber gleichzeitig um eine
Sache der Disciplin. Beides und ganz besonders das letztere unterliegt
hier der Beurteilung des Herrn Kapitäns. "
"So ist es",
murmelte der Heizer. Wer es merkte und verstand, lächelte befremdet.
"Wir aber haben überdies
den Herrn Kapitän in seinen Amtsgeschäften, die sich sicher gerade bei
der Ankunft in Newyork unglaublich häufen, so sehr schon behindert, daß
es höchste Zeit für uns ist, das Schiff zu verlassen, um nicht zum Überfluß
auch noch durch irgendwelche höchstunnötige Einmischung diese geringfügige
Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen. Ich begreife
Deine Handlungsweise lieber Neffe übrigens vollkommen, aber gerade das
gibt mir das Recht Dich eilends von hier fortzuführen. "
"Ich werde sofort
ein Boot für Sie flott machen lassen", sagte der Kapitän, ohne zum
Erstaunen Karls auch nur den kleinsten Einwand gegen die Worte des Onkels
vorzubringen, die doch zweifellos als eine Selbstdemütigung des Onkels
angesehen werden konnten. Der Oberkassier eilte überstürzt zum
Schreibtisch und telephonierte den Befehl des Kapitäns an den
Bootsmeister.
"Die Zeit drängt
schon", sagte sich Karl, "aber ohne alle zu beleidigen kann ich
nichts tun. Ich kann doch jetzt den Onkel nicht verlassen, nachdem er mich
kaum wiedergefunden hat. Der Kapitän ist zwar höflich, aber das ist auch
alles. Bei der Disciplin hört seine Höflichkeit auf, und der Onkel hat
ihm sicher aus der Seele gesprochen. Mit Schubal will ich nicht reden, es
tut mir sogar leid, daß ich ihm die Hand gereicht habe. Und alle andern
Leute hier sind Spreu. "
Und er gieng langsam in
solchen Gedanken zum Heizer, zog dessen rechte Hand aus dem Gürtel und
hielt sie spielend in der seinen. "Warum sagst Du denn nichts?"
fragte er. "Warum läßt Du Dir alles gefallen"
Der Heizer legte nur die
Stirn in Falten, als suche er den Ausdruck für das was er zu sagen habe.
Im übrigen sah er auf seine und Karls Hand hinab.
"Dir ist ja Unrecht
geschehn wie keinem auf dem Schiff, das weiß ich ganz genau. " Und
Karl zog seine Finger hin und her zwischen den Fingern des Heizers, der
mit glänzenden Augen ringsumher schaute, als widerfahre ihm eine Wonne,
die ihm aber niemand verübeln möge.
"Du mußt Dich aber
zur Wehr setzen, ja und nein sagen, sonst haben ja die Leute keine Ahnung
von der Wahrheit. Du mußt mir versprechen, daß Du mir folgen wirst, denn
ich selbst, das fürchte ich mit vielem Grund, werde Dir gar nicht mehr
helfen können. " Und nun weinte Karl, während er die Hand des
Heizers küßte und nahm die rissige, fast leblose Hand und drückte sie
an seine Wangen, wie einen Schatz, auf den man verzichten muß. – Da war
aber auch schon der Onkel Senator an seiner Seite und zog ihn, wenn auch
nur mit dem leichtesten Zwange, fort. "Der Heizer scheint Dich
bezaubert zu haben", sagte er und sah verständnisinnig über Karls
Kopf zum Kapitän hin. "Du hast Dich verlassen gefühlt, da hast Du
den Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich.
Treibe das aber, schon mir zuliebe, nicht zu weit und lerne Deine Stellung
begreifen. "
Vor der Türe entstand
ein Lärmen, man hörte Rufe und es war sogar, als werde jemand brutal
gegen die Tür gestoßen. Ein Matrose trat ein, etwas verwildert, und
hatte eine Mädchenschürze umgebunden. "Es sind Leute draußen",
rief er und stieß einmal mit den Elbogen herum, als sei er noch im Gedränge.
Endlich fand er seine Besinnung und wollte vor dem Kapitän salutieren, da
bemerkte er die Mädchenschürze, riß sie herunter, warf sie zu Boden und
rief: "Das ist ja ekelhaft, da haben sie mir eine Mädchenschürze
umgebunden. " Dann aber klappte er die Hacken zusammen und
salutierte. Jemand versuchte zu lachen, aber der Kapitän sagte streng:
"Das nenne ich eine gute Laune. Wer ist denn draußen?" "Es
sind meine Zeugen", sagte Schubal vortretend, "ich bitte
ergebenst um Entschuldigung für ihr unpassendes Benehmen. Wenn die Leute
die Seefahrt hinter sich haben, sind sie manchmal wie toll. " –
"Rufen Sie sie sofort herein", befahl der Kapitän und gleich
sich zum Senator umwendend sagte er verbindlich, aber rasch: "Haben
Sie jetzt die Güte, verehrter Herr Senator, mit Ihrem Herrn Neffen diesem
Matrosen zu folgen, der Sie ins Boot bringen wird. Ich muß wohl nicht
erst sagen, welches Vergnügen und welche Ehre mir das persönliche
Bekanntwerden mit Ihnen, Herr Senator, bereitet hat. Ich wünsche mir nur
bald Gelegenheit zu haben, mit Ihnen, Herr Senator, unser unterbrochenes
Gespräch über die amerikanischen Flottenverhältnisse wieder einmal
aufnehmen zu können und dann vielleicht neuerdings auf so angenehme Weise
wie heute unterbrochen zu werden. " "Vorläufig genügt mir
dieser eine Neffe", sagte der Onkel lachend. "Und nun nehmen Sie
meinen besten Dank für Ihre Liebenswürdigkeit und leben Sie wohl. Es wäre
übrigens gar nicht so unmöglich, daß wir" – er drückte Karl
herzlich an sich – "bei unserer nächsten Europareise vielleicht für
längere Zeit zusammenkommen könnten." "Es würde mich herzlich
freuen", sagte der Kapitän. Die beiden Herren schüttelten einander
die Hände, Karl konnte nur noch stumm und flüchtig seine Hand dem Kapitän
reichen, denn dieser war bereits von den vielleicht fünfzehn Leuten in
Anspruch genommen, welche unter Führung Schubals zwar etwas betroffen
aber doch sehr laut einzogen. Der Matrose bat den Senator vorausgehn zu dürfen
und teilte dann die Menge für ihn und Karl, die leicht zwischen den sich
verbeugenden Leuten durchkamen. Es schien daß diese im übrigen gutmütigen
Leute den Streit Schubals mit dem Heizer als einen Spaß auffaßten,
dessen Lächerlichkeit nicht einmal vor dem Kapitän aufhöre. Karl
bemerkte unter ihnen auch das Küchenmädchen Line, welche, ihm lustig
zuzwinkernd, die vom Matrosen hingeworfene Schürze umband, denn es war
die ihrige.
Weiter dem Matrosen
folgend verließen sie das Bureau und bogen in einen kleinen Gang ein, der
sie nach paar Schritten zu einem Türchen brachte, von dem aus eine kurze
Treppe in das Boot hinabführte, welches für sie vorbereitet war. Die
Matrosen im Boot, in das ihr Führer gleich mit einem einzigen Satz
hinuntersprang, erhoben sich und salutierten. Der Senator gab Karl gerade
eine Ermahnung zu vorsichtigem Hinuntersteigen, als Karl noch auf der
obersten Stufe in heftiges Weinen ausbrach. Der Senator legte die rechte
Hand unter Karls Kinn, hielt ihn fest an sich gepreßt und streichelte ihn
mit der linken Hand. So giengen sie langsam Stufe für Stufe hinab und
traten engverbunden ins Boot, wo der Senator für Karl gerade sich gegenüber
einen guten Platz aussuchte. Auf ein Zeichen des Senators stießen die
Matrosen vom Schiffe ab und waren gleich in voller Arbeit. Kaum waren sie
paar Meter vom Schiff entfernt machte Karl die unerwartete Entdeckung, daß
sie sich gerade auf jener Seite des Schiffes befanden, wohin die Fenster
der Hauptkassa giengen. Alle drei Fenster waren mit Zeugen Schubals
besetzt, welche freundschaftlich grüßten und winkten, sogar der Onkel
dankte und ein Matrose machte das Kunststück,
ohne eigentlich das
gleichmäßige Rudern zu unterbrechen eine Kußhand hinaufzuschicken. Es
war wirklich als gebe es keinen Heizer mehr. Karl faßte den Onkel, mit
dessen Knien sich die seinen fast berührten, genauer ins Auge und es
kamen ihm Zweifel, ob dieser Mann ihm jemals den Heizer werde ersetzen können.
Auch wich der Onkel seinem Blicke aus und sah auf die Wellen hin, von
denen ihr Boot umschwankt wurde.
II
Der Onkel
Im Hause des Onkels gewöhnte
sich Karl bald an die neuen Verhältnisse. Der Onkel kam ihm aber auch in
jeder Kleinigkeit freundlich entgegen und niemals mußte Karl sich erst
durch schlechte Erfahrungen belehren lassen, wie dies meist das erste
Leben im Ausland so verbittert.
Karls Zimmer lag im
sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fünf untere Stockwerke, an welche
sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen, von dem Geschäftsbetrieb
des Onkels eingenommen wurden. Das Licht, das in sein Zimmer durch zwei
Fenster und eine Balkontüre eindrang, brachte Karl immer wieder zum
Staunen, wenn er des Morgens aus seiner kleinen Schlafkammer hier eintrat.
Wo hätte er wohl wohnen müssen, wenn er als armer kleiner Einwanderer
ans Land gestiegen wäre? Ja vielleicht hätte man ihn, was der Onkel nach
seiner Kenntnis der Einwanderungsgesetze sogar für sehr wahrscheinlich
hielt, gar nicht in die Vereinigten Staaten eingelassen sondern ihn nach
Hause geschickt, ohne sich weiter darum zu kümmern, daß er keine Heimat
mehr hatte. Denn auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen und es war ganz
richtig, was Karl in dieser Hinsicht über Amerika gelesen hatte; nur die
Glücklichen schienen hier ihr Glück zwischen den unbekümmerten
Gesichtern ihrer Umgebung wahrhaft zu genießen.
Ein schmaler Balkon zog
sich vor dem Zimmer seiner ganzen Länge nach hin. Was aber in der
Heimatstadt Karls wohl der höchste Aussichtspunkt gewesen wäre,
gestattete hier nicht viel mehr als den Überblick über eine Straße, die
zwischen zwei Reihen förmlich abgehackter Häuser gerade und darum wie
fliehend in die Ferne sich verlief, wo aus vielem Dunst die Formen einer
Kathedrale ungeheuer sich erhoben. Und morgen wie abend und in den Träumen
der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr,
der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfängen
ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern
der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue
vervielfältigte wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob,
und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem mächtigen
Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut,
fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten
Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles
bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft
zerschlagen.
Vorsichtig wie der Onkel
in allem war, riet er Karl sich vorläufig ernsthaft nicht auf das
Geringste einzulassen. Er sollte wohl alles prüfen und anschauen, aber
sich nicht gefangen nehmen lassen. Die ersten Tage eines Europäers in
Amerika seien ja einer Geburt vergleichbar und wenn man sich hier auch,
damit nur Karl keine unnötige Angst habe, rascher eingewöhne als wenn
man vom Jenseits in die menschliche Welt eintrete, so müsse man sich doch
vor Augen halten, daß das erste Urteil immer auf schwachen Füßen stehe
und daß man sich dadurch nicht vielleicht alle künftigen Urteile, mit
deren Hilfe man ja hier sein Leben weiterführen wolle, in Unordnung
bringen lassen dürfe. Er selbst habe Neuankömmlinge gekannt, die z. B.
statt nach diesen guten Grundsätzen sich zu verhalten, tagelang auf ihrem
Balkon gestanden und wie verlorene Schafe auf die Straße heruntergesehen
hätten. Das müsse unbedingt verwirren! Diese einsame Untätigkeit, die
sich in einen arbeitsreichen Newyorker Tag verschaut, könne einem Vergnügungsreisenden
gestattet und vielleicht, wenn auch nicht vorbehaltlos angeraten werden, für
einen der hier bleiben wird sei sie ein Verderben, man könne in diesem
Fall ruhig dieses Wort anwenden, wenn es auch eine Übertreibung ist. Und
tatsächlich verzog der Onkel immer ärgerlich das Gesicht, wenn er bei
einem seiner Besuche, die immer nur einmal täglich undzwar immer zu den
verschiedensten Tageszeiten erfolgten, Karl auf dem Balkone antraf. Karl
merkte das bald und versagte sich infolgedessen das Vergnügen, auf dem
Balkon zu stehn, nach Möglichkeit.
Es war ja auch beiweitem
nicht das einzige Vergnügen, das er hatte. In seinem Zimmer stand ein
amerikanischer Schreibtisch bester Sorte, wie sich ihn sein Vater seit
Jahren gewünscht und auf den verschiedensten Versteigerungen um einen ihm
erreichbaren billigen Preis zu kaufen gesucht hatte, ohne daß es ihm bei
seinen kleinen Mitteln jemals gelungen wäre. Natürlich war dieser Tisch
mit jenen angeblich amerikanischen Schreibtischen, wie sie sich auf europäischen
Versteigerungen herumtreiben nicht zu vergleichen. Er hatte z. B. in
seinem Aufsatz hundert Fächer verschiedenster Größe und selbst der Präsident
der Union hätte für jeden seiner Akten einen passenden Platz gefunden,
aber außerdem war an der Seite ein Regulator und man konnte durch Drehen
an der Kurbel die verschiedensten Umstellungen und Neueinrichtungen der Fächer
nach Belieben und Bedarf erreichen. Dünne Seitenwändchen senkten sich
langsam und bildeten den Boden neu sich erhebender oder die Decke neu
aufsteigender Fächer; schon nach einer Umdrehung hatte der Aufsatz ein
ganz anderes Aussehen und alles gieng je nachdem man die Kurbel drehte
langsam oder unsinnig rasch vor sich. Es war eine neueste Erfindung,
erinnerte aber Karl sehr lebhaft an die Krippenspiele die zuhause auf dem
Christmarkt den staunenden Kindern gezeigt wurden und auch Karl war oft in
seine Winterkleider eingepackt davor gestanden und hatte ununterbrochen
die Kurbeldrehung, die ein alter Mann ausführte, mit den Wirkungen im
Krippenspiel verglichen, mit dem stockenden Vorwärtskommen der heiligen
drei Könige, dem Aufglänzen des Sternes und dem befangenen Leben im
heiligen Stall. Und immer war es ihm erschienen, als ob die Mutter die
hinter ihm stand nicht genau genug alle Ereignisse verfolge, er hatte sie
zu sich hingezogen, bis er sie an seinem Rücken fühlte, und hatte ihr
solange mit lauten Ausrufen verborgenere Erscheinungen gezeigt, vielleicht
ein Häschen, das vorn im Gras abwechselnd Männchen machte und sich dann
wieder zum Lauf bereitete, bis die Mutter ihm den Mund zuhielt und
wahrscheinlich in ihre frühere Unachtsamkeit verfiel. Der Tisch war
freilich nicht dazu gemacht um an solche Dinge zu erinnern, aber in der
Geschichte der Erfindungen bestand wohl ein ähnlich undeutlicher
Zusammenhang wie in Karls Erinnerungen. Der Onkel war zum Unterschied von
Karl mit diesem Schreibtisch durchaus nicht einverstanden, nur hatte er
eben für Karl einen ordentlichen Schreibtisch kaufen wollen und solche
Schreibtische waren jetzt sämtlich mit dieser Neueinrichtung versehn,
deren Vorzug nämlich auch darin bestand, bei älteren Schreibtischen ohne
große Kosten angebracht werden zu können. Immerhin unterließ der Onkel
nicht, Karl zu raten, den Regulator möglichst gar nicht zu verwenden; um
die Wirkung des Rates zu verstärken behauptete der Onkel, die Maschinerie
sei sehr empfindlich, leicht zu verderben und die Wiederherstellung sehr
kostspielig. Es war nicht schwer einzusehn, daß solche Bemerkungen nur
Ausflüchte waren, wenn man sich auch andererseits sagen mußte, daß der
Regulator sehr leicht zu fixieren war, was der Onkel jedoch nicht tat.
In den ersten Tagen, an
denen selbstverständlich zwischen Karl und dem Onkel häufigere
Aussprachen stattgefunden hatten, hatte Karl auch erzählt, daß er zu
hause wenig zwar, aber gern Klavier gespielt habe, was er allerdings
lediglich mit den Anfangskenntnissen hatte bestreiten können, die ihm die
Mutter beigebracht hatte. Karl war sich dessen wohl bewußt, daß eine
solche Erzählung gleichzeitig die Bitte um ein Klavier war, aber er hatte
sich schon genügend umgesehn, um zu wissen, daß der Onkel auf keine
Weise zu sparen brauchte. Trotzdem wurde ihm diese Bitte nicht gleich gewährt,
aber etwa acht Tage später sagte der Onkel fast in der Form eines
widerwilligen Eingeständnisses, das Klavier sei eben angelangt und Karl könne,
wenn er wolle den Transport überwachen. Das war allerdings eine leichte
Arbeit, aber dabei nicht einmal viel leichter als der Transport selbst,
denn im Haus war ein eigener Möbelaufzug, in welchem ohne Gedränge ein
ganzer Möbelwagen Platz finden konnte und in diesem Aufzug schwebte auch
das Piano zu Karls Zimmer hinauf. Karl selbst hätte zwar in dem gleichen
Aufzug mit dem Piano und den Transportarbeitern fahren können, aber da
gleich daneben ein Personenaufzug zur Benützung freistand, fuhr er in
diesem, hielt sich mittelst eines Hebels stets in gleicher Höhe mit dem
andern Aufzug und betrachtete unverwandt durch die Glaswände das schöne
Instrument das jetzt sein Eigentum war. Als er es in seinem Zimmer hatte
und die ersten Töne anschlug, bekam er eine so närrische Freude, daß er
statt weiterzuspielen aufsprang und aus einiger Entfernung die Hände in
den Hüften das Klavier lieber anstaunte. Auch die Akustik des Zimmers war
ausgezeichnet und sie trug dazu bei sein anfängliches kleines Unbehagen,
in einem Eisenhause zu wohnen, gänzlich verschwinden zu lassen. Tatsächlich
merkte man auch im Zimmer, so eisenmäßig das Gebäude von außen
erschien, von eisernen Baubestandteilen nicht das geringste und niemand hätte
auch nur eine Kleinigkeit in der Einrichtung aufzeigen können, welche die
vollständigste Gemütlichkeit irgendwie gestört hätte. Karl erhoffte in
der ersten Zeit viel von seinem Klavierspiel und schämte sich nicht
wenigstens vor dem Einschlafen an die Möglichkeit einer unmittelbaren
Beeinflussung der amerikanischen Verhältnisse durch dieses Klavierspiel
zu denken. Es klang ja allerdings sonderbar, wenn er vor den in die lärmerfüllte
Luft geöffneten Fenstern ein altes Soldatenlied seiner Heimat spielte,
das die Soldaten am Abend, wenn sie in den Kasernenfenstern liegen und auf
den finstern Platz hinausschauen, von Fenster zu Fenster einander zusingen
– aber sah er dann auf die Straße, so war sie unverändert und nur ein
kleines Stück eines großen Kreislaufes, das man nicht an und für sich
anhalten konnte, ohne alle Kräfte zu kennen, die in der Runde wirkten.
Der Onkel duldete das Klavierspiel, sagte auch nichts dagegen, zumal Karl
sich auch ohne Mahnung nur selten das Vergnügen des Spieles gönnte, ja
er brachte Karl sogar Noten amerikanischer Märsche und natürlich auch
der Nationalhymne, aber allein aus der Freude an der Musik war es wohl
nicht zu erklären, als er. eines Tages ohne allen Scherz Karl fragte, ob
er nicht auch das Spiel auf der Geige oder auf dem Waldhorn lernen wolle.
Natürlich war das Lernen
des Englischen Karls erste und wichtigste Aufgabe. Ein junger Professor
einer Handelshochschule erschien morgens um sieben Uhr in Karls Zimmer und
fand ihn schon an seinem Schreibtisch bei den Heften sitzen oder
memorierend im Zimmer auf und ab gehn. Karl sah wohl ein daß zur
Aneignung des Englischen keine Eile groß genug sei und daß er hier außerdem
die beste Gelegenheit habe seinem Onkel eine außerordentliche Freude
durch rasche Fortschritte zu machen. Und tatsächlich gelang es bald, während
zuerst das Englische in den Gesprächen mit dem Onkel sich auf Gruß und
Abschiedsworte beschränkt hatte, immer größere Teile der Gespräche ins
Englische hinüberzuspielen, wodurch gleichzeitig vertraulichere Themen
sich einzustellen begannen. Das erste amerikanische Gedicht, die
Darstellung einer Feuersbrunst, das Karl seinem Onkel an einem Abend
recitieren konnte, machte diesen tiefernst vor Zufriedenheit. Sie standen
damals beide an einem Fenster in Karls Zimmer, der Onkel sah hinaus, wo
alle Helligkeit des Himmels schon vergangen war und schlug im Mitgefühl
der Verse langsam und gleichmäßig in die Hände, während Karl aufrecht
neben ihm stand und mit starren Augen das schwierige Gedicht sich entrang.
Je besser Karls Englisch
wurde, desto größere Lust zeigte der Onkel ihn mit seinen Bekannten
zusammenzuführen und ordnete nur für jeden Fall an, daß bei solchen
Zusammenkünften vorläufig der Englischprofessor sich immer in Karls Nähe
zu halten habe. Der allererste Bekannte, dem Karl eines Vormittags
vorgestellt wurde, war ein schlanker, junger, unglaublich biegsamer Mann,
den der Onkel mit besondern Komplimenten in Karls Zimmer führte. Es war
offenbar einer jener vielen vom Standpunkt der Eltern aus gesehen mißratenen
Millionärssöhne, dessen Leben so verlief, daß ein gewöhnlicher Mensch
auch nur einen beliebigen Tag im Leben dieses jungen Mannes nicht ohne
Schmerz verfolgen konnte. Und als wisse oder ahne er dies, und als begegne
er dem,
soweit es in seiner Macht
stand, war um seine Lippen und Augen ein unaufhörliches Lächeln des Glückes,
das ihm selbst, seinem Gegenüber und der ganzen Welt zu gelten schien.
Mit diesem jungen Mann,
einem Herrn Mak wurde unter unbedingter Zustimmung des Onkels, besprochen
gemeinsam um halb sechs Uhr früh, sei es in der Reitschule, sei es ins
Freie zu reiten. Karl zögerte zwar zuerst seine Zusage zu geben, da er
doch noch niemals auf einem Pferd gesessen war und das Reiten zuerst ein
wenig lernen wolle, aber da ihm der Onkel und Mack so sehr zuredeten und
das Reiten als bloßes Vergnügen und als gesunde Übung aber gar nicht
als Kunst darstellten, sagte er schließlich zu. Nun mußte er allerdings
schon um halb fünf aus dem Bett und das tat ihm oft sehr leid, denn er
litt hier, wohl infolge der steten Aufmerksamkeit, die er während des
Tages aufwenden mußte, geradezu an Schlafsucht, aber in seinem Badezimmer
verlor sich das Bedauern bald. Über die ganze Wanne der Länge und Breite
nach spannte sich das Sieb der Douche – welcher Mitschüler zuhause und
war er noch so reich, besaß etwas derartiges und gar noch allein für
sich – und da lag nun Karl ausgestreckt, in dieser Wanne konnte er die
Arme ausbreiten, und ließ die Ströme des lauen, heißen, wieder lauen
und endlich eisigen Wassers, nach Belieben teilweise oder über die ganze
Fläche hin auf sich herab. Wie in dem noch ein wenig fortlaufenden
Genusse des Schlafes lag er da und fieng besonders gern mit den
geschlossenen Augenlidern die letzten einzeln fallenden Tropfen auf, die
sich dann öffneten und über das Gesicht hinflossen.
In der Reitschule, wo ihn
das hoch sich aufbauende Automobil des Onkels absetzte, erwartete ihn
bereits der Englischprofessor, während Mak ausnahmslos erst später kam.
Er konnte aber auch unbesorgt erst später kommen, denn das eigentliche
lebendige Reiten fieng erst an, wenn er da war. Bäumten sich nicht die
Pferde aus ihrem bisherigen Halbschlaf auf, wenn er eintrat, knallte die
Peitsche nicht lauter durch den Raum, erschienen nicht plötzlich auf der
umlaufenden Gallerie einzelne Personen, Zuschauer, Pferdewärter, Reitschüler
oder was sie sonst sein mochten? Karl aber nützte die Zeit vor der
Ankunft Maks dazu aus, um doch ein wenig wenn auch nur die primitivsten
Vorübungen des Reitens zu betreiben. Es war ein langer Mann da, der auf
den höchsten pferderücken mit kaum erhobenem Arm hinaufreichte und der
Karl diesen immer kaum eine Viertelstunde dauernden Unterricht erteilte.
Die Erfolge die Karl hiebei hatte, waren nicht übergroß und er konnte
sich viele englische Klagerufe dauernd aneignen, die er während dieses
Lernens zu seinem Englischprofessor atemlos ausstieß, der immer am
gleichen Türpfosten meist sehr schlafbedürftig lehnte. Aber fast alle
Unzufriedenheit mit dem Reiten hörte auf, wenn Mak kam. Der lange Mann
wurde weggeschickt und bald hörte man in dem noch immer halbdunklen Saal
nichts anderes, als die Hufe der gallopierenden Pferde und man sah kaum
etwas anderes als Maks erhobenen Arm, mit dem er Karl ein Kommando gab.
Nach einer halben Stunde solchen wie Schlaf vergehenden Vergnügens, wurde
Halt gemacht, Mak war in großer Eile, verabschiedete sich von Karl,
klopfte ihm manchmal auf die Wange, wenn er mit seinem Reiten besonders
zufrieden gewesen war und verschwand, ohne vor großer Eile mit Karl auch
nur gemeinsam durch die Tür herauszugehn. Karl nahm dann den Professor
mit ins Automobil und sie fuhren zu ihrer Englischstunde meist auf
Umwegen, denn bei der Fahrt durch das Gedränge der großen Straße, die
eigentlich direkt von dem Hause des Onkels zur Reitschule führte, wäre
zuviel Zeit verloren gegangen. Im übrigen hörte wenigstens diese
Begleitung des Englischprofessors bald auf, denn Karl der sich Vorwürfe
machte, den müden Mann nutzlos in die Reitschule zu bemühn, zumal die
englische Verständigung mit Mak eine sehr einfache war, bat den Onkel den
Professor von dieser Pflicht zu entheben. Nach einiger Überlegung gab der
Onkel dieser Bitte auch nach.
Verhältnismäßig lange
dauerte es, ehe sich der Onkel entschloß, Karl auch nur einen kleinen
Einblick in sein Geschäft zu erlauben, trotzdem Karl öfters darum
ersucht hatte. Es war eine Art Kommissions- und Speditionsgeschäftes, wie
sie, soweit sich Karl erinnern konnte, in Europa vielleicht gar nicht zu
finden war. Das Geschäft bestand nämlich in einem Zwischenhandel, der
aber die Waren nicht etwa von den Producenten zu den Konsumenten oder
vielleicht zu den Händlern vermittelte, sondern welcher die Vermittlung
aller Waren und Urprodukte für die großen Fabrikskartelle und zwischen
ihnen besorgte. Es war daher ein Geschäft, welches in einem Käufe,
Lagerungen, Transporte und Verkäufe riesenhaften Umfangs umfaßte und
ganz genaue unaufhörliche telephonische und telegraphische Verbindungen
mit den Klienten unterhalten mußte. Der Saal der Telegraphen war nicht
kleiner, sondern größer als das Telegraphenamt der Vaterstadt, durch das
Karl einmal an der Hand eines dort bekannten Mitschülers gegangen war. Im
Saal der Telephone giengen wohin man schaute die Türen der Telephonzellen
auf und zu und das Läuten war sinnverwirrend. Der Onkel öffnete die nächste
dieser Türen und man sah dort im sprühenden elektrischen Licht einen
Angestellten gleichgültig gegen jedes Geräusch der Türe, den Kopf
eingespannt in ein Stahlband, das ihm die Hörmuscheln an die Ohren drückte.
Der rechte Arm lag auf einem Tischchen, als wäre er besonders schwer und
nur die Finger, welche den Bleistift hielten, zuckten unmenschlich gleichmäßig
und rasch. In den Worten, die er in den Sprechtrichter sagte, war er sehr
sparsam und oft sah man sogar, daß er vielleicht gegen den Sprecher etwas
einzuwenden hatte, ihn etwas genauer fragen wollte, aber gewisse Worte,
die er hörte zwangen ihn, ehe er seine Absicht ausführen konnte, die
Augen zu senken und zu schreiben. Er mußte auch nicht reden, wie der
Onkel Karl leise erklärte, denn die gleichen Meldungen, wie sie dieser
Mann aufnahm, wurden noch von zwei andern Angestellten gleichzeitig
aufgenommen und dann verglichen, so daß Irrtümer möglichst
ausgeschlossen waren. In dem gleichen Augenblick als der Onkel und Karl
aus der Tür getreten waren, schlüpfte ein Praktikant hinein und kam mit
dem inzwischen beschriebenen Papier heraus. Mitten durch den Saal war ein
beständiger Verkehr von hin und her gejagten Leuten. Keiner grüßte, das
Grüßen war abgeschafft, jeder schloß sich den Schritten des ihm
vorhergehenden an und sah auf den Boden auf dem er möglichst rasch vorwärtskommen
wollte oder fieng mit den Blicken wohl nur einzelne Worte oder Zahlen von
Papieren ab, die er in der Hand hielt und die bei seinem Laufschritt
flatterten.
"Du hast es wirklich
weit gebracht", sagte Karl einmal auf einem dieser Gänge durch den
Betrieb, auf dessen Durchsicht man viele Tage verwenden mußte, selbst
wenn man jede Abteilung gerade nur gesehen haben wollte.
"Und alles habe ich
vor dreißig Jahren selbst eingerichtet, mußt Du wissen. Ich hatte damals
im Hafenviertel ein kleines Geschäft und wenn dort im Tag fünf Kisten
abgeladen waren, so war es viel und ich gieng aufgeblasen nachhause. Heute
habe ich die drittgrößten Lagerhäuser im Hafen und jener Laden ist das
Eßzimmer und die Gerätkammer der fünfundsechzigsten Gruppe meiner
Packträger. "
"Das grenzt ja ans
Wunderbare", sagte Karl.
"Alle Entwicklungen
gehn hier so schnell vor sich", sagte der Onkel das Gespräch
abbrechend.
Eines Tages kam der Onkel
knapp vor der Zeit des Essens, das Karl wie gewöhnlich allein einzunehmen
gedachte und forderte ihn auf, sich gleich schwarz anzuziehn und mit ihm
zum Essen zu kommen, an welchem zwei Geschäftsfreunde teilnehmen würden.
Während Karl sich im Nebenzimmer umkleidete, setzte sich der Onkel zum
Schreibtisch und sah die gerade beendete Englischaufgabe durch, schlug mit
der Hand auf den Tisch und rief laut: "Wirklich ausgezeichnet! "
Zweifellos gelang das Anziehen besser, als Karl dieses Lob hörte, aber er
war auch wirklich seines Englischen schon ziemlich sicher.
Im Speisezimmer des
Onkels, das er vom ersten Abend seiner Ankunft noch in Erinnerung hatte,
erhoben sich zwei große dicke Herren zur Begrüßung, ein gewisser Green
der eine, ein gewisser Pollunder der zweite, wie sich während des
Tischgespräches herausstellte. Der Onkel pflegte nämlich kaum ein flüchtiges
Wort über irgendwelche Bekannten auszusprechen und überließ es immer
Karl durch eigene Beobachtung das Notwendige oder Interessante
herauszufinden. Nachdem während des eigentlichen Essens nur intime geschäftliche
Angelegenheiten besprochen worden waren, was für Karl eine gute Lektion
hinsichtlich kaufmännischer Ausdrücke bedeutete, und man Karl still mit
seinem Essen sich hatte beschäftigen lassen, als sei er ein Kind, das
sich vor allem ordentlich sattessen müsse, beugte sich Herr Green zu Karl
hin und fragte in dem unverkennbaren Bestreben ein möglichst deutliches
Englisch zu sprechen, im allgemeinen nach Karls ersten amerikanischen
Eindrücken. Karl antwortete unter einer Sterbensstille ringsherum mit
einigen Seitenblicken auf den Onkel ziemlich ausführlich und suchte sich
zum Dank durch eine etwas newyorkisch gefärbte Redeweise angenehm zu
machen. Bei einem Ausdruck lachten sogar alle drei Herren durcheinander
und Karl fürchtete schon einen groben Fehler gemacht zu haben, jedoch
nein, er hatte wie ihm Herr Pollunder erklärte, sogar etwas sehr
Gelungenes gesagt. Dieser Herr Pollunder schien überhaupt an Karl ein
besonderes Gefallen zu finden und während der Onkel und Herr Green wieder
zu den geschäftlichen Besprechungen zurückkehrten, ließ Herr Pollunder
Karl seinen Sessel nahe zu sich hin schieben, fragte ihn zuerst vielerlei
über seinen Namen, seine Herkunft und seine Reise aus, bis er dann schließlich
um Karl wieder ausruhn zu lassen, lachend, hustend und eilig selbst von
sich und seiner Tochter erzählte, mit der er auf einem kleinen Landgut in
der Nähe von Newyork wohnte, wo er aber allerdings nur die Abende
verbringen konnte, denn er war Bankier und sein Beruf hielt ihn in Newyork
den ganzen Tag. Karl wurde auch gleich herzlichst eingeladen, auf dieses
Landgut herauszukommen, ein so frischgebackener Amerikaner wie Karl habe
ja auch sicher das Bedürfnis sich von Newyork manchmal zu erholen. Karl
bat den Onkel sofort um die Erlaubnis, diese Einladung annehmen zu dürfen
und der Onkel gab auch scheinbar freudig diese Erlaubnis, ohne aber ein
bestimmtes Datum zu nennen oder auch nur in Erwägung ziehen zu lassen,
wie es Karl und Herr Pollunder erwartet hatten.
Aber schon am nächsten
Tag wurde Karl in ein Bureau des Onkels beordert – der Onkel hatte zehn
verschiedene Bureaux allein in diesem Hause – wo er den Onkel und Herrn
Pollunder beide ziemlich einsilbig in den Fauteuils liegend antraf.
"Herr Pollunder", sagte der Onkel, er war in der Abenddämmerung
des Zimmers kaum zu erkennen, "Herr Pollunder ist gekommen, um Dich
auf sein Landgut mitzunehmen, wie wir es gestern besprochen haben. "
"Ich wußte nicht daß es schon heute sein sollte", antwortete
Karl, "sonst wäre ich schon vorbereitet." "Wenn Du nicht
vorbereitet bist, dann verschieben wir vielleicht den Besuch besser für nächstens",
meinte der Onkel. "Was für Vorbereitungen!" rief Herr
Pollunder. "Ein junger Mann ist immer vorbereitet. " "Es
ist nicht seinetwegen", sagte der Onkel zu seinem Gaste gewendet,
"aber er müßte immerhin noch in sein Zimmer hinaufgehn und Sie wären
aufgehalten." "Es ist auch dazu reichlich Zeit", sagte Herr
Pollunder, "ich habe auch eine Verzögerung vorbedacht und früher
Geschäftsschluß gemacht." "Du siehst", sagte der Onkel,
"was für Unannehmlichkeiten Dein Besuch schon jetzt veranlaßt.
" "Es tut mir leid", sagte Karl, "aber ich werde
gleich wieder da sein", und wollte schon wegspringen. "Übereilen
Sie sich nicht", sagte Herr Pollunder. "Sie machen mir nicht die
geringsten Unannehmlichkeiten, dagegen macht mir Ihr Besuch eine reine
Freude." "Du versäumst morgen Deine Reitstunde, hast Du sie
schon abgesagt" "Nein", sagte Karl, dieser Besuch, auf den
er sich gefreut hatte, fieng an eine Last zu werden, "ich wußte ja
nicht – ". "Und trotzdem willst Du wegfahrend" fragte der
Onkel weiter. Herr Pollunder, dieser freundliche Mensch kam zur Hilfe.
"Wir werden auf der Fahrt bei der Reitschule halten und die Sache in
Ordnung bringen. " "Das läßt sich hören", sagte der
Onkel. "Aber Mak wird Dich doch erwarten. " "Erwarten wird
er mich nicht", sagte Karl, "aber er wird allerdings hinkommen.
" "Nun also?" sagte der Onkel, als wäre Karls Antwort
nicht die geringste Rechtfertigung gewesen. Wieder sagte Herr Pollunder
das Entscheidende: "Aber Klara" – sie war Herrn Pollunders
Tochter – "erwartet ihn auch und schon heute abend und sie hat wohl
den Vorzug vor Mak?" "Allerdings", sagte der Onkel.
"Also lauf schon in Dein Zimmer", und er schlug mehrmals wie
ohne Willen gegen die Armlehne des Fauteuils. Karl war schon bei der Tür,
als ihn der Onkel noch mit der Frage zurückhielt: "Zur
Englischstunde bist Du doch wohl morgen früh wieder hier? "
"Aber! " rief Herr Pollunder und drehte sich, soweit es seine
Dicke erlaubte, in seinem Fauteuil vor Erstaunen. "Ja darf er denn
nicht wenigstens den morgigen Tag draußen bleiben? Ich brächte ihn dann
übermorgen früh wieder zurück. " "Das geht auf keinen
Fall", erwiderte der Onkel. "Ich kann sein Studium nicht so in
Unordnung kommen lassen. Später bis er in einem an und für sich
geregelten Berufsleben sein wird, werde ich ihm sehr gern auch für längere
Zeit erlauben, einer so freundlichen und ehrenden Einladung zu folgen.
" "Was das für Widersprüche sind! " dachte Karl. Herr
Pollunder war traurig geworden. "Für einen Abend und eine Nacht
steht es aber wirklich fast nicht dafür. " "Das war auch meine
Meinung", sagte der Onkel. "Man muß nehmen was man
bekommt", sagte Herr Pollunder und lachte schon wieder. "Also
ich warte", rief er Karl zu, welcher, da der Onkel nichts mehr sagte,
davoneilte. Als er bald reisefertig zurückkehrte, traf er im Bureau nur
noch Herrn Pollunder, der Onkel war fortgegangen. Herr Pollunder schüttelte
Karl ganz glücklich beide Hände, als wolle er sich so stark als möglich
dessen vergewissern, daß Karl nun doch mitfahre. Karl war noch ganz
erhitzt von der Eile und schüttelte auch seinerseits Herrn Pollunders Hände,
er freute sich, den Ausflug machen zu können. "Hat sich der Onkel
nicht darüber geärgert, daß ich fahre?" "Aber nein! Das hat
er ja alles nicht so ernst gemeint. Ihre Erziehung liegt ihm eben am
Herzen. " "Hat er es Ihnen selbst gesagt, daß er das frühere
nicht so ernst gemeint hat?" "0 ja", sagte Herr Pollunder
gedehnt und bewies damit, daß er nicht lügen konnte. "Es ist merkwürdig
wie ungern er mir die Erlaubnis gegeben hat, Sie zu besuchen, trotzdem Sie
doch sein Freund sind. " Auch Herr Pollunder konnte, trotzdem er dies
nicht offen eingestand, keine Erklärung dafür finden und beide dachten,
als sie in Herrn Pollunders Automobil durch den warmen Abend fuhren, noch
lange darüber nach, trotzdem sie gleich von andern Dingen sprachen.
Sie saßen eng
beieinander und Herr Pollunder hielt Karls Hand in der seinen, während er
erzählte. Karl wollte vieles über das Fräulein Klara hören, als sei er
ungeduldig über die lange Fahrt und könne mit Hilfe der Erzählungen früher
ankommen als in Wirklichkeit. Trotzdem er am Abend noch niemals durch die
Newyorker Straßen gefahren war, und über Trottoir und Fahrbahn, alle
Augenblicke die Richtung wechselnd wie in einem Wirbelwind, der Lärm
jagte, nicht wie von Menschen verursacht sondern wie ein fremdes Element,
kümmerte sich Karl, während er Herrn Pollunders Worte genau aufzunehmen
suchte, um nichts anderes als um Herrn Pollunders dunkle Weste, über die
quer eine goldene Kette ruhig hieng. Aus den Straßen, wo das Publikum in
großer unverhüllter Furcht vor Verspätung im fliegenden Schritt und in
Fahrzeugen, die zu möglichster Eile gebracht waren, zu den Teatern drängte,
kamen sie durch Übergangsbezirke in die Vorstädte, wo ihr Automobil
durch Polizeileute zu Pferd immer wieder in Seitenstraßen gewiesen wurde,
da die großen Straßen von den demonstrierenden Metallarbeitern, die im
Streik standen besetzt waren, und nur der notwendigste Wagenverkehr an den
Kreuzungsstellen gestattet werden konnte. Durchquerte dann das Automobil
aus dunkleren, dumpfhallenden Gassen kommend, eine dieser ganzen Plätzen
gleichenden Straßen, dann erschienen nach beiden Seiten hin in
Perspektiven, denen niemand bis zum Ende folgen konnte, die Trottoire
angefüllt mit einer in winzigen Schritten sich bewegenden Masse, deren
Gesang einheitlicher war, als der einer einzigen Menschenstimme. In der
freigehaltenen Fahrbahn aber sah man hie und da einen Polizisten auf
unbeweglichem Pferd oder Träger von Fahnen oder beschriebenen über die
Straße gespannten Tüchern oder einen von Mitarbeitern und Ordonanzen
umgebenen Arbeiterführer oder einen Wagen der Elektrischen Straßenbahn,
der sich nicht rasch genug geflüchtet hatte, und nun leer und dunkel
dastand, während der Führer und der Schaffner auf der Platform saßen.
Kleine Trupps von Neugierigen standen weit entfernt von den wirklichen
Demonstranten und verließen ihre Plätze nicht trotzdem sie über die
eigentlichen Ereignisse im Unklaren blieben. Karl aber lehnte froh in dem
Arm, den Herr Pollunder um ihn gelegt hatte, die Überzeugung, daß er
bald in einem beleuchteten, von Mauern umgebenen, von Hunden bewachten
Landhause ein willkommener Gast sein werde, tat ihm über alle Maßen
wohl, und wenn er auch wegen einer beginnenden Schläfrigkeit, nicht mehr
alles was Herr Pollunder sagte fehlerlos oder wenigstens nicht ohne
Unterbrechungen auffaßte, so raffte er sich doch von Zeit zu Zeit auf und
wischte sich die Augen, um wieder für eine Weile festzustellen, ob Herr
Pollunder seine Schläfrigkeit bemerke, denn das wollte er um jeden Preis
vermieden wissen.
III
Ein Landhaus bei New York
"Wir sind
angekommen", sagte Herr Pollunder gerade in einem von Karls
verlorenen Momenten. Das Automobil stand vor einem Landhaus, das, nach der
Art von Landhäusern reicher Leute in der Umgebung Newyorks, umfangreicher
und höher war, als es sonst für ein Landhaus nötig ist, das bloß einer
Familie dienen soll. Da nur der untere Teil des Hauses beleuchtet war,
konnte man gar nicht bemessen, wie weit es in die Höhe reichte. Vorne
rauschten Kastanienbäume, zwischen denen – das Gitter war schon geöffnet
– ein kurzer Weg zur Freitreppe des Hauses führte. An seiner Müdigkeit
beim Aussteigen glaubte Karl zu bemerken, daß die Fahrt doch ziemlich
lang gedauert hatte. Im Dunkel der Kastanienallee hörte er eine Mädchenstimme
neben sich sagen: "Da ist ja endlich der Herr Jakob. " "Ich
heiße Roßmann", sagte Karl und faßte die ihm hingereichte Hand
eines Mädchens, das er jetzt in Umrissen erkannte. "Er ist ja nur
Jakobs Neffe", sagte Herr Pollunder erklärend, "und heißt
selbst Karl Roßmann. " "Das ändert nichts an unserer Freude,
ihn hierzuhaben", sagte das Mädchen, dem an Namen nicht viel lag.
Trotzdem fragte Karl noch, während er zwischen Herrn Pollunder und dem Mädchen
auf das Haus zuschritt: "Sie sind das Fräulein Klara?"
"Ja", sagte sie und schon fiel ein wenig unterscheidendes Licht
vom Hause her auf ihr Gesicht, das sie ihm zuneigte, "ich wollte mich
aber hier in der Finsternis nicht vorstellen. " Ja hat sie uns denn
am Gitter erwartet? dachte Karl, der im Gehen allmählich aufwachte.
"Wir haben übrigens noch einen Gast heute abend", sagte Klara.
"Nicht möglich! " rief Pollunder ärgerlich. "Herrn
Green", sagte Klara. "Wann ist er gekommen?" fragte Karl
wie in einer Ahnung befangen. "Vor einem Augenblick. Habt Ihr denn
sein Automobil nicht vor dem Eueren gehört?" Karl sah zu Pollunder
auf, um zu erfahren, wie er die Sache beurteile, aber der hatte die Hände
in den Hosentaschen und stampfte bloß etwas stärker im Gehn. "Es nützt
nichts nur knapp außerhalb Newyorks zu wohnen, von Störungen bleibt man
nicht verschont. Wir werden unsern Wohnsitz unbedingt noch weiter verlegen
müssen. Und sollte ich die halbe Nacht durchfahren müssen ehe ich
nachhause komme. " Sie blieben an der Freitreppe stehn. "Aber
Herr Green war doch schon sehr lange nicht hier", sagte Klara, die
offenbar mit ihrem Vater gänzlich einverstanden war, ihn aber über sich
heraus beruhigen wollte. "Warum kommt er dann gerade heute
abend", sagte Pollunder und die Rede rollte schon wütend über die
wulstige Unterlippe, die als loses schweres Fleisch leicht in große
Bewegung kam. "Allerdings!" sagte Klara. "Vielleicht wird
er bald wieder weggehn", bemerkte Karl und staunte selbst über das
Einverständnis, in welchem er sich mit diesen noch gestern ihm gänzlich
fremden Leuten befand. "Oh nein", sagte Klara, "er hat
irgend ein großes Geschäft für Papa, dessen Besprechung wahrscheinlich
lange dauern wird, denn er hat mir schon im Spaß gedroht, daß ich wenn
ich eine höfliche Hauswirtin sein will, bis zum Morgen werde zuhören müssen.
" "Also auch das noch. Dann bleibt er über Nacht", rief
Pollunder, als sei damit endlich das Schlimmste erreicht. "Ich hätte
wahrhaftig Lust", sagte er und wurde freundlicher durch den neuen
Gedanken, "ich hätte wahrhaftig Lust, Sie Herr Roßmann wieder ins
Automobil zu nehmen und zu Ihrem Onkel zurückzubringen. Der heutige Abend
ist schon von vornherein gestört und wer weiß wann Sie uns nächstens
Ihr Herr Onkel wieder überläßt. Bringe ich Sie aber heute schon wieder
zurück, so wird er Sie uns nächstens doch nicht verweigern können.
" Und er faßte Karl schon bei der Hand, um seinen Plan auszuführen.
Aber Karl rührte sich nicht und Klara bat, ihn hierzulassen, denn
zumindestens sie und Karl würden von Herrn Green nicht im geringsten gestört
werden können und schließlich merkte auch Pollunder, daß selbst sein
Entschluß nicht der festeste war. Überdies – und dies war vielleicht
das Entscheidende – hörte man plötzlich Herrn Green vom obersten
Treppenaufsatz in den Garten hinunterrufen: "Wo bleibt ihr
denn?" "Kommt", sagte Pollunder und bog auf die Freitreppe
ein. Hinter ihm giengen Karl und Klara, die einander jetzt im Licht
studierten. "Die roten Lippen die sie hat", sagte sich Karl und
dachte an die Lippen des Herrn Pollunder und wie schön sie sich in der
Tochter verwandelt hatten. "Nach dem Nachtmahl", so sagte sie,
"werden wir wenn es Ihnen recht ist gleich in meine Zimmer gehn,
damit wir wenigstens diesen Herrn Green los sind, wenn schon Papa sich mit
ihm beschäftigen muß. Und Sie werden dann so freundlich sein mir Klavier
vorzuspielen, denn Papa hat schon erzählt, wie gut Sie das treffen, ich
aber bin leider ganz unfähig Musik auszuüben und rühre mein Klavier
nicht an, so sehr ich die Musik eigentlich liebe. " Mit dem Vorschlag
Klaras war Karl ganz einverstanden, wenn er auch gern Herrn Pollunder mit
in ihre Gesellschaft hätte ziehen wollen. Vor der riesigen Gestalt Greens
– an Pollunders Größe hatte sich Karl eben schon gewöhnt – die sich
vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich
allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Manne den Herrn Pollunder heute
abend irgendwie zu entlocken.
Herr Green empfieng sie
sehr eilig, als sei vieles einzuholen, nahm Herrn Pollunders Arm und schob
Karl und Klara vor sich in das Speisezimmer, das besonders infolge der
Blumen auf dem Tische, die sich aus Streifen frischen Laubes halb
aufrichteten, sehr festlich aussah und doppelt die Anwesenheit des störenden
Herrn Green bedauern ließ. Gerade freute sich noch Karl, der beim Tische
wartete, bis die andern sich setzten, daß die große Glastüre zum Garten
hin offen bleiben würde, denn ein starker Duft wehte herein wie in eine
Gartenlaube, da machte sich gerade Herr Green unter Schnaufen daran, diese
Glastüre zuzumachen, bückte sich nach den untersten Riegeln, streckte
sich nach den obersten und alles so jugendlich rasch, daß der
herbeieilende Diener nichts mehr zu tun fand. Die ersten Worte des Herrn
Green bei Tische waren Ausdrücke des Staunens darüber, daß Karl die
Erlaubnis des Onkels zu diesem Besuche bekommen hatte. Einen gefüllten
Suppenlöffel nach dem andern hob er zum Mund und erklärte rechts zu
Klara, links zu Herrn Pollunder warum er so staune und wie der Onkel über
Karl wache und wie die Liebe des Onkels zu Karl zu groß sei, als daß man
sie noch die Liebe eines Onkels nennen könne. "Nicht genug, daß er
sich hier unnötig einmischt, mischt er sich noch gleichzeitig zwischen
mich und den Onkel ein", dachte Karl und konnte keinen Schluck der
goldfarbigen Suppe hinunterbringen. Dann wollte er sich aber wieder nicht
anmerken lassen, wie gestört er sich fühlte und begann die Suppe stumm
in sich hineinzuschütten. Das Essen vergieng langsam wie eine Plage. Nur
Herr Green und höchstens noch Klara waren lebhaft und fanden mitunter
Gelegenheit zu einem kurzen Lachen. Herr Pollunder verfieng sich nur
einigemal in die Unterhaltung, wenn Herr Green von Geschäften zu sprechen
anfieng. Doch zog er sich auch von solchen Gesprächen bald zurück und
Herr Green mußte ihn nach einiger Zeit wieder unvermutet damit überraschen.
Er legte übrigens Gewicht darauf – und da war es,. daß Karl, der
aufhorchte, als drohe etwas, von Klara darauf aufmerksam gemacht werden mußte,
daß der Braten vor ihm stand und er bei einem Abendessen war – daß er
von vornherein nicht die Absicht gehabt habe, diesen unerwarteten Besuch
zu machen. Denn wenn auch das Geschäft, von dem noch gesprochen werden
solle, von besonderer Dringlichkeit sei, so hätte wenigstens das
Wichtigste heute in der Stadt verhandelt und das Nebensächlichere für
morgen oder später aufgespart werden können. Und so sei er auch tatsächlich
noch lange vor Geschäftsschluß bei Herrn Pollunder gewesen, habe ihn
aber nicht angetroffen, so daß er gezwungen gewesen sei, nachhause zu
telephonieren, daß er über Nacht ausbleibe, und heraus zu fahren.
"Dann muß ich um Entschuldigung bitten", sagte Karl laut und
ehe jemand Zeit zur Antwort hatte, "denn ich bin daran schuld, daß
Herr Pollunder sein Geschäft heute früher verließ und es tut mir sehr
leid. " Herr Pollunder bedeckte den größern Teil seines Gesichtes
mit der Serviette, während Klara Karl zwar anlächelte, doch war es kein
teilnehmendes Lächeln sondern eines, das ihn irgendwie beeinflussen
sollte. "Da braucht es keine Entschuldigung", sagte Herr Green
der gerade eine Taube mit scharfen Schnitten zerlegte, "ganz im
Gegenteil, ich bin ja froh, den Abend in so angenehmer Gesellschaft zu
verbringen, statt das Nachtmahl allein zuhause einzunehmen, wo mich meine
alte Wirtschafterin bedient, die so alt ist, daß ihr schon der Weg von
der Tür zu meinen Tisch schwer fällt und ich mich für lange in meinem
Sessel zurücklehnen kann, wenn ich sie auf diesem Gang beobachten will.
Erst vor Kurzem habe ich durchgesetzt, daß der Diener die Speisen bis zur
Tür des Speisezimmers bringt, der Weg aber von der Tür zu meinem Tisch
gehört ihr, soweit ich sie verstehe." "Mein Gott", rief
Klara, "ist das eine Treue!" "Ja es giebt noch Treue auf
der Welt", sagte Herr Green und führte einen Bissen in den Mund, wo
die Zunge, wie Karl zufällig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise
ergriff. Ihm wurde fast übel und er stand auf. Fast gleichzeitig griffen
Herr Pollunder und Klara nach seinen Händen. "Sie müssen noch
sitzen bleiben", sagte Klara. Und als er sich wieder gesetzt hatte,
flüsterte sie ihm zu: "Wir werden bald zusammen verschwinden. Haben
Sie Geduld. " Herr Green hatte sich inzwischen ruhig mit seinem Essen
beschäftigt, als sei es Herrn Pollunders und Klaras natürliche Aufgabe,
Karl zu beruhigen, wenn er ihm Übelkeiten verursachte.
Das Essen zog sich
besonders durch die Genauigkeit in die Länge, mit der Herr Green jeden
Gang behandelte, wenn er auch immer bereit war, jeden neuen Gang ohne Ermüdung
zu empfangen, es bekam wirklich den Anschein, als wolle er sich von seiner
alten Wirtschafterin gründlich erholen. Hin und wieder lobte er Fräulein
Klaras Kunst in der Führung des Hauswesens, was ihr sichtlich
schmeichelte, während Karl versucht war ihn abzuwehren, als greife er sie
an. Aber Herr Green begnügte sich nicht einmal mit ihr, sondern bedauerte
öfters, ohne vom Teller aufzusehn, die auffallende Appetitlosigkeit
Karls. Herr Pollunder nahm Karls Appetit in Schutz, trotzdem er als
Gastgeber Karl auch zum Essen hätte aufmuntern sollen. Und tatsächlich fühlte
sich Karl durch den Zwang, unter dem er während des ganzen Nachtmahls
litt, so empfindlich, daß er gegen die eigene bessere Einsicht diese Äußerung
Herrn Pollunders als Unfreundlichkeit auslegte. Und es entsprach nur
diesem seinem Zustand, daß er einmal ganz unpassend rasch und viel aß
und dann wieder für lange Zeit müde Gabel und Messer sinken ließ und
der unbeweglichste der Gesellschaft war, mit dem der Diener, der die
Speisen reichte, oft nichts anzufangen wußte.
"Ich werde schon
morgen dem Herrn Senator erzählen, wie Sie das Fräulein Klara durch Ihr
Nichtessen gekränkt haben", sagte Herr Green und beschränkte sich
darauf, die spaßige Absicht dieser Worte durch die Art, wie er mit dem
Besteck hantierte auszudrücken. "Sehen Sie nur das Mädchen an, wie
traurig es ist", fuhr er fort und griff Klara unters Kinn. Sie ließ
es geschehn und schloß die Augen. "Du Dingsehen", rief er,
lehnte sich zurück und lachte hochrot im Gesicht mit der Kraft des Gesättigten.
Vergebens suchte sich Karl das Benehmen Herrn Pollunders zu erklären. Der
saß vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich
Wichtige. Er zog Karls Sessel nicht näher zu sich und wenn er einmal
sprach so sprach er zu allen, aber zu Karl hatte er nichts besonderes zu
reden. Dagegen duldete er, daß Green, dieser alte ausgepichte Newyorker
Junggeselle, mit deutlicher Absicht Klara berührte, daß er Karl,
Pollunders Gast, beleidigte oder wenigstens als Kind behandelte und wer
weiß zu welchen Taten sich stärkte und vordrang.
Nach Aufhebung der Tafel
– als Green die allgemeine Stimmung merkte, war er der erste der
aufstand und gewissermaßen alle mit sich erhob – gieng Karl allein
abseits zu einem der großen durch schmale weiße Leisten geteilten
Fenster, die zur Terasse führten und die eigentlich, wie er beim Nähertreten
merkte, richtige Türen waren. Was war von der Abneigung übrig geblieben,
die Herr Pollunder und seine Tochter anfangs gegenüber Green gefühlt
hatten und die damals Karl etwas unverständlich vorgekommen war. Jetzt
standen sie mit Green beisammen und nickten ihm zu. Der Rauch aus Herrn
Greens Cigarre, einem Geschenk Pollunders, die von jener Dicke war, von
der der Vater zuhause hie und da als von einer Tatsache zu erzählen
pflegte, die er wahrscheinlich selbst mit eigenen Augen niemals gesehen
hatte, verbreitete sich in dem Saal und trug Greens Einfluß auch in
Winkel und Nischen, die er persönlich niemals betreten würde. Soweit
entfernt Karl auch stand, noch er spürte von dem Rauch einen Kitzel in
der Nase und das Benehmen Herrn Greens, nach welchem er sich von seinem
Platz aus nur einmal schnell umsah, erschien ihm infam. Jetzt hielt er es
gar nicht mehr für ausgeschlossen, daß ihm der Onkel die Erlaubnis zu
diesem Besuch nur deshalb so lange verweigert hatte, weil er den schwachen
Charakter Herrn Pollunders kannte und infolgedessen eine Kränkung Karls
bei diesem Besuch wenn auch nicht genau voraussah, so doch im Bereich der
Möglichkeit erblickte. Auch das amerikanische Mädchen gefiel ihm nicht,
trotzdem er sich sie durchaus nicht etwa viel schöner vorgestellt hatte.
Seitdem sich Herr Green mit ihr abgegeben hatte, war er sogar überrascht
von der Schönheit, deren ihr Gesicht fähig war, und besonders von dem
Glanz ihrer unbändig bewegten Augen. Einen Rock, der so fest wie der ihre
den Körper umschlossen hätte, hatte er noch niemals gesehn, kleine
Falten in dem gelblichen, zarten und festen Stoff zeigten die Stärke der
Spannung. Und doch lag Karl gar nichts an ihr und er hätte gern darauf
verzichtet, auf ihre Zimmer geführt zu werden, wenn er statt dessen die Tür
auf deren Klinke er für jeden Fall die Hände gelegt hatte, hätte öffnen,
ins Automobil steigen oder wenn der Chauffeur schon schlief, nach Newyork
allein hätte spazieren dürfen. Die klare Nacht mit dem ihm zugeneigten
vollen Mond stand frei für jedermann und draußen im Freien vielleicht
Furcht zu haben, schien Karl sinnlos. Er stellte sich vor – und zum
erstenmal wurde ihm in diesem Saale wohl – wie er am Morgen – früher
dürfte er kaum zufuß nachhause kommen – den Onkel überraschen wollte.
Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wußte auch gar
nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen. Dann wollte er
anklopfen und auf das förmliche "Herein! " ins Zimmer laufen
und den lieben Onkel, den er bisher immer nur bis hoch hinauf angezogen
und zugeknöpft kannte, aufrecht im Bette sitzend, die Augen erstaunt zur
Tür gerichtet, im Nachthemd überraschen. Das war ja an und für sich
vielleicht noch nicht viel, aber man mußte nur ausdenken, was das zur
Folge haben konnte! Vielleicht würde er zum erstenmal gemeinsam mit
seinem Onkel frühstücken, der Onkel im Bett, er auf einem Sessel, das Frühstück
auf einem Tischchen zwischen ihnen, vielleicht würde dieses gemeinsame Frühstück
zu einer ständigen Einrichtung werden, vielleicht würden sie in Folge
dieser Art Frühstück, was sogar kaum zu vermeiden war, öfters als wie
bisher bloß einmal während des Tages ‘ zusammenkommen und dann natürlich
auch offener mit einander reden können. Es lag ja schließlich nur an dem
Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenüber etwas
unfolgsam oder besser starrköpfig gewesen war. Und wenn er auch heute über
Nacht hierbleiben mußte – es sah leider ganz darnach aus, trotzdem man
ihn hier beim Fenster stehn und auf eigene Faust sich unterhalten ließ
– vielleicht wurde dieser unglückliche Besuch der Wendepunkt zum
Bessern in dem Verhältnis zum Onkel, vielleicht hatte der Onkel in seinem
Schlafzimmer heute abend ähnliche Gedanken.
Ein wenig getröstet
wendete er sich um. Klara stand vor ihm und sagte: " Gefällt es
Ihnen denn gar nicht bei uns? Wollen Sie sich hier nicht ein wenig
heimisch fühlende Kommen Sie, ich will den letzten Versuch machen. "
Sie führte ihn quer durch den Saal zur Türe. An einem Seitentisch saßen
die beiden Herren bei leicht schäumenden, in hohe Gläser gefüllten Getränken,
die Karl unbekannt waren und die er zu verkosten Lust gehabt hätte. Herr
Green hatte einen Elbogen auf dem Tisch und sein ganzes Gesicht Herrn
Pollunder möglichst nahe gerückt; wenn man Herrn Pollunder nicht gekannt
hätte, hätte man ganz gut annehmen können, es werde hier etwas
Verbrecherisches besprochen und kein Geschäft. Während Herr Pollunder
mit freundlichem Blick Karl zur Türe folgte, sah sich Green, trotzdem man
doch schon unwillkürlich sich den Blicken seines Gegenübers anzuschließen
pflegt, auch nicht im geringsten nach Karl um, welchem in diesem Benehmen
der Ausdruck einer Art Überzeugung Greens zu liegen schien, jeder, Karl für
sich, und Green für sich solle hier mit seinen Fähigkeiten auszukommen
versuchen, die notwendige gesellschaftliche Verbindung zwischen ihnen
werde sich schon mit der Zeit durch den Sieg oder die Vernichtung eines
von beiden herstellen. "Wenn er das meint", sagte sich Karl,
"dann ist er ein Narr. Ich will wahrhaftig nichts von ihm und er soll
mich auch in Ruhe lassen. " Kaum war er auf den Gang getreten, fiel
ihm ein, daß er sich wahrscheinlich unhöflich benommen hatte, denn mit
seinen auf Green gehefteten Augen hatte er sich von Klara aus dem Zimmer
fast schleppen lassen. Desto williger gieng er jetzt neben ihr her. Auf
dem Wege durch die Gänge traute er zuerst seinen Augen nicht, als er alle
zwanzig Schritte einen reich livrierten Diener mit einem Armleuchter
stehen sah, dessen dicken Schaft jener mit beiden Händen umschlossen
hielt. "Die neue elektrische Leitung ist bisher nur im Speisezimmer
eingeführt", erklärte Klara. "Wir haben dieses Haus erst vor
kurzem gekauft und es gänzlich umbauen lassen, soweit sich ein altes Haus
mit seiner eigensinnigen Bauart überhaupt umbauen läßt. " "Da
gibt es also auch schon in Amerika alte Häuser", sagte Karl.
"Natürlich", sagte Klara lachend und zog ihn weiter. "Sie
haben merkwürdige Begriffe von Amerika. " "Sie sollen mich
nicht auslachen", sagte er ärgerlich. Schließlich kannte er schon
Europa und Amerika, sie aber nur Amerika.
Im Vorübergehn stieß
Klara mit leicht ausgestreckter Hand eine Tür auf und sagte ohne
anzuhalten: "Hier werden Sie schlafen. " Karl wollte natürlich
das Zimmer sich gleich anschauen, aber Klara erklärte ungeduldig und fast
schreiend, das habe doch Zeit und er solle nur vorher mitkommen. Sie zogen
sich auf dem Gang ein wenig hin und her, schließlich meinte Karl, er müsse
sich nicht in allem nach Klara richten, riß sich los und trat in das
Zimmer. Ein überraschendes Dunkel vor dem Fenster erklärte sich durch
einen Baumwipfel, der sich dort in seinem vollen Umfang wiegte. Man hörte
Vögelgesang. Im Zimmer selbst, das vom Mondlicht noch nicht erreicht war,
konnte man allerdings fast gar nichts unterscheiden. Karl bedauerte die
elektrische Taschenlampe, die er vom Onkel geschenkt bekommen hatte, nicht
mitgenommen zu haben. In diesem Hause war ja eine Taschenlampe
unentbehrlich, hätte man ein paar solcher Lampen gehabt, hätte man die
Diener schlafen schicken können. Er setzte sich aufs Fensterbrett und sah
und horchte hinaus. Ein aufgestörter Vogel schien sich durch das Laubwerk
des alten Baumes zu drängen. Die Pfeife eines Newyorker Vorortzuges
erklang irgendwo im Land. Sonst war es still.
Aber nicht lange, denn
Klara kam eilends herein. Sichtlich bös rief sie: "Was soll denn
das?" und klatschte auf ihren Rock. Karl wollte erst antworten, bis
sie höflicher war. Aber sie gieng mit großen Schritten auf ihn zu, rief:
"Also wollen Sie mit mir kommen oder nicht?" und stieß ihn mit
Absicht oder bloß in der Erregung derartig an die Brust, daß er aus dem
Fenster gestürzt wäre, hätte er nicht noch im letzten Augenblick vom
Fensterbrett gleitend mit den Füßen den Zimmerboden berührt.
"Jetzt wäre ich bald herausgefallen", sagte er vorwurfsvoll.
"Schade daß es nicht geschehen ist. Warum sind Sie so unartig. Ich
stoße Sie noch einmal hinunter. " Und wirklich umfaßte sie ihn und
trug ihn, der verblüfft sich zuerst schwer zu machen vergaß, mit ihrem
vom Sport gestählten Körper fast bis zum Fenster. Aber dort besann er
sich, machte sich mit einer Wendung der Hüften los und umfaßte nun sie.
"Ach Sie tun mir weh", sagte sie gleich. Aber nun glaubte sie
Karl nicht mehr loslassen zu dürfen. Er ließ ihr zwar Freiheit, Schritte
nach Belieben zu machen, folgte ihr aber und ließ sie nicht los. Es war
auch so leicht sie in ihrem engen Kleid zu umfassen. "Lassen Sie
mich", flüsterte sie, das erhitzte Gesicht eng an seinem, er mußte
sich anstrengen sie zu sehn, so nahe war sie ihm, "lassen Sie mich,
ich werde Ihnen etwas Schönes geben." "Warum seufzt sie
so", dachte Karl, "es kann ihr nicht wehtun, ich drücke sie ja
nicht", und er ließ sie noch nicht los. Aber plötzlich nach einem
Augenblick unachtsamen schweigenden Dastehns fühlte er wieder ihre
wachsende Kraft an seinem Leib und sie hatte sich ihm entwunden, faßte
ihn mit gut ausgenütztem Obergriff, wehrte seine Beine mit Fußstellungen
einer fremdartigen Kampftechnik ab und trieb ihn vor sich mit großartiger
Regelmäßigkeit Athem holend gegen die Wand. Dort war aber ein Kanapee,
auf das legte. sie Karl hin und sagte, ohne sich allzusehr zu ihm
hinabzubeugen: "Jetzt rühr Dich wenn Du kannst. " "Katze,
tolle Katze", konnte Karl gerade noch aus dem Durcheinander von Wut
und Scham rufen, in dem er sich befand. "Du bist ja wahnsinnig, Du
tolle Katze." "Gib acht auf Deine Worte", sagte sie und ließ
die eine Hand zu seinem Halse gleiten, den sie so stark zu würgen
anfieng, daß Karl ganz unfähig war, etwas anderes zu tun, als Luft zu
schnappen, während sie mit der andern Hand an seine Wange fuhr, wie
probeweise sie berührte, sie wieder undzwar immer weiter in die Luft zurückzog
und jeden Augenblick mit einer Ohrfeige niederfahren lassen konnte.
"Wie wäre es", fragte sie dabei, "wenn ich Dich zur Strafe
für Dein Benehmen einer Dame gegenüber mit einer tüchtigen Ohrfeige
nachhause schicken wollte. Vielleicht wäre es Dir nützlich für Deinen künftigen
Lebensweg, wenn es auch keine schöne Erinnerung abgeben würde. Du tust
mir ja leid und bist ein erträglich hübscher Junge und hättest Du
Jiu-Jitsu gelernt, hättest Du wahrscheinlich mich durchgeprügelt.
Trotzdem, trotzdem – es verlockt mich geradezu riesig Dich zu ohrfeigen
so wie Du jetzt daliegst. Ich werde es wahrscheinlich bedauern, wenn ich
es aber tun sollte, so wisse schon jetzt, daß ich es fast gegen meinen
Willen tun werde. Und ich werde mich dann natürlich nicht mit einer
Ohrfeige begnügen, sondern rechts und links schlagen, bis Dir die Backen
anschwellen. Und vielleicht bist Du ein Ehrenmann – ich möchte es fast
glauben – und wirst mit den Ohrfeigen nicht weiterleben wollen und Dich
aus der Welt schaffen. Aber warum bist Du auch so gegen mich gewesen.
Gefalle ich Dir vielleicht nicht? Lohnt es sich nicht auf mein Zimmer zu
kommen? Achtung! jetzt hätte ich Dir schon fast unversehens die Ohrfeige
aufgepelzt. Wenn Du heute also noch so loskommen solltest, benimm Dich nächstens
feiner. Ich bin nicht Dein Onkel, mit dem Du trotzen kannst. Im übrigen
will ich Dich noch darauf aufmerksam machen, daß wenn ich Dich
ungeohrfeigt loslasse Du nicht glauben mußt, daß Deine jetzige Lage und
wirkliches Geohrfeigtwerden vom Standpunkt der Ehre aus das Gleiche sind,
solltest Du das glauben wollen, so würde ich es doch vorziehn, Dich
wirklich zu ohrfeigen. Was wohl Mack sagen wird, wenn ich ihm das alles
erzähle. " Bei der Erinnerung an Mack ließ sie Karl los, in seinen
undeutlichen Gedanken erschien ihm Mack wie ein Befreier. Er fühlte noch
ein Weilchen Klaras Hand an seinem Hals, wand sich daher noch ein wenig
und lag dann still.
Sie forderte ihn auf
aufzustehn, er antwortete nicht und rührte sich nicht. Sie entzündete
irgendwo eine Kerze, das Zimmer bekam Licht, ein blaues Zickzackmuster
erschien auf dem Plafond, aber Karl lag, den Kopf auf Sophapolster aufgestützt,
so wie ihn Klara gebettet hatte, und wendete ihn nicht einen Fingerbreit.
Klara gieng im Zimmer herum, ihr Rock rauschte um ihre Beine,
wahrscheinlich beim Fenster blieb sie eine lange Weile stehn.
"Ausgetrotzt?" hörte man sie dann fragen. Karl empfand es
schwer, in diesem Zimmer, das ihm doch von Herrn Pollunder für diese
Nacht zugedacht war, keine Ruhe bekommen zu können. Da wanderte dieses Mädchen
herum, blieb stehn und redete und er hatte sie doch so unaussprechlich
satt. Rasch schlafen und von hier fortgehn war sein einziger Wunsch. Er
wollte gar nicht mehr ins Bett, sondern nur hier auf dem Kanapee bleiben.
Er lauerte nur darauf daß sie weggienge, um hinter ihr her zur Tür zu
springen, sie zu verriegeln und dann wieder zurück auf das Kanapee sich
zu werfen. Er hatte ein solches Bedürfnis sich zu strecken und zu gähnen,
aber vor Klara wollte er das nicht tun. Und so lag er, starrte hinauf, fühlte
sein Gesicht immer unbeweglicher werden und eine ihn umkreisende Fliege
flimmerte ihm vor den Augen, ohne daß er recht wußte, was es war.
Klara trat wieder zu ihm,
beugte sich in die Richtung seiner Blicke und hätte er sich nicht
bezwungen, hätte er sie schon anschauen müssen. "Ich gehe
jetzt", sagte sie. "Vielleicht bekommst Du später Lust zu mir
zu kommen. Die Tür zu meinen Zimmern ist die vierte von dieser Tür aus
gerechnet, auf dieser Seite des Ganges. Du gehst also an drei weiteren Türen
vorüber und die, zu welcher Du dann kommst ist die richtige. Ich gehe
nicht mehr hinunter in den Saal, sondern bleibe schon in meinem Zimmer. Du
hast mich aber auch ordentlich müde gemacht. Ich werde nicht gerade auf
Dich warten, aber wenn Du kommen willst so komm. Erinnere Dich, daß Du
versprochen hast, mir auf dem Klavier vorzuspielen. Aber vielleicht habe
ich Dich ganz entnervt und Du kannst Dich nicht mehr rühren, dann bleib
und schlaf Dich aus. Dem Vater sage ich vorläufig von unserer Rauferei
kein Wort; ich bemerke das für den Fall, daß Dir das Sorge machen
sollte. " Darauf lief sie trotz ihrer angeblichen Müdigkeit mit zwei
Sprüngen aus dem Zimmer.
Sofort setzte sich Karl
aufrecht, dieses Liegen war schon unerträglich geworden. Um ein wenig
Bewegung zu machen, gieng er zur Tür und sah auf den Gang hinaus. War
dort aber eine Finsternis! Er war froh, als er die Tür zugemacht und
abgesperrt hatte, und wieder bei seinem Tisch im Schein der Kerze stand.
Sein Entschluß war, nicht länger in diesem Haus zu bleiben, sondern
hinunter zu Herrn Pollunder zu gehn, ihm offen zu sagen, wie ihn Klara
behandelt hatte – am Eingeständnis seiner Niederlage lag ihm gar nichts
– und mit dieser wohl genügenden Begründung um die Erlaubnis zu
bitten, nachhause fahren oder gehn zu dürfen. Sollte Herr Pollunder etwas
gegen diese sofortige Heimkehr einzuwenden haben, dann wollte ihn Karl
wenigstens bitten, ihn durch einen Diener zum nächsten Hotel führen zu
lassen. In dieser Weise, wie sie Karl plante gieng man zwar sonst in der
Regel nicht mit freundlichen Gastgebern um, aber noch seltener gieng man
mit einem Gaste derartig um wie es Klara getan hatte. Sie hatte sogar noch
ihr Versprechen, dem Herrn Pollunder von der Rauferei vorläufig nichts zu
sagen, für eine
· Freundlichkeit
gehalten, das war aber schon himmelschreiend. Ja war denn Karl zu einem
Ringkampf eingeladen worden, so daß es für ihn beschämend gewesen wäre,
von einem Mädchen geworfen zu werden, das wahrscheinlich den größten
Teil ihres Lebens mit dem Lernen von Ringkämpferkniffen verbracht hatte.
Am Ende hatte sie gar von Mack Unterricht bekommen. Mochte sie ihm nur
alles erzählen, der war sicher einsichtig, das wußte Karl, trotzdem er
niemals Gelegenheit gehabt hatte, das im einzelnen zu erfahren. Karl wußte
aber auch, daß wenn Mack ihn unterrichten würde, er noch viel größere
Fortschritte als Klara machen würde; dann käme er eines Tages wieder
hierher, höchstwahrscheinlich uneingeladen, untersuchte natürlich zuerst
die Örtlichkeit, deren genaue Kenntnis ein großer Vorteil Klaras gewesen
war, packte dann diese gleiche Klara und klopfte mit ihr das gleiche
Kanapee aus, auf das sie ihn heute geworfen hatte.
Jetzt handelte es sich
nur darum den Weg zum Saal zurückzufinden, wo er ja wahrscheinlich auch
seinen Hut in der ersten Zerstreutheit auf einen unpassenden Platz gelegt
hatte. Die Kerze wollte er natürlich mitnehmen, aber selbst bei Licht war
es nicht leicht sich auszukennen. Er wußte z. B. nicht einmal, ob dieses
Zimmer in der gleichen Ebene, wie der Saal gelegen war. Klara hatte ihn
auf dem Herweg immer so gezogen, daß er sich gar nicht hatte umsehn können,
Herr Green und die Leuchter tragenden Diener hatten ihm auch zu denken
gegeben, kurz, er wußte jetzt tatsächlich nicht einmal ob sie eine oder
zwei oder vielleicht gar keine Treppe passiert hatten. Nach der Aussicht
zu schließen lag das Zimmer ziemlich hoch und er suchte sich deshalb
einzubilden, daß sie über Treppen gekommen waren, aber schon zum
Hauseingang hatte man ja über Treppen steigen müssen, warum konnte nicht
auch diese Seite des Hauses erhöht sein. Aber wenn wenigstens auf dem
Gang irgendwo ein Lichtschein aus einer Tür zu sehen oder eine Stimme aus
der Ferne auch noch so leise zu hören gewesen wäre.
Seine Taschenuhr, ein
Geschenk des Onkels zeigte elf Uhr, er nahm die Kerze und gieng auf den
Gang hinaus. Die Tür ließ er offen, um für den Fall daß sein Suchen
vergeblich wäre, wenigstens sein Zimmer wiederzufinden und danach für
den äußersten Notfall die Tür zu Klaras Zimmer. Zur Sicherheit, damit
sich die Türe nicht von selbst schließe, verstellte er sie mit einem
Sessel. Auf dem Gange zeigte sich der Übelstand, daß gegen Karl – er
gieng natürlich von Klaras Türe weg nach links zu – ein Luftzug
strich, der zwar ganz schwach war, aber immerhin leicht die Kerze hätte
auslöschen können, so daß Karl die Flamme mit der Hand schützen und überdies
öfters stehen bleiben mußte, damit die niedergedrückte Flamme sich
erhole. Es war ein langsames Vorwärtskommen und der Weg schien dadurch
doppelt lang. Karl war schon an großen Strecken der Wände vorübergekommen,
die gänzlich ohne Türen waren, man konnte sich nicht vorstellen was
dahinter war. Dann kam wieder Tür an Tür, er versuchte mehrere zu öffnen,
sie waren versperrt und die Räume offenbar unbewohnt. Es war eine
Raumverschwendung sondergleichen und Karl dachte an die östlichen
Newyorker Quartiere, die ihm der Onkel zu zeigen versprochen hatte, wo
angeblich in einem kleinen Zimmer mehrere Familien wohnten und das Heim
einer Familie in einem Zimmerwinkel bestand, in dem sich die Kinder um
ihre Eltern scharten. Und hier standen so viele Zimmer leer und waren nur
dazu da, um hohl zu klingen, wenn man an die Türe schlug. Herr Pollunder
schien Karl irregeführt zu sein von falschen Freunden, und vernarrt in
seine Tochter und dadurch verdorben. Der Onkel hatte ihn sicher richtig
beurteilt und nur sein Grundsatz, auf die Menschenbeurteilung Karls keinen
Einfluß zu nehmen, war schuld an diesem Besuch und an diesen Wanderungen
auf den Gängen. Karl wollte das morgen dem Onkel ohne weiters sagen, denn
nach seinem Grundsatz würde der Onkel auch das Urteil des Neffen über
ihn gerne und ruhig anhören. Überdies war dieser Grundsatz vielleicht
das einzige, was Karl an seinem Onkel nicht gefiel und selbst dieses
Nichtgefallen war nicht unbedingt.
Plötzlich hörte die
Wand an der einen Gangseite auf und ein eiskaltes marmornes Geländer trat
an ihre Stelle. Karl stellte die Kerze neben sich und beugte sich
vorsichtig hinüber. Dunkle Leere wehte ihm entgegen. Wenn das die
Haupthalle des Hauses war – im Schimmer der Kerze erschien ein Stück
einer gewölbeartig geführten Decke – warum war man nicht durch diese
Halle eingetreten? Wozu diente nur dieser große tiefe Raum? Man stand ja
hier oben wie auf der Gallerie einer Kirche. Karl bedauerte fast, nicht
bis morgen in diesem Hause bleiben zu können, er hätte gern bei
Tageslicht von Herrn Pollunder sich überall herumführen und über alles
unterrichten lassen.
Das Geländer war übrigens
nicht lang und bald wurde Karl wieder vom geschlossenen Gang aufgenommen.
Bei einer plötzlichen Wendung des Ganges stieß Karl mit ganzer Wucht an
die Mauer und nur die ununterbrochene Sorgfalt mit der er die Kerze
krampfhaft hielt, bewahrte sie glücklicherweise vor dem Fallen und Auslöschen.
Da der Gang kein Ende nehmen wollte, nirgends ein Fenster einen Ausblick
gab, weder in der Höhe noch in der Tiefe sich etwas rührte, dachte Karl
schon daran, er gehe immerfort im gleichen Kreisgang in der Runde und
hoffte schon, die offene Türe seines Zimmers vielleicht wieder zu finden,
aber weder sie noch das Geländer kehrte wieder. Bis jetzt hatte sich Karl
von lautem Rufen zurückgehalten, denn er wollte in einem fremden Haus zu
so später Stunde keinen Lärm machen, aber jetzt sah er ein, daß es in
diesem unbeleuchteten Hause kein Unrecht war und machte sich gerade daran,
nach beiden Seiten des Ganges ein lautes Halloh zu schreien, als er in der
Richtung aus der er gekommen war, ein kleines sich näherndes Licht
bemerkte. Jetzt konnte er erst die Länge des geraden Ganges abschätzen,
das Haus war eine Festung, keine Villa. Karls Freude über dieses rettende
Licht war so groß, daß er alle Vorsicht vergaß, und darauf zulief,
schon bei den ersten Sprüngen löschte seine Kerze aus. Er achtete nicht
darauf, denn er brauchte sie nicht mehr, hier kam ihm ein alter Diener mit
einer Laterne entgegen, der ihm den richtigen Weg schon zeigen würde.
"Wer sind Sie?"
fragte der Diener und hielt Karl die Laterne ans Gesicht, wodurch er
gleichzeitig sein eigenes beleuchtete. Sein Gesicht erschien etwas steif
durch einen großen weißen Vollbart der erst auf der Brust in
seidenartige Ringel ausgieng. Es muß ein treuer Diener sein, dem man das
Tragen eines solchen Bartes erlaubt, dachte Karl und sah diesen Bart
unverwandt der Länge und Breite nach an, ohne sich dadurch behindert zu fühlen,
daß er selbst beobachtet wurde. Im übrigen antwortete er sofort, daß er
der Gast des Herrn Pollunder sei, aus seinem Zimmer in das Speisezimmer
gehen wolle und es nicht finden könne. "Ach so", sagte der
Diener, "wir haben das elektrische Licht noch nicht eingeführt."
"Ich weiß", sagte Karl. "Wollen Sie sich nicht Ihre Kerze
an meiner Lampe anzünden?" fragte der Diener. "Bitte",
sagte Karl und tat es. "Es zieht hier so auf den Gängen", sagte
der Diener, "die Kerze löscht leicht aus, darum habe ich eine
Laterne. " "Ja eine Laterne ist viel praktischer", sagte
Karl. "Sie sind auch schon von der Kerze ganz betropft", sagte
der Diener und leuchtete mit der Kerze Karls Anzug ab. "Das habe ich
ja gar nicht bemerkt", rief Karl und es tat ihm sehr leid, da es ein
schwarzer Anzug war, von dem der Onkel gesagt hatte, er passe ihm am
besten von allen. Die Rauferei mit Klara dürfte dem Anzug auch nicht genützt
haben, erinnerte er sich jetzt. Der Diener war gefällig genug, den Anzug
zu reinigen so gut es in der Eile gieng; immer wieder drehte sich Karl vor
ihm herum und zeigte ihm noch hier und dort einen Flecken, den der Diener
folgsam entfernte. "Warum zieht es denn hier eigentlich so?"
fragte Karl, als sie schon weitergiengen. "Es ist hier eben noch viel
zu bauen", sagte der Diener, "man hat zwar mit dem Umbau schon
angefangen, aber es geht sehr langsam. Jetzt streiken auch noch die
Bauarbeiter wie Sie vielleicht wissen. Man hat viel Ärger mit so einem
Bau. Jetzt sind da paar große Durchbrüche gemacht worden, die niemand
vermauert und die Zugluft geht durch das ganze Haus. Wenn ich nicht die
Ohren voll Watte hätte, könnte ich nicht bestehn. " "Da muß
ich wohl lauter reden?" fragte Karl. "Nein, Sie haben eine klare
Stimme", sagte der Diener. "Aber um auf diesen Bau zurückzukommen,
besonders hier in der Nähe der Kapelle, die später unbedingt von dem übrigen
Haus abgesperrt werden muß, ist die Zugluft gar nicht auszuhalten. "
"Die Brüstung, an der man in diesem Gang vorüberkommt geht also in
eine Kapelle hinaus?" "Ja." "Das habe ich mir gleich
gedacht", sagte Karl. " Sie ist sehr sehenswert", sagte der
Diener, "wäre sie nicht gewesen, hätte wohl Herr Mack das Haus
nicht gekauft." "Herr Mack?" fragte Karl, "ich dachte,
das Haus gehöre Herrn Pollunder. " "Allerdings", sagte der
Diener, "aber Herr Mack hat doch bei diesem Kauf den Ausschlag
gegeben. Sie kennen Herrn Mack nicht?" "0 ja", sagte Karl.
"Aber in welcher Verbindung ist er denn mit Herrn Pollunder?"
"Er ist der Bräutigam des Fräuleins", sagte der Diener.
"Das wußte ich freilich nicht", sagte Karl und blieb stehn.
"Setzt Sie das in solches Erstaunen?" fragte der Diener.
"Ich will es nur mir zurechtlegen. Wenn man solche Beziehungen nicht
kennt, kann man ja die größten Fehler machen", antwortete Karl.
"Es wundert mich nur, daß man Ihnen davon nichts gesagt hat",
sagte der Diener. "Ja wirklich", sagte Karl beschämt.
"Wahrscheinlich dachte man, Sie wüßten es", sagte der Diener,
"es ist ja keine Neuigkeit. Hier sind wir übrigens", und er öffnete
eine Tür, hinter der sich eine Treppe zeigte, die senkrecht zu der
Hintertüre des ebenso wie bei der Ankunft hell beleuchteten Speisezimmers
führte. Ehe Karl in das Speisezimmer eintrat, aus dem man die Stimmen
Herrn Pollunders und Herrn Greens unverändert wie vor nun wohl schon zwei
Stunden hörte, sagte der Diener: "Wenn Sie wollen, erwarte ich Sie
hier und führe Sie dann in Ihr Zimmer. Es macht immerhin Schwierigkeiten,
sich gleich am ersten Abend hier auszukennen. " "Ich werde nicht
mehr in mein Zimmer zurückgehn", sagte Karl und wußte nicht warum
er bei dieser Auskunft traurig wurde. "Es wird nicht so arg
sein", sagte der Diener ein wenig überlegen lächelnd und klopfte
ihm auf den Arm. Er hatte sich wahrscheinlich Karls Worte dahin erklärt,
daß Karl beabsichtige, während der ganzen Nacht im Speisezimmer zu
bleiben, sich mit den Herren zu unterhalten und mit ihnen zu trinken. Karl
wollte jetzt keine Bekenntnisse machen, außerdem dachte er, der Diener,
der ihm besser gefiel als die andern hiesigen Diener, könne ihm ja dann
die Wegrichtung nach New York zeigen und sagte deshalb: "Wenn Sie
hier warten wollen, so ist das sicherlich eine große Freundlichkeit von
Ihnen und ich nehme sie dankbar an. Jedenfalls werde ich in einer kleinen
Weile herauskommen und Ihnen dann sagen, was ich weiter tun werde. Ich
denke schon, daß mir Ihre Hilfe noch nötig sein wird. "
"Gut", sagte der Diener, stellte die Laterne auf den Boden und
setzte sich auf ein niedriges Postament, dessen Leere wahrscheinlich auch
mit dem Umbau des Hauses zusammenhieng, "ich werde also hier warten.
" "Die Kerze können Sie auch bei mir lassen", sagte der
Diener noch, als Karl mit der brennenden Kerze in den Saal gehen wollte.
"Ich bin aber zerstreut", sagte Karl und reichte die Kerze dem
Diener hin, welcher ihm bloß zunickte, ohne daß man wußte, ob er es mit
Absicht tat oder ob es eine Folge dessen war, daß er mit der Hand seinen
Bart strich.
Karl öffnete die Tür,
die ohne seine Schuld laut erklirrte, denn sie bestand aus einer einzigen
Glasplatte die sich fast bog, wenn die Tür rasch geöffnet und nur an der
Klinke festgehalten wurde. Karl ließ die Tür erschrocken los, denn er
hatte gerade besonders still eintreten wollen. Ohne sich mehr umzudrehn,
merkte er noch, wie hinter ihm der Diener, der offenbar von seinem
Postament herabgestiegen war, vorsichtig und ohne das geringste Geräusch
die Türe schloß. "Verzeihen Sie daß ich störe", sagte er zu
den beiden Herren, die ihn mit ihren großen erstaunten Gesichtern
ansahen. Gleichzeitig aber überflog er mit einem Blick den Saal, ob er
nicht irgendwo schnell seinen Hut finden könne. Er war aber nirgends zu
sehn, der Eßtisch war völlig abgeräumt, vielleicht war der Hut
unangenehmer Weise irgendwie in die Küche fortgetragen worden. "Wo
haben Sie denn Klara gelassene" fragte Herr Pollunder, dem übrigens
die Störung nicht unlieb schien, denn er setzte sich gleich anders in
seinem Fauteuil und kehrte Karl seine ganze Front zu. Herr Green spielte
den Unbeteiligten, zog eine Brieftasche heraus, die an Größe und Dicke
ein Ungeheuer ihrer Art war, schien in den vielen Taschen ein bestimmtes
Stück zu suchen, las aber während des Suchens auch andere Papiere, die
ihm gerade in die Hand kamen. "Ich hätte eine Bitte, die Sie nicht
mißverstehen dürfen", sagte Karl, gieng eiligst zu Herrn Pollunder
hin und legte, um ihm recht nahe zu sein, die Hand auf die Armlehne des
Fauteuils. "Was soll denn das für eine Bitte sein?" fragte Herr
Pollunder und sah Karl mit offenem rückhaltlosem Blicke an. "Sie ist
natürlich schon erfüllt. " Und er legte den Arm um Karl und zog ihn
zu sich zwischen seine Beine. Karl duldete das gerne, trotzdem er sich im
allgemeinen doch für eine solche Behandlung allzu erwachsen fühlte. Aber
das Aussprechen seiner Bitte wurde natürlich schwieriger. "Wie gefällt
es Ihnen denn eigentlich bei uns?" fragte Herr Pollunder.
"Scheint es Ihnen nicht auch, daß man auf dem Lande sozusagen
befreit wird, wenn man aus der Stadt herkommt. Im allgemeinen" –
und ein nicht mißzuverstehender, durch Karl etwas verdeckter Seitenblick
gieng auf Herrn Green – "im allgemeinen habe ich dieses Gefühl
immer wieder, jeden Abend. " "Er spricht", dachte Karl,
"als wüßte er nicht von dem großen Haus, den endlosen Gängen, der
Kapelle, den leeren Zimmern, dem Dunkel überall." "Nun!"
sagte Herr Pollunder. "Die Bitte!" und er schüttelte Karl
freundschaftlich, der stumm dastand. "Ich bitte", sagte Karl und
so sehr er die Stimme dämpfte, es ließ sich nicht vermeiden, daß der
daneben sitzende Green alles hörte, vor dem Karl die Bitte, die möglicherweise
als eine Beleidigung Pollunders aufgefaßt werden konnte, so gern
verschwiegen hätte – "ich bitte, lassen Sie mich noch jetzt, in
der Nacht, nachhause. " Und da das Ärgste ausgesprochen war, drängte
alles andere umso schneller nach, er sagte, ohne die geringste Lüge zu
gebrauchen, Dinge an die er gar nicht eigentlich vorher gedacht hatte.
"Ich möchte um alles gerne nachhause. Ich werde gerne wiederkommen,
denn wo Sie Herr Pollunder sind, dort bin ich auch gerne. Nur heute kann
ich nicht hier bleiben. Sie wissen, der Onkel hat mir die Erlaubnis zu
diesem Besuch nicht gerne gegeben. Er hat sicher dafür seine guten Gründe
gehabt, wie für alles was er tut, und ich habe es mir herausgenommen,
gegen seine bessere Einsicht die Erlaubnis förmlich zu erzwingen. Ich
habe seine Liebe zu mir einfach mißbraucht. Was für Bedenken er gegen
diesen Besuch hatte, ist ja jetzt gleichgültig, ich weiß bloß ganz
bestimmt, daß nichts in diesen Bedenken war, was Sie Herr Pollunder kränken
könnte, der Sie der beste, der allerbeste Freund meines Onkels sind. Kein
anderer kann sich in der Freundschaft meines Onkels auch nur im
Entferntesten mit Ihnen vergleichen. Das ist ja auch die einzige
Entschuldigung für meine Unfolgsamkeit, aber keine genügende. Sie haben
vielleicht keinen genauen Einblick in das Verhältnis zwischen meinem
Onkel und mir, ich will daher nur von dem Einleuchtendsten sprechen.
Solange meine Englischstudien nicht abgeschlossen sind und ich mich im
praktischen Handel nicht genügend umgesehen habe, bin ich gänzlich auf
die Güte meines Onkels angewiesen, die ich allerdings als Blutsverwandter
genießen darf. Sie dürfen nicht glauben, daß ich schon jetzt irgendwie
mein Brot anständig – und vor allem andern soll mich Gott bewahren –
verdienen könnte. Dazu ist leider meine Erziehung zu unpraktisch gewesen.
Ich habe vier Klassen eines europäischen Gymnasiums als Durchschnittsschüler
durchgemacht und das bedeutet für den Gelderwerb viel weniger als nichts,
denn unsere Gymnasien sind im Lehrplan sehr rückschrittlich. Sie würden
lachen, wenn ich Ihnen erzählen wollte, was ich gelernt habe. Wenn man
weiterstudiert, das Gymnasium zu Ende macht, an die Universität geht,
dann gleicht sich ja wahrscheinlich alles irgendwie aus und man hat zum
Schluß eine geordnete Bildung, mit der sich etwas anfangen läßt und die
einem die Entschlossenheit zum Gelderwerb gibt. Ich aber bin aus diesem
zusammenhängenden Studium leider herausgerissen worden, manchmal glaube
ich, ich weiß gar nichts, und schließlich wäre auch alles was ich
wissen könnte für Amerika noch immer zu wenig. Jetzt werden in meiner
Heimat neuestens hie und da Reformgymnasien eingerichtet, wo man auch
moderne Sprachen und vielleicht auch Handelswissenschaften lernt, als ich
aus der Volksschule trat, gab es das noch nicht. Mein Vater wollte mich
zwar im Englischen unterrichten lassen, aber erstens konnte ich damals
nicht ahnen was für ein Unglück über mich kommen wird und wie ich das
Englische brauchen werde, und zweitens mußte ich für das Gymnasium viel
lernen, so daß ich für andere Beschäftigungen nicht besonders viel Zeit
hatte. – Ich erwähne das alles, um Ihnen zu zeigen, wie abhängig ich
von meinem Onkel bin und wie verpflichtet infolgedessen ich ihm gegenüber
auch bin. Sie werden sicher zugeben, daß ich es mir bei solchen Verhältnissen
nicht erlauben darf auch nur das geringste gegen seinen auch nur geahnten
Willen zu tun. Und darum muß ich, um den Fehler den ich ihm gegenüber
begangen habe, nur halbwegs wieder gut zu machen, sofort nachhause gehn.
" Während dieser langen Rede Karls hatte Herr Pollunder aufmerksam
zugehört, öfters, besonders wenn der Onkel erwähnt wurde, Karl wenn
auch unmerklich an sich gedrückt und einigemale ernst und wie
erwartungsvoll zu Green hinübergesehn, der sich weiterhin mit seiner
Brieftasche beschäftigte. Karl aber war, je deutlicher ihm seine Stellung
zum Onkel im Laufe seiner Rede zu Bewußtsein kam, immer unruhiger
geworden, hatte sich unwillkürlich aus dem Arm Pollunders zu drängen
gesucht, alles beengte ihn hier, der Weg zum Onkel durch die Glastüre, über
die Treppe, durch die Allee, über die Landstraßen, durch die Vorstädte
zur großen Verkehrsstraße, einmündend in des Onkels Haus, erschien ihm
als etwas streng zusammengehöriges, das leer, glatt und für ihn
vorbereitet dalag und mit einer starken Stimme nach ihm verlangte. Herrn
Pollunders Güte und Herrn Greens Abscheulichkeit verschwammen und er
wollte aus diesem rauchigen Zimmer nichts anderes für sich haben als die
Erlaubnis zum Abschiednehmen. Zwar fühlte er sich gegen Herrn Pollunder
abgeschlossen, gegen Herrn Green kampfbereit und doch erfüllte ihn
ringsherum eine unbestimmte Furcht, deren Stöße seine Augen trübten.
Er trat einen Schritt zurück
und stand nun gleich weit von Herrn Pollunder und von Herrn Green
entfernt. "Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?" fragte Herr
Pollunder Herrn Green und faßte wie bittend Herrn Greens Hand. "Ich
wüßte nichts, was ich ihm sagen sollte?" sagte Herr Green, der
endlich einen Brief aus seiner Tasche gezogen und vor sich auf den Tisch
gelegt hatte. "Es ist recht lobenswert, daß er zu seinem Onkel zurückkehren
will und nach menschlicher Voraussicht sollte man glauben, daß er dem
Onkel eine besondere Freude damit machen wird. Es müßte denn sein, daß
er durch seine Unfolgsamkeit den Onkel schon allzu böse gemacht hat, was
ja auch möglich ist. Dann allerdings wäre es besser, er bliebe hier. Es
ist eben schwer etwas bestimmtes zu sagen, wir sind zwar beide Freunde des
Onkels und es dürfte Mühe machen zwischen meiner und Herrn Pollunders
Freundschaft Rangunterschiede zu erkennen, aber in das Innere des Onkels können
wir nicht hineinschauen und ganz besonders nicht über die vielen
Kilometer hinweg, die uns hier von New York trennen. " "Bitte
Herr Green", sagte Karl und näherte sich mit Selbstüberwindung
Herrn Green, "ich höre aus Ihren Worten heraus, daß Sie es auch für
das Beste halten, wenn ich gleich zurückkehre. " "Das habe ich
durchaus nicht gesagt", meinte Herr Green und vertiefte sich in das
Anschauen des Briefes, an dessen Rändern er mit zwei Fingern hin und her
fuhr. Er schien damit andeuten zu wollen, daß er von Herrn pollunder
gefragt worden sei, ihm auch geantwortet habe, während er mit Karl
eigentlich nichts zu tun habe.
Inzwischen war Herr
Pollunder zu Karl getreten und hatte ihn sanft von Herrn Green weg zu
einem der großen Fenster gezogen. "Lieber Herr Roßmann", sagte
er zu Karls Ohr herabgebeugt und wischte zur Vorbereitung mit dem
Taschentuch über sein Gesicht und bei der Nase innehaltend schneuzte er,
"Sie werden doch nicht glauben, daß ich Sie gegen Ihren Willen hier
zurückhalten will. Davon ist ja keine Rede. Das Automobil kann ich Ihnen
zwar nicht zur Verfügung stellen, denn es steht weit von hier in einer öffentlichen
Garage, da ich noch keine Zeit hatte, hier, wo alles erst im Werden ist,
eine eigene Garage einzurichten. Der Chauffeur wiederum schläft nicht
hier im Haus, sondern in der Nähe der Garage, ich weiß wirklich selbst
nicht wo. Außerdem ist es gar nicht seine Pflicht jetzt zuhause zu sein,
seine Pflicht ist es nur, früh zur rechten Zeit hier vorzufahren. Aber
das alles wären keine Hindernisse für Ihre augenblickliche Heimkehr,
denn wenn Sie darauf bestehn, begleite ich Sie sofort zur nächsten
Station der Stadtbahn, die allerdings so weit entfernt ist, daß Sie nicht
viel früher zuhause ankommen dürften, als wenn Sie früh – wir fahren
ja schon um sieben Uhr – mit mir in meinem Automobil fahren wollen.
" "Da möchte ich, Herr Pollunder, doch lieber mit der Stadtbahn
fahren", sagte Karl. "An die Stadtbahn habe ich gar nicht
gedacht. Sie sagen selbst daß ich mit der Stadtbahn früher ankomme, als
früh mit dem Automobil. " "Es ist aber ein ganz kleiner
Unterschied." "Trotzdem, trotzdem Herr Pollunder", sagte
Karl, "ich werde in Erinnerung an Ihre Freundlichkeit immer gerne
herkommen, vorausgesetzt natürlich daß Sie mich nach meinem heutigen
Benehmen noch einladen wollen, und vielleicht werde ich es nächstens
besser ausdrücken können, warum heute jede Minute, um die ich meinen
Onkel früher sehe, für mich so wichtig ist. " Und als hätte er
bereits die Erlaubnis zum Weggehn erhalten, fügte er hinzu: "Aber
keinesfalls dürfen Sie mich begleiten. Es ist auch ganz unnötig. Draußen
ist ein Diener der mich gern zur Station begleiten wird. Jetzt muß ich
nur noch meinen Hut suchen. " Und bei den letzten Worten durchschritt
er schon das Zimmer, um noch in Eile einen letzten Versuch zu machen, ob
sein Hut doch vielleicht zu finden wäre. "Könnte ich Ihnen nicht
mit einer Mütze aushelfen", sagte Herr Green und zog eine Mütze aus
der Tasche, "vielleicht paßt sie Ihnen zufällig." Verblüfft
blieb Karl stehn und sagte: "Ich werde Ihnen doch nicht Ihre Mütze
wegnehmen. Ich kann ja ganz gut mit unbedecktem Kopf gehn. Ich brauche gar
nichts. " "Es ist nicht meine Mütze. Nehmen Sie nur!"
"Dann danke ich", sagte Karl um sich nicht aufzuhalten und nahm
die Mütze. Er zog sie an und lachte zuerst, da sie ganz genau paßte,
nahm sie wieder in die Hand und betrachtete sie, konnte aber das Besondere
das er an ihr suchte, nicht finden; es war eine vollkommen neue Mütze.
"Sie paßt so gut!" sagte er. "Also sie paßt! " rief
Herr Green und schlug auf den Tisch.
Karl gieng schon zur Tür
zu, um den Diener zu holen, da erhob sich Herr Green, streckte sich nach
dem reichlichen Mahl und der vielen Ruhe, klopfte stark gegen seine Brust
und sagte in einem Ton zwischen Rat und Befehl: "Ehe Sie weggehn müssen
Sie von Fräulein Klara Abschied nehmen. " "Das müssen
Sie", sagte auch Herr Pollunder der ebenfalls aufgestanden war. Ihm hörte
man es an, daß die Worte nicht aus seinem Herzen kamen, schwach ließ er
die Hände an die Hosennaht schlagen und knöpfte immer wieder seinen Rock
auf und zu, der nach der augenblicklichen Mode ganz kurz war und kaum zu
den Hüften gieng, was so dicke Leute wie Herrn Pollunder schlecht
kleidete. Übrigens hatte man, wenn er so neben Herrn Green stand, den
deutlichen Eindruck, daß es bei Herrn Pollunder keine gesunde Dicke war,
der Rücken war in seiner ganzen Masse etwas gekrümmt, der Bauch sah
weich und unhaltbar aus, eine wahre Last, und das Gesicht erschien bleich
und geplagt. Dagegen stand hier Herr Green, vielleicht noch etwas dicker
als Herr Pollunder, aber es war eine zusammenhängende, einander
gegenseitig tragende Dicke, die Füße waren soldatisch zusammengeklappt,
den Kopf trug er aufrecht und schaukelnd, er schien ein großer Turner,
ein Vorturner, zu sein.
"Gehen Sie also
vorerst", fuhr Herr Green fort, "zu Fräulein Klara. Das dürfte
Ihnen sicher Vergnügen machen und paßt auch sehr gut in meine
Zeiteinteilung. Ich habe Ihnen nämlich tatsächlich ehe Sie von hier
fortgehn etwas Interessantes zu sagen, was wahrscheinlich auch für Ihre Rückkehr
entscheidend sein kann. Nur bin ich leider durch höheren Befehl gebunden,
Ihnen vor Mitternacht nichts zu verraten. Sie können sich vorstellen, daß
mir das selbst leid tut, denn es stört meine Nachtruhe, aber ich halte
mich an meinen Auftrag. Jetzt ist viertel zwölf, ich kann also meine
Geschäfte noch mit Herrn Pollunder zu Ende besprechen, wobei Ihre
Gegenwart nur stören würde und Sie können ein hübsches Weilchen mit Fräulein
Klara verbringen. Punkt zwölf Uhr stellen Sie sich dann hier ein, wo Sie
das Nötige erfahren werden. "
Konnte Karl diese
Forderung ablehnen, die von ihm wirklich nur das Geringste an Höflichkeit
und Dankbarkeit gegenüber Herrn Pollunder verlangte und die überdies ein
sonst unbeteiligter roher Mann stellte, während Herr Pollunder, den es
angieng, sich mit Worten und Blicken möglichst zurückhielt? Und was war
jenes Interessante, das er erst um Mitternacht erfahren durfte? Wenn es
seine Heimkehr nicht wenigstens um die dreiviertel Stunde beschleunigte,
um die es sie jetzt verschob, interessierte es ihn wenig. Aber sein größter
Zweifel war, ob er überhaupt zu Klara gehn konnte, die doch seine Feindin
war. Wenn er wenigstens das Schlageisen bei sich gehabt hätte, das ihm
sein Onkel als Briefbeschwerer geschenkt hatte. Das Zimmer Klaras mochte
ja eine recht gefährliche Höhle sein. Aber nun war es ja ganz und gar
unmöglich, hier gegen Klara das geringste zu sagen, da sie Pollunders
Tochter und wie er jetzt gehört hatte gar Macks Braut war. Sie hätte ja
nur um eine Kleinigkeit anders sich zu ihm verhalten müssen und er hätte
sie wegen ihrer Beziehungen offen bewundert. Noch überlegte er das alles,
aber schon merkte er, daß man keine Überlegungen von ihm verlangte, denn
Green öffnete die Tür und sagte zum Diener, der vom Postamente sprang:
"Führen Sie diesen jungen Mann zu Fräulein Klara. "
"So führt man
Befehle aus", dachte Karl als ihn der Diener fast laufend, stöhnend
vor Altersschwäche, auf einem besonders kurzen Weg zu Klaras Zimmer zog.
Als Karl an seinem Zimmer vorüber kam, dessen Tür noch immer offenstand,
wollte er, vielleicht zu seiner Beruhigung, für einen Augenblick
eintreten. Der Diener ließ das aber nicht zu. "Nein", sagte er,
"Sie müssen zu Fräulein Klara. Sie haben es ja selbst gehört.
" "Ich würde mich nur einen Augenblick drin aufhalten",
sagte Karl und er dachte daran, sich zur Abwechslung ein wenig auf das
Kanapee zu werfen, damit ihm die Zeit rascher gegen Mitternacht vorrücke.
"Erschweren Sie mir die Ausführung meines Auftrages nicht",
sagte der Diener. "Er scheint es für eine Strafe zu halten, daß ich
zu Fräulein Klara gehn muß", dachte Karl und machte ein paar
Schritte, blieb aber aus Trotz wieder stehn. "Kommen Sie doch junger
Herr", sagte der Diener, "wenn Sie nun schon einmal hier sind.
Ich weiß, Sie wollten noch in der Nacht weggehn, es geht eben nicht alles
nach Wunsch, ich habe es Ihnen ja gleich gesagt, daß es kaum möglich
sein wird. " "Ja, ich will weggehn und werde auch weggehn",
sagte Karl, "und will jetzt nur von Fräulein Klara Abschied
nehmen." "So", sagte der Diener und Karl sah ihm wohl an,
daß er kein Wort davon glaubte, "warum zögern Sie also Abschied zu
nehmen, kommen Sie doch. "
"Wer ist auf dem
Gang?" ertönte Klaras Stimme und man sah sie aus einer nahen Tür
sich vorbeugen, eine große Tischlampe mit rotem Schirm in der Hand. Der
Diener eilte zu ihr hin und erstattete die Meldung, Karl gieng ihm langsam
nach. "Sie kommen spät", sagte Klara. Ohne ihr vorläufig zu
antworten, sagte Karl zum Diener leise, aber, da er seine Natur schon
kannte, im Ton strengen Befehles: "Sie warten auf mich knapp vor
dieser Tür! " "Ich wollte schon schlafen gehn", sagte
Klara und stellte die Lampe auf den Tisch. Wie unten im Speisezimmer schloß
auch hier wieder der Diener vorsichtig von außen die Tür. "Es ist
ja schon halb zwölf vorüber." "Halb zwölf vorüber",
wiederholte Karl fragend, wie erschrocken über diese Zahlen.
"Dann muß ich mich
aber sofort verabschieden", sagte Karl, "denn punkt zwölf muß
ich schon unten im Speisesaal sein. " "Was Sie für eilige Geschäfte
haben", sagte Klara und ordnete zerstreut die Falten ihres losen
Nachtkleides, ihr Gesicht glühte und immerfort lächelte sie. Karl
glaubte zu erkennen, daß keine Gefahr bestand, mit Klara wieder in Streit
zu geraten. "Könnten Sie nicht doch noch ein wenig Klavier spielen,
wie es mir gestern Papa und heute Sie selbst versprochen haben?"
"Ist nicht aber schon zu spät?" fragte Karl. Er hätte ihr gern
gefällig sein wollen, denn sie war ganz anders als vorher, so als wäre
sie irgendwie aufgestiegen in die Kreise Pollunders und weiterhin Macks.
"Ja spät ist es schon", sagte sie und es schien ihr die Lust
zur Musik schon vergangen zu sein. "Dann wiederhallt hier auch jeder
Ton im ganzen Hause, ich bin überzeugt, wenn Sie spielen, wacht noch oben
in den Dachkammern die Dienerschaft auf. " "Dann lasse ich also
das Spiel, ich hoffe ja bestimmt noch wiederzukommen, übrigens, wenn es
Ihnen keine besondere Mühe macht, besuchen Sie doch einmal meinen Onkel
und schauen bei der Gelegenheit auch in mein Zimmer. Ich habe ein
prachtvolles Piano. Der Onkel hat es mir geschenkt. Dann spiele ich Ihnen,
wenn es Ihnen recht ist, alle meine Stückchen vor, es sind leider nicht
viele, und sie passen auch gar nicht zu so einem großen Instrument, auf
dem nur Virtuosen sich hören lassen sollten. Aber auch dieses Vergnügen
werden Sie haben können, wenn Sie mich von Ihrem Besuch vorher verständigen,
denn der Onkel will nächstens einen berühmten Lehrer für mich
engagieren – Sie können sich denken wie ich mich darauf freue – und
dessen Spiel wird allerdings dafür stehn, mir während der
Unterrichtsstunde einen Besuch zu machen. Ich bin, wenn ich ehrlich sein
soll, froh, daß für das Spiel schon zu spät ist, denn ich kann noch gar
nichts, Sie würden staunen, wie wenig ich kann. Und nun erlauben Sie daß
ich mich verabschiede, schließlich ist ja doch schon Schlafenszeit.
" Und weil ihn Klara gütig ansah und ihm wegen der Rauferei gar
nichts nachzutragen schien, fügte er lächelnd hinzu, während er ihr die
Hand reichte: "In meiner Heimat pflegt man zu sagen: Schlafe wohl und
träume süß. "
"Warten Sie",
sagte sie, ohne seine Hand anzunehmen, "vielleicht sollten Sie doch
spielen." Und sie verschwand durch eine kleine Seitentür, neben der
das Piano stand. "Was ist denn?" dachte Karl, "lange kann
ich nicht warten, so lieb sie auch ist. " Es klopfte an die Gangtüre
und der Diener, der die Türe nicht ganz zu öffnen wagte, flüsterte
durch einen kleinen Spalt: "Verzeihen Sie, ich wurde soeben abberufen
und kann nicht mehr warten. " "Gehen Sie nur", sagte Karl,
der sich nun getraute, den Weg ins Speisezimmer allein zu finden,
"lassen Sie mir nur die Laterne vor der Tür. Wie spät ist es übrigens?"
"Bald dreiviertel zwölf", sagte der Diener. "Wie langsam
die Zeit vergeht", sagte Karl. Der Diener wollte schon die Türe
schließen, da erinnerte sich Karl, daß er ihm noch kein Trinkgeld
gegeben hatte, nahm einen Schilling aus der Hosentasche – er trug jetzt
immer Münzengeld nach amerikanischer Sitte lose klingelnd in der
Hosentasche, Banknoten dagegen in der Westentasche – und reichte ihn dem
Diener mit den Worten: "Für Ihre guten Dienste. "
Klara war schon wieder
eingetreten, die Hände an ihrer festen Frisur, als es Karl einfiel, daß
er den Diener doch nicht hätte wegschicken sollen, denn wer würde ihn
jetzt zur Station der Stadtbahn führen? Nun, da würde wohl schon Herr
Pollunder einen Diener noch auftreiben können, vielleicht war übrigens
dieser Diener ins Speisezimmer gerufen worden und würde dann zur Verfügung
stehn. "Ich bitte Sie also doch ein wenig zu spielen. Man hört hier
so selten Musik, daß man sich keine Gelegenheit sie zu hören, entgehen
lassen will." "Dann ist aber höchste Zeit", sagte Karl
ohne weitere Überlegung und setzte sich gleich zum Klavier. "Wollen
Sie Notenhaben?" fragte Klara. "Danke, ich kann ja Noten nicht
einmal vollkommen lesen", antwortete Karl und spielte schon. Es war
ein kleines Lied, das wie Karl wohl wußte ziemlich langsam hätte
gespielt werden müssen, um besonders für Fremde auch nur verständlich
zu sein, aber er hudelte es im ärgsten Marschtempo hinunter. Nach der
Beendigung fuhr die gestörte Stille des Hauses wie in großem Gedränge
wieder an ihren Platz. Man saß wie benommen da und rührte sich nicht.
"Ganz schön", sagte Klara, aber es gab keine Höflichkeitsformel,
die Karl nach diesem Spiel hätte schmeicheln können. "Wie spät ist
es?" fragte er. "Dreiviertel zwölf." "Dann habe ich
noch ein Weilchen Zeit", sagte er und dachte bei sich: "Entweder
oder. Ich muß ja nicht alle zehn Lieder spielen, die ich kann, aber eines
kann ich nach Möglichkeit gut spielen. " Und er fieng sein geliebtes
Soldatenlied an. So langsam, daß das aufgestörte Verlangen des Zuhörers
sich nach der nächsten Note streckte, die Karl zurückhielt und nur
schwer hergab. Er mußte ja tatsächlich wie bei jedem Lied die nötigen
Tasten mit den Augen erst zusammensuchen, aber außerdem fühlte er in
sich ein Leid entstehn, das über das Ende des Liedes hinaus, ein anderes
Ende suchte und es nicht finden konnte. "Ich kann ja nichts",
sagte Karl nach Schluß des Liedes und sah Klara mit Tränen in den Augen
an.
Da ertönte aus dem
Nebenzimmer lautes Händeklatschen. "Es hört noch jemand zu! "
rief Karl aufgerüttelt. "Mack", sagte Klara leise. Und schon hörte
man Mack rufen: "Karl Roßmann, Karl Roßmann! "
Karl schwang sich mit
beiden Füßen zugleich über die Klavierbank und öffnete die Tür. Er
sah dort Mack in einem großen Himmelbett halb liegend sitzen, die
Bettdecke war lose über die Beine geworfen. Der Baldachin aus blauer
Seide war die einzige ein wenig mädchenhafte Pracht des sonst einfachen,
aus schwerem Holz eckig gezimmerten Bettes. Auf dem Nachttischchen brannte
nur eine Kerze, aber die Bettwäsche und Macks Hemd waren so weiß, daß
das auf sie fallende Kerzenlicht in fast blendendem Widerschein von ihnen
strahlte; auch der Baldachin leuchtete wenigstens am Rande mit seiner
leicht gewellten, nicht ganz fest gespannten Seide. Gleich hinter Mack
versank aber das Bett und alles in vollständigem Dunkel. Klara lehnte
sich an den Bettpfosten und hatte nur noch Augen für Mack.
"Servus", sagte
Mack und reichte Karl die Hand. "Sie spielen ja recht gut, bisher
habe ich bloß Ihre Reitkunst gekannt. " "Ich kann das eine so
schlecht wie das andere", sagte Karl. "Wenn ich gewußt hätte,
daß Sie zuhören, hätte ich bestimmt nicht gespielt. Aber Ihr Fräulein"
– er unterbrach sich, er zögerte "Braut" zu sagen, da Mack
und Klara offenbar schon mit einander schliefen. "Ich ahnte es
ja", sagte Mack, "darum mußte Sie Klara aus NewYork
hierherlokken, sonst hätte ich Ihr Spiel gar nicht zu hören bekommen. Es
ist ja reichlich anfängerhaft und selbst in diesen Liedern, die Sie doch
eingeübt hatten und die sehr primitiv gesetzt sind, haben Sie einige
Fehler gemacht, aber immerhin hat es mich sehr gefreut, ganz abgesehen
davon, daß ich das Spiel keines Menschen verachte. Wollen Sie sich aber
nicht setzen und noch ein Weilchen bei uns bleiben. Klara gib ihm doch
einen Sessel. " "Ich danke", sagte Karl stockend. "Ich
kann nicht bleiben, so gern ich hier bliebe. Zu spät erfahre ich, daß es
so wohnliche Zimmer in diesem Hause gibt. " "Ich baue alles in
dieser Art um", sagte Mack.
In diesem Augenblick
erklangen zwölf Glockenschläge, rasch hintereinander, einer in den Lärm
des andern dreinschlagend, Karl fühlte das Wehen der großen Bewegung
dieser Glocken an den Wangen. Was war das für ein Dorf, das solche
Glocken hatte!
"Höchste
Zeit", sagte Karl, streckte Mack und Klara nur die Hände hin ohne
sie zu fassen und lief auf den Gang hinaus. Dort fand er die Laterne nicht
und bedauerte dem Diener zu bald das Trinkgeld gegeben zu haben. Er wollte
sich an der Wand zu der offenen Türe seines Zimmers hintasten, war aber
kaum in der Hälfte des Weges, als er Herrn Green mit erhobener Kerze
eilig heranschwanken sah. In der Hand, in der er die Kerze hielt, trug er
auch einen Brief.
"Roßmann warum
kommen Sie denn nicht? Warum lassen Sie mich warten? Was haben Sie denn
bei Fräulein Klara getrieben?" "Viele Fragen!" dachte
Karl, "und jetzt drückt er mich noch an die Wand", denn tatsächlich
stand er dicht vor Karl, der mit dem Rücken an der Wand lehnte. Green
nahm in diesem Gang eine schon lächerliche Größe an und Karl stellte
sich zum Spaß die Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunder
aufgefressen habe.
"Sie sind tatsächlich
kein Mann von Wort. Versprechen um zwölf Uhr hinunterzukommen und
umschleichen statt dessen die Tür Fräulein Klaras. Ich dagegen habe
Ihnen für Mitternacht etwas Interessantes versprochen und bin damit schon
da. "
Und damit reichte er Karl
den Brief. Auf dem Umschlag stand "An Karl Roßmann. Um Mitternacht
persönlich abzugeben, wo immer er angetroffen wird. " "Schließlich",
sagte Herr Green während Karl den Brief öffnete, "ist es, glaube
ich, schon anerkennenswert daß ich Ihretwegen aus Newyork hierhergefahren
bin, so daß Sie mich durchaus nicht noch auf den Gängen Ihnen nachlaufen
lassen müßten. "
"Vom Onkel!"
sagte Karl kaum, daß er in den Brief hineingeschaut hatte. "Ich habe
es erwartet", sagte er zu Herrn Green gewendet.
"Ob Sie es erwartet
haben oder nicht, ist mir kolossal gleichgiltig. Lesen Sie nur
schon", sagte dieser und hielt Karl die Kerze hin.
Karl las bei ihrem Licht:
Geliebter Neffe! Wie Du während unseres leider viel zu kurzen
Zusammenlebens schon erkannt haben wirst, bin ich durchaus ein Mann von
Principien. Das ist nicht nur für meine Umgebung sondern auch für mich
sehr unangenehm und traurig, aber ich verdanke meinen Principien alles was
ich bin und niemand darf verlangen daß ich mich vom Erdboden wegleugne,
niemand, auch Du nicht, mein geliebter Neffe, wenn auch Du gerade der
erste in der Reihe wärest, wenn es mir einmal einfallen sollte, jenen
allgemeinen Angriff gegen mich zuzulassen. Dann würde ich am liebsten
gerade Dich mit diesen beiden Händen mit denen ich das Papier halte und
beschreibe, auffangen und hochheben. Da aber vorläufig gar nichts darauf
hindeutet daß dies einmal geschehen könnte, muß ich Dich nach dem
heutigen Vorfall unbedingt von mir fortschicken und ich bitte Dich
dringend, mich weder selbst aufzusuchen, noch brieflich oder durch
Zwischenträger Verkehr mit mir zu suchen. Du hast Dich gegen meinen
Willen dafür entschieden, heute Abend von mir fortzugehn, dann bleibe
aber auch bei diesem Entschluß Dein Leben lang, nur dann war es ein männlicher
Entschluß. Ich erwählte zum Überbringer dieser Nachricht Herrn Green,
meinen besten Freund, der sicherlich für Dich genug schonende Worte
finden wird, die mir im Augenblick tatsächlich nicht zur Verfügung
stehn. Er ist ein einflußreicher Mann und wird Dich schon mir zu Liebe in
Deinen ersten selbständigen Schritten mit Rat und Tat unterstützen. Um
unsere Trennung zu begreifen, die mir jetzt am Schlusse dieses Briefes
wieder unfaßlich scheint, muß ich mir immer wieder neuerlich sagen: Von
Deiner Familie, Karl, kommt nichts Gutes. Sollte Herr Green vergessen, Dir
Deinen Koffer und Deinen Regenschirm auszuhändigen, so erinnere ihn
daran. Mit besten Wünschen für Dein weiteres Wohlergehn
Dein treuer Onkel Jakob.
"Sind Sie
fertig?" fragte Green. "Ja", sagte Karl, "haben Sie
mir den Koffer und den Regenschirm mitgebracht?" fragte Karl.
"Hier ist er", sagte Green und stellte Karls alten Reisekoffer,
den er bisher mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckt hatte,
neben Karl auf den Roden. "Und den Regenschirm" fragte Karl
weiter. "Alles hier", sagte Green und zog auch den Regenschirm
hervor, den er in einer Hosentasche hängen hatte. "Die Sachen hat
ein gewisser Schubal, ein Obermaschinist der Hamburg-Amerikalinie
gebracht, er hat behauptet sie auf dem Schiff gefunden zu haben. Sie können
ihm bei Gelegenheit danken. " "Nun habe ich wenigstens meine
alten Sachen wieder", sagte Karl und legte den Schirm auf den Koffer.
" Sie sollen aber besser in Zukunft auf sie achtgeben, läßt Ihnen
der Herr Senator sagen", bemerkte Herr Green und fragte dann offenbar
aus privater Neugierde: "Was ist das eigentlich für ein merkwürdiger
Koffer?" "Es ist ein Koffer, mit dem die Soldaten in meiner
Heimat zum Militär einrücken", antwortete Karl, "es ist der
alte Militärkoffer meines Vaters. Er ist sonst ganz praktisch. " Lächelnd
fügte er hinzu: "Vorausgesetzt daß man ihn nicht irgendwo stehn läßt."
"Schließlich sind Sie ja belehrt genug", sagte Herr Green,
"und einen zweiten Onkel haben Sie in Amerika wohl nicht. Hier gebe
ich Ihnen noch eine Karte Dritter nach San Francisko. Ich habe diese Reise
für Sie beschlossen, weil erstens die Erwerbsmöglichkeiten im Osten für
Sie viel bessere sind und weil zweitens hier in allen Dingen die für Sie
in Betracht kommen könnten, Ihr Onkel seine Hände im Spiele hat und ein
Zusammentreffen unbedingt vermieden werden muß. In Frisco können Sie
ganz ungestört arbeiten, fangen Sie nur ruhig ganz unten an und versuchen
Sie sich allmählich heraufzuarbeiten. "
Karl konnte keine Bosheit
aus diesen Worten heraushören, die schlimme Nachricht, welche den ganzen
Abend in Green gesteckt hatte, war überbracht und von nun an schien Green
ein ungefährlicher Mann, mit dem man vielleicht offener reden konnte, als
mit jedem andern. Der beste Mensch, der ohne eigene Schuld zum Roten einer
so geheimen und quälenden Entschließung auserwählt wird, muß, solange
er sie bei sich hält, verdächtig scheinen. "Ich werde", sagte
Karl, die Bestätigung eines erfahrenen Mannes erwartend, "dieses
Haus sofort verlassen, denn ich bin nur als Neffe meines Onkels
aufgenommen, während ich als Fremder hier nichts zu suchen habe. Würden
Sie so liebenswürdig sein, mir den Ausgang zu zeigen und mich dann auf
den Weg zu führen, auf dem ich zur nächsten Gastwirtschaft komme. "
"Aber rasch", sagte Green. "Sie machen mir nicht wenig
Scherereien. " Beim Anblick des großen Schrittes, den Green gleich
gemacht hatte, stockte Karl, das war doch eine verdächtige Eile und er faßte
Green unten beim Rock und sagte in einem plötzlichen Erkennen des wahren
Sachverhaltes: "Eines müssen Sie mir noch erklären. Auf dem
Umschlag des Briefes, den Sie mir zu übergeben hatten, steht bloß, daß
ich ihn um Mitternacht erhalten soll, wo immer ich angetroffen werde.
Warum haben Sie mich also mit Berufung auf diesen Brief hier zurückgehalten,
als ich um viertel zwölf von hier fort wollte? Sie giengen dabei über
Ihren Auftrag hinaus. " Green leitete seine Antwort mit einer
Handbewegung ein, welche das Unnütze von Karls Bemerkung übertrieben
darstellte, und sagte dann: "Steht vielleicht auf dem Umschlag daß
ich mich Ihretwegen zu Tode hetzen soll und läßt vielleicht der Inhalt
des Briefes darauf schließen, daß die Aufschrift so aufzufassen ist? Hätte
ich Sie nicht zurückgehalten, hätte ich Ihnen den Brief eben um
Mitternacht auf der Landstraße übergeben müssen."
"Nein", sagte Karl unbeirrt, "es ist nicht ganz so. Auf dem
Umschlag steht zu übergeben nach Mitternacht. Wenn Sie zu müde
waren, hätten Sie mir vielleicht gar nicht folgen können, oder ich wäre,
was allerdings selbst Herr Pollunder geleugnet hat, schon um Mitternacht
bei meinem Onkel angekommen oder es wäre schließlich Ihre Pflicht
gewesen, mich in Ihrem Automobil, von dem plötzlich nicht mehr die Rede
war, zu meinem Onkel zurückzubringen, da ich so danach verlangte, zurückzukehren.
Besagt nicht die Überschrift ganz deutlich, daß die Mitternacht für
mich noch der letzte Termin sein soll? Und Sie sind es, der die Schuld trägt,
daß ich ihn versäumt habe. "
Karl sah Green mit
scharfen Augen an und erkannte wohl wie in Green die Beschämung über
diese Entlarvung mit der Freude über das Gelingen seiner Absicht kämpfte.
Endlich nahm er sich zusammen, sagte in einem Tone, als wäre er Karl, der
doch schon lange schwieg, mitten in die Rede gefallen: "Kein Wort
weiter!" und schob ihn, der den Koffer und Schirm wieder aufgenommen
hatte, durch eine kleine Tür, die er vor ihm aufstieß, hinaus.
Karl stand erstaunt im
Freien. Eine an das Haus angebaute Treppe ohne Geländer führte vor ihm
hinab. Er mußte nur hinunter gehn und dann sich ein wenig rechts zur
Allee wenden, die auf die Landstraße führte. In dem hellen Mondschein
konnte man sich gar nicht verirren. Unten im Garten hörte er das
vielfache Bellen von Hunden, die losgelassen ringsherum im Dunkel der Bäume
liefen. Man hörte in der sonstigen Stille ganz genau wie sie nach ihren
großen Sprüngen ins Gras schlugen.
Ohne von diesen Hunden
belästigt zu werden, kam Karl glücklich aus dem Garten. Er konnte nicht
mit Bestimmtheit feststellen, in welcher Richtung Newyork lag, er hatte
bei der Herfahrt zu wenig auf die Einzelheiten geachtet, die ihm jetzt hätten
nützlich sein können. Schließlich sagte er sich, daß er ja nicht
unbedingt nach NewYork müsse, wo ihn niemand erwarte und einer sogar mit
Bestimmtheit nicht erwarte. Er wählte also eine beliebige Richtung und
machte sich auf den Weg.
IV
Der Marsch nach Ramses
In dem kleinen Wirtshaus,
in das Karl nach kurzem Marsche kam, und das eigentlich nur eine kleine
letzte Station des Newyorker Fuhrwerkverkehrs bildete und deshalb kaum für
Nachtlager benützt zu werden pflegte, verlangte Karl die billigste
Bettstelle, die zu haben war, denn er glaubte mit dem Sparen sofort
anfangen zu müssen. Er wurde seiner Forderung entsprechend vom Wirt mit
einem Wink, als sei er ein Angestellter, die Treppe hinaufgewiesen, wo ihn
ein zerrauftes altes Frauenzimmer, ärgerlich über den gestörten Schlaf,
empfieng und fast ohne ihn anzuhören mit ununterbrochenen Ermahnungen
leise aufzutreten, in ein Zimmer führte, dessen Tür sie, nicht ohne ihn
vorher mit einem Pst! angehaucht zu haben, schloß.
Karl wußte zuerst nicht
recht, ob die Fenstervorhänge bloß herabgelassen waren oder ob
vielleicht das Zimmer überhaupt keine Fenster habe, so finster war es;
schließlich bemerkte er eine kleine verhängte Luke, deren Tuch er
wegzog, wodurch einiges Licht hereinkam. Das Zimmer hatte zwei Betten, die
aber beide schon besetzt waren. Karl sah dort zwei junge Leute, die in
schwerem Schlafe dalagen und vor allem deshalb wenig vertrauenswürdig
erschienen, weil sie ohne verständlichen Grund angezogen schliefen, der
eine hatte sogar seine Stiefel an.
In dem Augenblick, als
Karl die Luke freigelegt hatte, hob einer der Schläfer die Arme und Beine
ein wenig in die Höhe, was einen derartigen Anblick bot, daß Karl trotz
seiner Sorgen in sich hineinlachte.
Er sah bald ein, daß er,
abgesehen davon, daß auch keine andere Schlafgelegenheit, weder Kanapee
noch Sopha, vorhanden war, zu keinem Schlafe werde kommen können, denn er
durfte seinen erst wiedergewonnenen Koffer und das Geld, das er bei sich
trug, keiner Gefahr aussetzen. Weggehn aber wollte er auch nicht, denn er
getraute sich nicht, an der Zimmerfrau und dem Wirt vorüber das Haus
wieder gleich zu verlassen. Schließlich war es ja hier doch vielleicht
nicht unsicherer als auf der Landstraße. Auffallend war freilich, daß im
ganzen Zimmer, soweit sich das bei dem halben Licht feststellen ließ,
kein einziges Gepäckstück zu entdecken war. Aber vielleicht und höchstwahrscheinlich
waren die zwei jungen Leute die Hausdiener, die der Gäste wegen bald
aufstehn mußten und deshalb angezogen schliefen. Dann war es allerdings
nicht besonders ehrenvoll mit ihnen zu schlafen, aber desto ungefährlicher.
Nur durfte er sich aber, solange das wenigstens nicht außer jedem Zweifel
war, auf keinen Fall zum Schlafe niederlegen.
Unten vor dem einen Bett
stand eine Kerze mit Zündhölzchen, die sich Karl mit schleichenden
Schritten holte. Er hatte keine Bedenken Licht zu machen, denn das Zimmer
gehörte nach Auftrag des Wirtes ihm ebenso gut wie den zwei andern, die
überdies den Schlaf der halben Nacht schon genossen hatten und durch den
Besitz der Betten ihm gegenüber in unvergleichlichem Vorteil waren. Im übrigen
gab er sich natürlich durch Vorsicht beim Herumgehn und Hantieren alle Mühe,
sie nicht zu wecken.
Zunächst wollte er
seinen Koffer untersuchen um einmal einen Überblick über seine Sachen zu
bekommen, an die er sich schon nur undeutlich erinnerte und von denen
sicher das Wertvollste schon verlorengegangen sein dürfte. Denn wenn der
Schubal seine Hand auf etwas legt, dann ist wenig Hoffnung, daß man es
unbeschädigt zurückbekommt. Allerdings hatte er vom Onkel ein großes
Trinkgeld erwarten können, während er aber anderseits wieder beim Fehlen
einzelner Objekte sich auf den eigentlichen Kofferwächter, den Herrn
Butterbaum hatte ausreden können.
Über den ersten Anblick
beim Öffnen des Koffers war Karl entsetzt. Wieviele Stunden hatte er während
der Überfahrt darauf verwendet, den Koffer zu ordnen und wieder neu zu
ordnen und jetzt war alles so wild durcheinander hineingestopft, daß der
Deckel beim Öffnen des Schlosses von selbst in die Höhe sprang. Bald
aber erkannte Karl zu seiner Freude, daß diese Unordnung nur darin ihren
Grund hatte, daß man seinen Anzug den er während der Fahrt getragen
hatte, und für den der Koffer natürlich nicht mehr berechnet gewesen
war, nachträglich mit eingepackt hatte. Nicht das geringste fehlte. In
der Geheimtasche des Rockes befand sich nicht nur der Paß sondern auch
das von zuhause mitgenommene Geld, sodaß Karl, wenn er jenes, das er bei
sich hatte, dazu legte, mit Geld für den Augenblick reichlich versehen
war. Auch die Wäsche, die er bei seiner Ankunft auf dem Leib getragen
hatte, fand sich vor, rein gewaschen und gebügelt. Er legte auch sofort
Uhr und Geld in die bewährte Geheimtasche. Das einzig Bedauerliche war,
daß die Veroneser Salami, die auch nicht fehlte, allen Sachen ihren
Geruch mitgeteilt hatte. Wenn sich das nicht durch irgendein Mittel
beseitigen ließ, hatte Karl die Aussicht monatelang in diesen Geruch
eingehüllt herumzugehn.
Beim Hervorsuchen einiger
Gegenstände die zu unterst lagen, es waren dies eine Taschenbibel,
Briefpapier und die Photographien der Eltern, fiel ihm die Mütze vom Kopf
und in den Koffer. In ihrer alten Umgebung erkannte er sie sofort, es war
seine Mütze, die Mütze, die ihm die Mutter als Reisemütze mitgegeben
hatte. Er hatte jedoch aus Vorsicht diese Mütze auf dem Schiff nicht
getragen, da er wußte, daß man in Amerika allgemein Mützen statt Hüte
trägt, weshalb er die seine nicht schon vor der Ankunft hatte abnützen
wollen. Nun hatte sie allerdings Herr Green dazu benützt um sich auf
Karls Kosten zu belustigen. Ob ihm dazu vielleicht der Onkel auch den
Auftrag gegeben hatte? Und in einer unabsichtlichen wütenden Bewegung faßte
er den Kofferdeckel, der laut zuklappte.
Nun war keine Hilfe mehr,
die beiden Schläfer waren geweckt. Zuerst streckte sich und gähnte der
eine, ihm folgte gleich der andere. Dabei war fast der ganze Kofferinhalt
auf dem Tisch ausgeschüttet, wenn es Diebe waren, brauchten sie nur
heranzutreten und auszuwählen. Nicht nur um dieser Möglichkeit
zuvorzukommen sondern um auch sonst gleich Klarheit zu schaffen, gieng
Karl mit der Kerze in der Hand zu den Betten und erklärte, mit welchem
Rechte er hier sei. Sie schienen diese Erklärung gar nicht erwartet zu
haben, denn noch viel zu verschlafen, um reden zu können, sahen sie ihn
bloß ohne jedes Erstaunen an. Sie waren beide sehr junge Leute, aber
schwere Arbeit oder Not hatten ihnen vorzeitig die Knochen aus den
Gesichtern vorgetrieben, unordentliche Bärte hiengen ihnen ums Kinn, ihr
schon lange nicht geschnittenes Haar lag ihnen zerfahren auf dem Kopf und
ihre tiefliegenden Augen rieben und drückten sie nun noch vor
Verschlafenheit mit den Fingerknöcheln.
Karl wollte ihren
augenblicklichen Schwächezustand ausnützen und sagte deshalb: "Ich
heiße Karl Roßmann und bin ein Deutscher. Bitte sagen Sie mir, da wir
doch ein gemeinsames Zimmer haben, auch Ihren Namen und Ihre Nationalität.
Ich erkläre nur noch gleich, daß ich keinen Anspruch auf ein Bett
erhebe, da ich so spät gekommen bin und überhaupt nicht die Absicht habe
zu schlafen. Außerdem müssen Sie sich nicht an meinem schönen Kleid stoßen,
ich bin vollständig arm und ohne Aussichten. "
Der Kleinere von beiden
– es war jener der die Stiefel anhatte – deutete mit Armen, Beinen und
Mienen an, daß ihn das alles gar nicht interessiere und daß jetzt überhaupt
keine Zeit für derartige Redensarten sei, legte sich nieder und schlief
sofort; der andere, ein dunkelhäutiger Mann, legte sich auch wieder
nieder, sagte aber noch vor dem Einschlafen mit lässig ausgestreckter
Hand: "Der da heißt Robinson und ist Irländer, ich heiße
Delamarche, bin Franzose und bitte jetzt um Ruhe." Kaum hatte er das
gesagt, blies er mit großem Atemaufwand Karls Kerze aus und fiel auf das
Kissen zurück.
"Diese Gefahr ist
also vorläufig abgewehrt", sagte sich Karl und kehrte zum Tisch zurück.
Wenn ihre Schläfrigkeit nicht Vorwand war, war ja alles gut. Unangenehm
war bloß, daß der eine ein Irländer war. Karl wußte nicht mehr genau,
in was für einem Buch er einmal zuhause gelesen hatte, daß man sich in
Amerika vor den Irländern hüten solle. Während seines Aufenthaltes beim
Onkel hätte er freilich die beste Gelegenheit gehabt, der Frage nach der
Gefährlichkeit der Irländer auf den Grund zu gehn, hatte dies aber, weil
er sich für immer gut aufgehoben geglaubt hatte, völlig versäumt. Nun
wollte er wenigstens mit der Kerze, die er wieder angezündet hatte,
diesen Irländer genauer ansehn, wobei er fand, daß gerade dieser erträglicher
aussah, als der Franzose. Er hatte sogar noch eine Spur von runden Wangen
und lächelte im Schlaf ganz freundlich, soweit das Karl aus einiger
Entfernung, auf den Fußspitzen stehend feststellen konnte.
Trotz allem fest
entschlossen, nicht zu schlafen, setzte sich Karl auf den einzigen Sessel
des Zimmers, verschob vorläufig das Packen des Koffers, da er ja dafür
die ganze Nacht noch verwenden konnte und blätterte ein wenig in der
Bibel, ohne etwas zu lesen. Dann nahm er die Photographie der Eltern zur
Hand, auf der der kleine Vater hoch aufgerichtet stand, während die
Mutter in dem Fauteuil vor ihm ein wenig eingesunken dasaß. Die eine Hand
hielt der Vater auf der Rückenlehne des Fauteuils, die andere zur Faust
geballt, auf einem illustrierten Buch, das aufgeschlagen auf einem
schwachen Schmucktischchen ihm zur Seite lag. Es gab auch eine
Photographie, auf welcher Karl mit seinen Eltern abgebildet war, Vater und
Mutter sahen ihn dort scharf an, während er nach dem Auftrag des
Photographen den Apparat hatte anschauen müssen. Diese Photographie hatte
er aber auf die Reise nicht mitbekommen.
Desto genauer sah er die
vor ihm liegende an und suchte von verschiedenen Seiten den Blick des
Vaters aufzufangen. Aber der Vater wollte, wie er auch den Anblick durch
verschiedene Kerzenstellungen änderte, nicht lebendiger werden, sein
wagrechter starker Schnurrbart sah der Wirklichkeit auch gar nicht ähnlich,
es war keine gute Aufnahme. Die Mutter dagegen war schon besser
abgebildet, ihr Mund war so verzogen, als sei ihr ein Leid angetan worden
und als zwinge sie sich zu lächeln. Karl schien es, als müsse dies jedem
der das Bild ansah, so sehr auffallen, daß es ihm im nächsten Augenblick
wieder schien, die Deutlichkeit dieses Eindrucks sei zu stark und fast
widersinnig. Wie könne man von einem Bild so sehr die unumstößliche Überzeugung
eines verborgenen Gefühls des Abgebildeten erhalten. Und er sah vom Bild
ein Weilchen lang weg. Als er mit den Blicken wieder zurückkehrte, fiel
ihm die Hand der Mutter auf, die ganz vorn an der Lehne des Fauteuils
herabhieng, zum Küssen nahe. Er dachte ob es nicht vielleicht doch gut wäre,
den Eltern zu schreiben, wie sie es ja tatsächlich beide und der Vater
zuletzt sehr streng in Hamburg von ihm verlangt hatten. Er hatte sich
freilich, damals, als ihm die Mutter am Fenster an einem schrecklichen
Abend die Amerika-Reise angekündigt hatte, unabänderlich zugeschworen,
niemals zu schreiben, aber was galt ein solcher Schwur eines unerfahrenen
Jungen hier in den neuen Verhältnissen. Ebenso gut hätte er damals schwören
können, daß er nach zwei Monaten amerikanischen Aufenthaltes General der
amerikanischen Miliz sein werde, während er tatsächlich in einer
Dachkammer mit zwei Lumpen beisammen war, in einem Wirtshaus vor Newyork
und außerdem zugeben mußte, daß er hier wirklich an seinem Platze war.
Und lächelnd prüfte er die Gesichter der Eltern, als könne man aus
ihnen erkennen, ob sie noch immer das Verlangen hatten, eine Nachricht von
ihrem Sohn zu bekommen.
In diesem Anschauen
merkte er bald, daß er doch sehr müde war und kaum die Nacht werde
durchwachen können. Das Bild entfiel seinen Händen, dann legte er das
Gesicht auf das Bild, dessen Kühle seiner Wange wohltat und mit einem
angenehmen Gefühle schlief er ein.
Geweckt wurde er früh
durch ein Kitzeln unter der Achsel. Es war der Franzose, der sich diese
Zudringlichkeit erlaubte. Aber auch der Irländer stand schon vor Karls
Tisch und beide sahen ihn mit keinem geringern Interesse an, als es Karl
in der Nacht ihnen gegenüber getan hatte. Karl wunderte sich nicht darüber,
daß ihn ihr Aufstehn nicht schon geweckt hatte; sie mußten durchaus
nicht aus böser Absicht besonders leise aufgetreten sein, denn er hatte
tief geschlafen und außerdem hatte ihnen das Anziehn und offenbar auch
das Waschen nicht viel Arbeit gemacht.
Nun begrüßten sie
einander ordentlich und mit einer gewissen Förmlichkeit und Karl erfuhr,
daß die zwei Maschinenschlosser waren, die in Newyork schon lange Zeit
keine Arbeit hatten bekommen können und infolgedessen ziemlich
heruntergekommen waren. Robinson öffnete zum Beweise dessen seinen Rock
und man konnte sehn, daß kein Hemd da war, was man allerdings auch schon
an dem lose sitzenden Kragen hätte erkennen können, der hinten am Rock
befestigt war. Sie hatten die Absicht in das zwei Tagereisen von Newyork
entfernte Städtchen Butterford zu marschieren, wo angeblich
Arbeitsstellen frei waren. Sie hatten nichts dagegen, daß Karl mitkomme
und versprachen ihm erstens zeitweilig seinen Koffer zu tragen und
zweitens, falls sie selbst Arbeit bekommen sollten, ihm eine
Lehrlingsstelle zu verschaffen, was wenn nur überhaupt Arbeit vorhanden
sei, eine Leichtigkeit wäre. Karl hatte noch kaum zugestimmt als sie ihm
schon freundschaftlich den Rat gaben, das schöne Kleid auszuziehn, da es
ihm bei jeder Bewerbung um eine Stelle hinderlich sein werde. Gerade in
diesem Hause sei eine gute Gelegenheit das Kleid los zu werden, denn die
Zimmerfrau betreibe einen Kleiderhandel. Sie halfen Karl, der auch rücksichtlich
des Kleides noch nicht ganz entschlossen war, aus dem Kleid heraus und
trugen es davon. Als Karl, allein gelassen und noch ein wenig
schlaftrunken, sein altes Reisekleid langsam anzog, machte er sich Vorwürfe
das Kleid verkauft zu haben, das ihm vielleicht bei der Bewerbung um eine
Lehrlingsstelle schaden, um einen bessern Posten aber nur nützen konnte
und er öffnete die Tür, um die zwei zurück zu rufen, stieß aber schon
mit ihnen zusammen, die einen halben Dollar als Erlös auf den Tisch
legten, dabei aber so fröhliche Gesichter machten, daß man sich unmöglich
dazu überreden konnte, sie hätten bei dem Verkauf nicht auch ihren
Verdienst gehabt undzwar einen ärgerlich großen.
Es war übrigens keine
Zeit sich darüber auszusprechen, denn die Zimmerfrau kam herein, genau so
verschlafen, wie in der Nacht, und trieb alle drei auf den Gang hinaus mit
der Erklärung, daß das Zimmer für neue Gäste hergerichtet werden müsse.
Davon war aber natürlich keine Rede, sie handelte nur aus Bosheit. Karl
der seinen Koffer gerade hatte ordnen wollen, mußte zusehn, wie die Frau
seine Sachen mit beiden Händen packte und mit einer Kraft in den Koffer
warf, als seien es irgendwelche Tiere, die man zum Kuschen bringen mußte.
Die beiden Schlosser machten sich zwar um sie zu schaffen, zupften sie an
ihrem Rock, beklopften ihren Rücken, aber wenn sie die Absicht hatten
Karl damit zu helfen, so war das ganz verfehlt. Als die Frau den Koffer
zugeklappt hatte, drückte sie Karl den Halter in die Hand, schüttelte
die Schlosser ab, und jagte alle drei mit der Drohung aus dem Zimmer, daß
sie, wenn sie nicht folgten, keinen Kaffee bekommen würden. Die Frau mußte
offenbar gänzlich daran vergessen haben, daß Karl nicht von allem Anfang
an zu den Schlossern gehört hatte, denn sie behandelte sie als eine
einzige Bande. Allerdings hatten die Schlosser Karls Kleid ihr verkauft
und damit eine gewisse Gemeinsamkeit erwiesen.
Auf dem Gange mußten sie
lange hin und her gehn und besonders der Franzose, der sich in Karl eingehängt
hatte, schimpfte ununterbrochen, drohte den Wirt, wenn er sich vorwagen
sollte, niederzuboxen und es schien eine Vorbereitung dazu zu sein, daß
er die geballten Fäuste rasend an einander rieb. Endlich kam ein
unschuldiger kleiner Junge, der sich strecken mußte als er dem Franzosen
die Kaffeekanne reichte. Leider war nur eine Kanne vorhanden und man
konnte dem Jungen nicht begreiflich machen, daß noch Gläser erwünscht wären.
So konnte immer nur einer trinken und die zwei andern standen vor ihm und
warteten. Karl hatte keine Lust zu trinken, wollte aber die andern nicht
kränken und stand also, wenn er an der Reihe war untätig da, die Kanne
an den Lippen.
Zum Abschied warf der Irländer
die Kanne auf die steinernen Fliesen hin, sie verließen von niemandem
gesehn das Haus und traten in den dichten gelblichen Morgennebel. Sie
marschierten im allgemeinen still nebeneinander am Rande der Straße, Karl
mußte seinen Koffer tragen, die andern würden ihn wahrscheinlich erst
auf seine Bitte ablösen, hie und da schoß ein Automobil aus dem Nebel
und die drei drehten ihre Köpfe nach den meist riesenhaften Wagen, die so
auffällig in ihrem Bau und so kurz in ihrer Erscheinung waren, daß man
nicht Zeit hatte, auch nur das Vorhandensein von Insassen zu bemerken. Später
begannen die Kolonnen der Fuhrwerke, welche Lebensmittel nach New York
brachten, und die in fünf die ganze Breite der Straße einnehmenden
Reihen so ununterbrochen dahinzogen, daß niemand die Straße hätte überqueren
können. Von Zeit zu Zeit verbreiterte sich die Straße zu einem Platz, in
dessen Mitte auf einer turmartigen Erhöhung ein Polizist auf und ab
schritt, um alles übersehen und mit einem Stöckchen den Verkehr auf der
Hauptstraße sowie den von den Seitenstraßen hier einmündenden Verkehr
ordnen zu können, der dann bis zum nächsten Platze und zum nächsten
Policisten unbeaufsichtigt blieb, aber von den schweigenden und
aufmerksamen Kutschern und Chauffeuren freiwillig in genügender Ordnung
gehalten wurde. Über die allgemeine Ruhe staunte Karl am meisten. Wäre
nicht das Geschrei der sorglosen Schlachttiere gewesen, man hätte
vielleicht nichts gehört als das Klappern der Hufe und das Sausen der
Antiderapants. Dabei war die Fahrtschnelligkeit natürlich nicht immer die
gleiche. Wenn auf einzelnen Plätzen infolge allzu großen Andranges von
den Seiten große Umstellungen vorgenommen werden mußten, stockten die
ganzen Reihen und fuhren nur Schritt für Schritt, dann aber kam es auch
wieder vor, daß für ein Weilchen alles blitzschnell vorbeijagte, bis es
wie von einer einzigen Bremse regiert sich wieder besänftigte. Dabei
stieg von der Straße nicht der geringste Staub auf, alles bewegte sich in
der klarsten Luft. Fußgänger gab es keine, hier wanderten keine
einzelnen Marktweiber zur Stadt, wie in Karls Heimat, aber doch erschienen
hie und da große flache Automobile, auf denen an zwanzig Frauen mit Rückenkörben,
also doch vielleicht Marktweiber, standen und die Hälse streckten, um den
Verkehr zu überblicken und sich Hoffnung auf raschere Fahrt zu holen.
Dann sah man ähnliche Automobile, auf denen einzelne Männer die Hände
in den Hosentaschen herumspazierten. Auf einem dieser Automobile die
verschiedene Aufschriften trugen, las Karl unter einem kleinen Aufschrei
"Hafenarbeiter für die Spedition Jakob aufgenommen". Der Wagen
fuhr gerade ganz langsam und ein auf der Wagentreppe stehender kleiner gebückter
lebhafter Mann lud die drei Wanderer zum Einsteigen ein. Karl flüchtete
sich hinter die Schlosser, als könne sich auf dem Wagen der Onkel
befinden und ihn sehn. Er war froh, daß auch die zwei die Einladung
ablehnten, wenn ihn auch der hochmütige Gesichtsausdruck gewissermaßen
kränkte, mit dem sie das taten. Sie mußten durchaus nicht glauben, daß
sie zu gut waren, um in die Dienste des Onkels zu treten. Er gab es ihnen,
wenn auch natürlich nicht ausdrücklich, sofort zu verstehn. Darauf bat
ihn Delamarche sich gefälligst nicht in Sachen einzumischen, die er nicht
verstehe, diese Art Leute aufzunehmen sei ein schändlicher Betrug und die
Firma Jakob sei berüchtigt in den ganzen Vereinigten Staaten. Karl
antwortete nicht, hielt sich aber von nun an mehr an den Irländer, er bat
ihn auch ihm jetzt ein wenig den Koffer zu tragen, was dieser nachdem Karl
seine Bitte mehrmals wiederholt hatte, auch tat. Nur klagte er
ununterbrochen über die Schwere des Koffers, bis es sich zeigte, daß er
nur die Absicht hatte, den Koffer um die Veroneser Salami zu erleichtern,
die ihm wohl schon im Hotel angenehm aufgefallen war. Karl mußte sie
auspacken, der Franzose nahm sie zu sich, um sie mit seinem dolchartigen
Messer zu behandeln und fast ganz allein aufzuessen. Robinson bekam nur
hie und da eine Schnitte, Karl dagegen, der wieder den Koffer tragen mußte,
wenn er ihn nicht auf der Landstraße stehen lassen wollte, bekam nichts,
als hätte er seinen Anteil schon im Voraus sich genommen. Es schien ihm
zu kleinlich, um ein Stückchen zu betteln, aber die Galle regte sich ihm.
Aller Nebel war schon
verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem
Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte. An der Seite der Straße lagen
schlecht bebaute Felder, die sich um große Fabriken hinzogen, die dunkel
angeraucht im freien Lande standen. In den wahllos hingestellten einzelnen
Mietskasernen zitterten die vielen Fenster in der mannigfaltigsten
Bewegung und Beleuchtung und auf allen den kleinen schwachen Balkonen
hatten Frauen und Kinder vielerlei zu tun, während um sie herum, sie
verdeckend und enthüllend, aufgehängte und hingelegte Tücher und Wäschestücke
im Morgenwind flatterten und mächtig sich bauschten. Glitten die Blicke
von den Häusern ab, dann sah man Lerchen hoch am Himmel fliegen und unten
wieder die Schwalben nicht allzuweit über den Köpfen der Fahrenden.
Vieles erinnerte Karl an
seine Heimat und er wußte nicht, ob er gut daran tue, New-York zu
verlassen und in das Innere des Landes zu gehn. In New-York war das Meer
und zu jeder Zeit die Möglichkeit der Rückkehr in die Heimat. Und so
blieb er stehn und sagte zu seinen beiden Begleitern, er habe doch wieder
Lust in New York zu bleiben. Und als Delamarche ihn einfach weitertreiben
wollte, ließ er sich nicht treiben und sagte, daß er doch wohl noch das
Recht habe über sich zu entscheiden. Der Irländer mußte erst vermitteln
und erklären, daß Butterford viel schöner als Newyork sei und beide mußten
ihn noch sehr bitten, ehe er wieder weiter gieng. Und selbst dann wäre er
noch nicht gegangen, wenn er sich nicht gesagt hätte, daß es für ihn
vielleicht besser sei, an einen Ort zu kommen, wo die Möglichkeit der Rückkehr
in die Heimat keine so leichte sei. Gewiß werde er dort besser arbeiten
und vorwärtskommen, da ihn keine unnützen Gedanken hindern werden.
Und nun war er es, der
die beiden andern zog und sie freuten sich so sehr über seinen Eifer, daß
sie ohne sich erst bitten zu lassen, den Koffer abwechselnd trugen und
Karl gar nicht recht verstand, womit er ihnen eigentlich diese große
Freude verursache. Sie kamen in eine ansteigende Gegend und wenn sie hie
und da stehen blieben, konnten sie beim Rückblick das Panorama New Yorks
und seines Hafens immer ausgedehnter sich entwickeln sehn. Die Brücke,
die New York mit Boston verbindet hieng zart über den Hudson und sie
erzitterte, wenn man die Augen klein machte. Sie schien ganz ohne Verkehr
zu sein und unter ihr spannte sich das unbelebte glatte Wasserband. Alles
in beiden Riesenstädten schien leer und nutzlos aufgestellt. Unter den Häusern
gab es kaum einen Unterschied zwischen den großen und den kleinen. In der
unsichtbaren Tiefe der Straßen gieng wahrscheinlich das Leben fort nach
seiner Art, aber über ihnen war nichts zu sehen, als leichter Dunst, der
sich zwar nicht bewegte, aber ohne Mühe zu verjagen schien. Selbst in dem
Hafen, dem größten der Welt, war Ruhe eingekehrt und nur hie und da
glaubte man, wohl beeinflußt von der Erinnerung an einen früheren
Anblick aus der Nähe, ein Schiff zu sehn, das eine kurze Strecke sich
fortschob. Aber man konnte ihm auch nicht lange folgen, es entgieng den
Augen und war nicht mehr zu finden.
Aber Delamarche und
Robinson sahen offenbar viel mehr, sie zeigten rechts und links und überwölbten
mit den ausgestreckten Händen Plätze und Gärten die sie mit Namen
benannten. Sie konnten es nicht begreifen, daß Karl über zwei Monate in
New York gewesen war und kaum etwas anderes von der Stadt gesehen hatte,
als eine Straße. Und sie versprachen ihm, wenn sie in Butterford genug
verdient hätten, mit ihm nach New York zu gehn und ihm alles Sehenswerte
zu zeigen und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo man sich
bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluß daran mit
vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen
begleitete, das Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte
die ihm hier mit dem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je
zuhause gefallen hatte. So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an
der alle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die sich angeblich bei dieser
Melodie unterhielt, schien gar nichts davon zu wissen.
Einmal fragte Karl, wo
denn die Spedition Jakob liege, und sofort sah er Delamarches und
Robinsons ausgestreckte Zeigefinger, vielleicht auf den gleichen,
vielleicht auf meilenweit entfernte Punkte gerichtet. Als sie dann
weitergiengen, fragte Karl, wann sie frühestens mit genügendem Verdienst
nach New York zurückkehren könnten. Delamarche sagte, das könne schon
ganz gut in einem Monat sein, denn in Butterford sei Arbeitermangel und
die Löhne seien hoch. Natürlich würden sie ihr Geld in eine gemeinsame
Kassa legen, damit zufällige Unterschiede im Verdienst unter ihnen als
Kameraden ausgeglichen würden. Die gemeinsame Kassa gefiel Karl nicht,
trotzdem er als Lehrling natürlich weniger verdienen würde, als
ausgelernte Arbeiter. Überdies erwähnte Robinson, daß sie natürlich
wenn in Butterford keine Arbeit wäre, weiter wandern müßten, entweder
um als Landarbeiter irgendwo unterzukommen oder vielleicht nach
Kalifornien in die Goldwäschereien zu gehn, was nach Robinsons ausführlichen
Erzählungen zu schließen, sein liebster Plan war. "Warum sind Sie
denn Schlosser geworden, wenn Sie jetzt in die Goldwäschereien wollen?
" fragte Karl, der ungern von der Notwendigkeit solcher weiter
unsicherer Reisen hörte. "Warum ich Schlosser geworden bin?"
sagte Robinson, "doch gewiß nicht deshalb, damit meiner Mutter Sohn
dabei verhungert. In den Goldwäschereien ist ein feiner Verdienst. "
"War einmal", sagte Delamarche. "Ist noch immer",
sagte Robinson und erzählte von vielen dabei reich gewordenen Bekannten,
die noch immer dort waren, natürlich keinen Finger mehr rührten, ihm
aber aus alter Freundschaft und selbstverständlich auch seinen Kameraden
zu Reichtum verhelfen würden. "Wir werden schon in Butterford
Stellen erzwingen", sagte Delamarche und sprach damit Karl aus der
Seele, aber eine zuversichtliche Ausdrucksweise war es nicht.
Während des Tages
machten sie nur einmal in einem Wirtshaus Halt und aßen davor im Freien
an einem, wie es Karl schien, eisernen Tisch fast rohes Fleisch, das man
mit Messer und Gabel nicht zerschneiden, sondern nur zerreißen konnte.
Das Brot hatte eine walzenartige Form und in jedem Brotlaib steckte ein
langes Messer. Zu diesem Essen wurde eine schwarze Flüssigkeit gereicht,
die im Halse brannte. Delamarche und Robinson schmeckte sie aber, sie
erhoben oft auf die Erfüllung verschiedener Wünsche ihre Gläser und
stießen mit einander an, wobei sie ein Weilchen lang in der Höhe Glas an
Glas hielten. An Nebentischen saßen Arbeiter in kalkbespritzten Blusen
und alle tranken die gleiche Flüssigkeit. Automobile, die in Mengen vorüberfuhren,
warfen Schwaden von Staub über die Tische hin. Große Zeitungsblätter
wurden herumgereicht, man sprach erregt vom Streik der Bauarbeiter, der
Name Mack wurde öfters genannt, Karl erkundigte sich über ihn und
erfuhr, daß dies der Vater des ihm bekannten Mack und der größte
Bauunternehmer von New-York war. Der Streik kostete ihn Millionen und
bedrohte vielleicht seine geschäftliche Stellung. Karl glaubte kein Wort
von diesem Gerede schlecht unterrichteter übelwollender Leute.
Verbittert wurde das
Essen für Karl außerdem dadurch, daß es sehr fraglich war, wie das
Essen gezahlt werden sollte. Das Natürliche wäre gewesen, daß jeder
seinen Teil gezahlt hätte, aber Delamarche wie auch Robinson hatten
gelegentlich bemerkt, daß für das letzte Nachtlager ihr letztes Geld
aufgegangen war. Uhr, Ring oder sonst etwas Veräußerbares war an keinem
zu sehn. Und Karl konnte ihnen doch nicht vorhalten, daß sie an dem
Verkauf seiner Kleider etwas verdient hätten, das wäre doch Beleidigung
und Abschied für immer gewesen. Das Erstaunliche aber war, daß weder
Delamarche noch Robinson irgendwelche Sorgen wegen der Bezahlung hatten,
vielmehr hatten sie gute Laune genug, möglichst oft Anknüpfungen mit der
Kellnerin zu versuchen, die stolz und mit schwerem Gang zwischen den
Tischen hin- und hergieng. Ihr Haar gieng ihr von den Seiten ein wenig
lose in Stirn und Wangen und sie strich es immer wieder zurück, indem sie
mit den Händen darunter hinfuhr. Schließlich als man vielleicht das
erste freundliche Wort von ihr erwartete, trat sie zum Tisch, legte beide
Hände auf ihn und fragte: "Wer zahlt?" Nie waren Hände rascher
aufgeflogen, als jetzt jene von Delamarche und Robinson, die auf Karl
zeigten. Karl erschrak darüber nicht, denn er hatte es ja vorausgesehn
und sah nichts Schlimmes darin, daß die Kameraden, von denen er ja auch
Vorteile erwartete, einige Kleinigkeiten von ihm bezahlen ließen, wenn es
auch anständiger gewesen wäre, diese Sache vor dem entscheidenden
Augenblick ausdrücklich zu besprechen. Peinlich war bloß, daß er das
Geld erst aus der Geheimtasche heraufbefördern mußte. Seine ursprüngliche
Absicht war es gewesen, das Geld für die letzte Not aufzuheben und sich
also vorläufig mit seinen Kameraden gewissermaßen in eine Reihe zu
stellen. Der Vorteil, den er durch dieses Geld und vor allem durch das
Verschweigen des Besitzes gegenüber den Kameraden erlangte, wurde für
diese mehr als reichlich dadurch aufgewogen, daß sie schon seit ihrer
Kindheit in Amerika waren, daß sie genügende Kenntnisse und Erfahrungen
für Gelderwerb hatten und daß sie schließlich an bessere Lebensverhältnisse,
als ihre gegenwärtigen nicht gewöhnt waren. Diese bisherigen Absichten
die Karl rücksichtlich seines Geldes hatte, mußten an und für sich
durch diese Bezahlung nicht gestört werden, denn ein Viertelpfund konnte
er schließlich entbehren und deshalb also ein Viertelpfundstück auf den
Tisch legen und erklären, dies sei sein einziges Eigentum und er sei
bereit, es für die gemeinsame Reise nach Butterford zu opfern. Für die
Fußreise genügte auch ein solcher Betrag vollkommen. Nun aber wußte er
nicht, ob er genügendes Kleingeld hatte und überdies lag dieses Geld
sowie die zusammengelegten Banknoten irgendwo in der Tiefe der
Geheimtasche, in der man eben am besten etwas fand, wenn man den ganzen
Inhalt auf den Tisch schüttete. Außerdem war es höchst unnötig, daß
die Kameraden von dieser Geheimtasche überhaupt etwas erfuhren. Nun
schien es zum Glück, daß die Kameraden sich noch immer mehr für die
Kellnerin interessierten, als dafür wie Karl das Geld für die Bezahlung
zusammenbrächte. Delamarche lockte die Kellnerin durch die Aufforderung,
die Rechnung aufzustellen zwischen sich und Robinson und sie konnte die
Zudringlichkeiten der beiden nur dadurch abwehren, daß sie einem oder dem
andern die ganze Hand auf das Gesicht legte und ihn wegschob. Inzwischen
sammelte Karl heiß vor Anstrengung unter der Tischplatte in der einen
Hand das Geld, das er mit der andern Stück für Stück in der
Geheimtasche herumjagte und herausholte. Endlich glaubte er, trotzdem er
das amerikanische Geld noch nicht genau kannte, er hätte wenigstens der
Menge der Stücke nach eine genügende Summe und legte sie auf den Tisch.
Der Klang des Geldes unterbrach sofort die Scherze. Zu Karls Ärger und zu
allgemeinem Erstaunen zeigte sich, daß da fast ein ganzes Pfund dalag.
Keiner fragte zwar, warum Karl von dem Gelde, das für eine bequeme
Eisenbahnfahrt nach Butterford gereicht hätte, früher nichts gesagt
hatte, aber Karl war doch in großer Verlegenheit. Langsam strich er,
nachdem das Essen bezahlt worden war, das Geld wieder ein, noch aus seiner
Hand nahm Delamarche ein Geldstück, das er für die Kellnerin als
Trinkgeld brauchte, die er umarmte und an sich drückte, um ihr dann von
der andern Seite her das Geld zu überreichen.
Karl war ihnen auch
dankbar, daß sie auf dem Weitermarsch über das Geld keine Bemerkungen
machten und er dachte sogar eine Zeitlang daran ihnen sein ganzes Vermögen
einzugestehn, unterließ das aber doch, da sich keine rechte Gelegenheit
fand. Gegen Abend kamen sie in eine mehr ländliche fruchtbare Gegend.
Ringsherum sah man ungeteilte Felder die sich in ihrem ersten Grün über
sanfte Hügel legten, reiche Landsitze umgrenzten die Straße und
stundenlang gieng man zwischen den vergoldeten Gittern der Gärten,
mehrmals kreuzten sie den gleichen langsam fließenden Strom und viele mal
hörten sie über sich die Eisenbahnzüge auf den hoch sich schwingenden
Viadukten donnern.
Eben gieng die Sonne an
dem geraden Rande ferner Wälder nieder, als sie sich auf einer Anhöhe in
mitten einer kleinen Baumgruppe ins Gras hinwarfen, um sich von den
Strapazen auszuruhn. Delamarche und Robinson lagen da und streckten sich
nach Kräften, Karl saß aufrecht und sah auf die paar Meter tiefer führende
Straße auf der immer wieder Automobile, wie schon während des ganzen
Tags, leicht an einander vorübereilten, als würden sie in genauer Anzahl
immer wieder von der Ferne abgeschickt und in der gleichen Anzahl in der
andern Ferne erwartet. Während des ganzen Tages seit dem frühesten
Morgen hatte Karl kein Automobil halten, keinen Passagier aussteigen
gesehn.
Robinson machte den
Vorschlag die Nacht hier zu verbringen, da sie alle genug müde wären, da
sie dann desto früher ausmarschieren könnten und da sie schließlich
kaum ein billigeres und besser gelegenes Nachtlager vor Einbruch völliger
Dunkelheit finden könnten. Delamarche war einverstanden und nur Karl
glaubte zu der Bemerkung verpflichtet zu sein, daß er genug Geld habe um
das Nachtlager für alle auch in einem Hotel zu bezahlen. Delamarche
sagte, sie würden das Geld noch brauchen, er solle es nur gut aufheben.
Delamarche verbarg nicht im geringsten, daß man mit Karls Gelde schon
rechnete. Da sein erster Vorschlag angenommen war erklärte nun Robinson
weiter, nun müßten sie aber vor dem Schlafen, um sich für morgen zu kräftigen,
etwas Tüchtiges essen und einer solle das Essen für alle aus dem Hotel
holen, das in nächster Nähe an der Landstraße mit der Aufschrift
"Hotel occidental" leuchtete. Als der Jüngste und da sich auch
sonst niemand meldete, zögerte Karl nicht sich für diese Besorgung
anzubieten und gieng, nachdem er eine Bestellung auf Speck, Brot und Bier
erhalten hatte, ins Hotel hinüber.
Es mußte eine große
Stadt in der Nähe sein, denn gleich der erste Saal des Hotels, den Karl
betrat, war von einer lauten Menge erfüllt und an dem Buffet das sich an
einer Längswand und an den zwei Seitenwänden hinzog, liefen unaufhörlich
viele Kellner mit weißen Schürzen vor der Brust und konnten doch die
ungeduldigen Gäste nicht zufriedenstellen, denn immer wieder hörte man
an den verschiedensten Stellen Flüche und Fäuste die auf den Tisch
schlugen. Karl wurde von niemandem beachtet; es gab auch im Saale selbst
keine Bedienung, die Gäste, die an winzigen, bereits zwischen drei
Tischnachbarn verschwindenden Tischen saßen, holten alles, was sie wünschten
beim Buffet. Auf allen Tischchen stand eine große Flasche mit Öl, Essig
oder dergleichen und alle Speisen, die vom Buffet geholt wurden, wurden
vor dem Essen aus dieser Flasche übergossen. Wollte Karl überhaupt erst
zum Buffet kommen, wo ja dann wahrscheinlich, besonders bei seiner großen
Bestellung, die Schwierigkeiten erst beginnen würden, mußte er sich
zwischen vielen Tischen durchdrängen, was natürlich bei aller Vorsicht
nicht ohne grobe Belästigung der Gäste durchzuführen war, die jedoch
alles wie gefühllos hinnahmen, selbst als Karl einmal allerdings
gleichfalls von einem Gast gegen ein Tischchen gestoßen worden war, das
er fast umgeworfen hätte. Er entschuldigte sich zwar, wurde aber offenbar
nicht verstanden, verstand übrigens auch nicht das geringste von dem was
man ihm zurief.
Beim Buffet fand er mit Mühe
ein kleines freies Plätzchen, auf dem ihm eine lange Weile die Aussicht
durch die aufgestützten Elbogen seiner Nachbarn genommen war. Es schien
hier überhaupt eine Sitte, die Elbogen aufzustützen und die Faust an die
Schläfe zu drücken; Karl mußte daran denken, wie der Lateinprofessor
Dr. Krumpal gerade diese Haltung gehaßt hatte und wie er immer heimlich
und unversehens herangekommen war und mittels eines plötzlich
erscheinenden Lineals mit schmerzhaftem Ruck die Elbogen von den Tischen
gestreift hatte.
Karl stand eng ans Büffet
gedrängt, denn kaum hatte er sich angestellt, war hinter ihm ein Tisch
aufgestellt worden und der eine der dort sich niederlassenden Gäste
streifte schon, wenn er sich nur ein wenig beim Reden zurückbog, mit
seinem großen Hut Karls Rücken. Und dabei war so wenig Hoffnung vom
Kellner etwas zu bekommen, selbst als die beiden plumpen Nachbarn
befriedigt weggegangen waren. Einigemal hatte Karl einen Kellner über den
Tisch hin bei der Schürze gefaßt, aber immer hatte sich der mit
verzerrtem Gesicht losgerissen. Keiner war zu halten, sie liefen nur und
liefen nur. Wenn wenigstens in der Nähe Karls etwas Passendes zum Essen
und Trinken gewesen wäre, er hätte es genommen, sich nach dem Preis
erkundigt, das Geld hingelegt und wäre mit Freude weggegangen. Aber
gerade vor ihm lagen nur Schüsseln mit häringsartigen Fischen, deren
schwarze Schuppen am Rande goldig glänzten. Die konnten sehr teuer sein
und würden wahrscheinlich niemanden sättigen. Außerdem waren kleine Fäßchen
mit Rum erreichbar, aber Rum wollte er seinen Kameraden nicht bringen, sie
schienen schon so wie so bei jeder Gelegenheit nur auf den
koncentriertesten Alkohol auszugehn und darin wollte er sie nicht noch
unterstützen.
Es blieb also Karl nichts
übrig als einen andern Platz zu suchen und mit seinen Bemühungen von
vorne anzufangen. Nun war aber auch schon die Zeit sehr vorgerückt. Die
Uhr am andern Ende des Saales, deren Zeiger man beim scharfen Hinsehn
durch den Rauch gerade noch erkennen konnte, zeigte schon neun vorüber.
Anderswo am Buffet war aber das Gedränge noch größer als an dem früheren
ein wenig abgelegenen Platz. Außerdem füllte sich der Saal desto mehr,
je später es wurde. Immer wieder zogen durch die Haupttüre mit großem
Halloh neue Gäste ein. An manchen Stellen räumten Gäste selbstherrlich
das Buffet ab, setzten sich aufs Pult und tranken einander zu; es waren
die besten Plätze, man übersah den ganzen Saal.
Karl drängte sich zwar
noch weiter durch, aber eine eigentliche Hoffnung etwas zu erreichen hatte
er nicht mehr. Er machte sich Vorwürfe darüber, daß er, der die
hiesigen Verhältnisse nicht kannte, sich zu dieser Besorgung angeboten
hatte. Seine Kameraden würden ihn mit vollem Recht auszanken und gar noch
denken, daß er nur um Geld zu sparen nichts mitgebracht hatte. Nun stand
er gar in einer Gegend wo ringsherum an den Tischen warme Fleischspeisen
mit schönen gelben Kartoffeln gegessen wurden, es war ihm unbegreiflich
wie sich das die Leute verschafft hatten.
Da sah er paar Schritte
vor sich eine ältere offenbar zum Hotelpersonal gehörige Frau, die
lachend mit einem Gast redete. Dabei arbeitete sie fortwährend mit einer
Haarnadel in ihrer Frisur herum. Sofort war Karl entschlossen seine
Bestellung bei dieser Frau vorzubringen, schon weil sie ihm als die
einzige Frau im Saal eine Ausnahme vom allgemeinen Lärm und Jagen
bedeutete und dann auch aus dem einfachern Grunde, weil sie die einzige
Hotelangestellte war, die man erreichen konnte, vorausgesetzt allerdings
daß sie nicht beim ersten Wort, das er an sie richten würde, in Geschäften
fortlief. Aber ganz das Gegenteil trat ein. Karl hatte sie noch gar nicht
angeredet, sondern nur ein wenig belauert, als sie, wie man eben manchmal
mitten im Gespräch beiseite schaut, zu Karl hinsah und ihn, ihre Rede
unterbrechend, freundlich und in einem Englisch klar wie die Grammatik
fragte, ob er etwas suche. "Allerdings", sagte Karl, "ich
kann hier gar nichts bekommen. " "Dann kommen Sie mit mir
Kleiner", sagte sie, verabschiedete sich von ihrem Bekannten, der
seinen Hut abnahm, was hier wie unglaubliche Höflichkeit erschien, faßte
Karl bei der Hand, gieng zum Buffet, schob einen Gast beiseite, öffnete
eine Klapptür im Pult, durchquerte mit Karl den Gang hinter dem Pult, wo
man sich vor den unermüdlich laufenden Kellnern in Acht nehmen mußte, öffnete
eine zweifache Tapetentüre und schon befanden sie sich in großen kühlen
Vorratskammern. "Man muß eben den Mechanismus kennen", sagte
sich Karl.
"Also was wollen Sie
denn?" fragte sie und beugte sich dienstbereit zu ihm herab. Sie war
sehr dick, ihr Leib schaukelte sich, aber ihr Gesicht hatte eine, natürlich
im Verhältnis, fast zarte Bildung. Karl war versucht im Anblick der
vielen Eßwaren, die hier sorgfältig in Regalen und auf Tischen
aufgeschichtet lagen, für seine Bestellung rasch ein feineres Nachtessen
auszudenken, besonders da er erwarten konnte von dieser einflußreichen
Frau billig bedient zu werden, schließlich aber nannte er doch wieder, da
ihm nichts passendes einfiel, nur Speck, Brot und Bier. "Nichts
weiter? " fragte die Frau. "Nein danke", sagte Karl,
"aber für drei Personen. " Auf die Frage der Frau nach den zwei
andern, erzählte Karl in paar kurzen Worten von seinen Kameraden, es
machte ihm Freude, ein wenig ausgefragt zu werden.
"Aber das ist ja ein
Essen für Sträflinge", sagte die Frau und erwartete nun offenbar
weitere Wünsche Karls. Dieser aber fürchtete nun, sie werde ihn
beschenken und kein Geld annehmen wollen und schwieg deshalb. "Das
werden wir gleich zusammengestellt haben", sagte die Frau, gieng mit
einer bei ihrer Dicke bewunderungswerten Beweglichkeit zu einem Tisch hin,
schnitt mit einem langen dünnen, sägeblattartigen Messer ein großes Stück
mit viel Fleisch durchwachsenen Specks ab, nahm aus einem Regal ein Laib
Brot, hob vom Boden drei Flaschen Bier auf und legte alles in einen
leichten Strohkorb, den sie Karl reichte. Zwischendurch erklärte sie
Karl, sie habe ihn deshalb hierhergeführt, weil die Eßwaren draußen im
Buffet im Rauch und in den vielen Ausdünstungen trotz des schnellen
Verbrauches immer die Frische verlieren. Für die Leute draußen sei aber
alles gut genug. Karl sagte nun gar nichts mehr, denn er wußte nicht,
wodurch er diese auszeichnende Behandlung verdiene. Er dachte an seine
Kameraden, die vielleicht, so gute Kenner Amerikas sie auch waren, doch
nicht bis in diese Vorratskammern gedrungen wären und sich mit den
verdorbenen Eßwaren auf dem Buffet hätten begnügen müssen. Man hörte
hier keinen Laut aus dem Saal, die Mauern mußten sehr dick sein, um diese
Gewölbe genügend kühl zu erhalten. Karl hatte schon den Strohkorb ein
Weilchen lang in der Hand, dachte aber nicht an Zahlen und rührte sich
auch nicht. Nur als die Frau noch nachträglich eine Flasche, ähnlich
denen, die draußen auf den Tischen standen, in den Korb legen wollte,
dankte er schaudernd.
"Haben Sie noch
einen weiten Marsch" fragte die Frau. "Bis nach
Butterford", antwortete Karl. "Das ist noch sehr weit",
sagte die Frau. "Noch eine Tagereise", sagte Karl. "Nicht
weiter?" fragte die Frau. "Oh nein", sagte Karl.
Die Frau rückte einige
Sachen auf den Tischen zurecht, ein Kellner kam herein, schaute suchend
herum, wurde dann von der Frau auf eine große Schüssel hingewiesen in
der ein breiter mit ein wenig Petersilie bestreuter Haufen von Sardinen
lag, und trug dann diese Schüssel in den erhobenen Händen in den Saal
hinaus.
"Warum wollen Sie
denn eigentlich im Freien übernachten?" fragte die Frau. "Wir
haben hier genug Platz. Schlafen Sie bei uns im Hotel. " Das war für
Karl sehr verlockend besonders da er die vorige Nacht so schlecht
verbracht hatte. "Ich habe mein Gepäck draußen", sagte er zögernd
und nicht ganz ohne Eitelkeit. "Das bringen Sie nur her", sagte
die Frau, "das ist kein Hindernis." "Aber meine
Kameraden!" sagte Karl und merkte sofort, daß die allerdings ein
Hindernis waren. "Die dürfen natürlich auch hier übernachten",
sagte die Frau. "Kommen Sie nur! Lassen Sie sich nicht so bitten.
" "Meine Kameraden sind im übrigen brave Leute", sagte
Karl, "aber sie sind nicht rein. " "Haben Sie denn den
Schmutz im Saal nicht gesehn?" fragte die Frau und verzog das
Gesicht. "Zu uns kann wirklich der Ärgste kommen. Ich werde also
gleich drei Betten vorbereiten lassen. Allerdings nur auf dem Dachboden,
denn das Hotel ist vollbesetzt, ich bin auch auf den Dachboden übersiedelt,
aber besser als im Freien ist es jedenfalls. " "Ich kann meine
Kameraden nicht mitbringen", sagte Karl. Er stellte sich vor, was für
einen Lärm die zwei auf den Gängen dieses feinen Hotels machen würden,
und Robinson würde alles verunreinigen und Delamarche unfehlbar selbst
diese Frau belästigen. "Ich weiß nicht warum das unmöglich sein
soll", sagte die Frau, "aber wenn Sie es so wollen dann lassen
Sie eben Ihre Kameraden draußen und kommen allein zu uns. "
"Das geht nicht, das geht nicht", sagte Karl, "es sind
meine Kameraden und ich muß bei ihnen bleiben. " "Sie sind
starrköpfig", sagte die Frau und sah von ihm weg, "man meint es
gut mit Ihnen, möchte Ihnen gern behilflich sein und Sie wehren sich mit
allen Kräften. " Karl sah das alles ein, aber er wußte keinen
Ausweg, so sagte er nur noch: "Meinen besten Dank für Ihre
Freundlichkeit", dann erinnerte er sich daran, daß er noch nicht
gezahlt hatte, und fragte nach dem schuldigen Betrag. "Zahlen Sie das
erst, bis Sie mir den Strohkorb zurückbringen", sagte die Frau.
"Spätestens morgen früh muß ich ihn haben. "
"Bitte", sagte Karl. Sie öffnete eine Türe, die geradewegs ins
Freie führte und sagte noch, während er mit einer Verbeugung hinaustrat:
"Gute Nacht. Sie handeln aber nicht recht." Er war schon ein
paar Schritte weit, da rief sie ihm noch nach: "Auf Wiedersehn
morgen! "
Kaum war er draußen, hörte
er auch schon wieder aus dem Saal den ungeschwächten Lärm, in den sich
jetzt auch Klänge eines Blasorchesters mischten. Er war froh, daß er
nicht durch den Saal hatte herausgehn müssen. Das Hotel war jetzt in
allen seinen fünf Stockwerken beleuchtet und machte die Straße davor in
ihrer ganzen Breite hell. Noch immer fuhren draußen wenn auch schon in
unterbrochener Folge Automobile, rascher aus der Ferne her anwachsend als
bei Tag, tasteten mit den weißen Strahlen ihrer Laternen den Boden der
Straße ab, kreuzten mit erblassenden Lichtern die Lichtzone des Hotels
und eilten auf leuchtend in das weitere Dunkel.
Die Kameraden fand Karl
schon in tiefem Schlaf, er war aber auch zu lange ausgeblieben. Gerade
wollte er das Mitgebrachte appetitlich auf Papieren ausbreiten, die er im
Korbe vorfand, um erst wenn alles fertig wäre, die Kameraden zu wecken,
als er zu seinem Schrecken seinen Koffer, den er abgesperrt zurückgelassen
hatte und dessen Schlüssel er in der Tasche trug, vollständig geöffnet
sah, während der halbe Inhalt ringsherum im Gras verstreut war.
"Steht auf!" rief er. "Ihr schlaft und inzwischen waren
Diebe da. " "Fehlt denn etwas?" fragte Delamarche. Robinson
war noch nicht ganz wach und griff schon nach dem Bier. "Ich weiß
nicht", rief Karl, "aber der Koffer ist offen. Das ist doch eine
Unvorsichtigkeit sich schlafen zu legen und den Koffer hier frei stehen zu
lassen. " Delamarche und Robinson lachten und der erstere sagte:
"Sie dürfen eben nächstens nicht so lange fortbleiben. Das Hotel
ist zehn Schritte entfernt und Sie brauchen zum Hin- und Herweg drei
Stunden. Wir haben Hunger gehabt, haben gedacht, daß Sie in Ihrem Koffer
etwas zum Essen haben könnten und haben das Schloß solange gekitzelt,
bis es sich aufgemacht hat. Im übrigen war ja gar nichts drin und Sie können
alles wieder ruhig einpacken. " "So", sagte Karl, starrte
in den rasch sich leerenden Korb und horchte auf das eigentümliche Geräusch,
das Robinson beim Trinken hervorbrachte, da ihm die Flüssigkeit zuerst
weit in die Gurgel eindrang, dann aber mit einer Art Pfeifen wieder zurückschnellte,
um erst dann in großem Erguß in die Tiefe zu rollen. "Haben Sie
schon zu ende gegessen?" fragte er, als sich die beiden einen
Augenblick verschnauften. "Haben Sie denn nicht schon im Hotel
gegessen?" fragte Delamarche, der glaubte, Karl beanspruche seinen
Anteil. "Wenn Sie noch essen wollen, dann beeilen Sie sich",
sagte Karl und gieng zu seinem Koffer. "Der scheint Launen zu
haben", sagte Delamarche zu Robinson. "Ich habe keine
Launen", sagte Karl, "aber ist es vielleicht recht in meiner
Abwesenheit meinen Koffer aufzubrechen und meine Sachen herauszuwerfen.
Ich weiß man muß unter Kameraden manches dulden, und ich habe mich auch
darauf vorbereitet, aber das ist zuviel. Ich werde im Hotel übernachten
und gehe nicht nach Butterford. Essen Sie rasch auf, ich muß den Korb zurückgeben.
" "Siehst Du Robinson, so spricht man", sagte Delamarche,
"das ist die feine Redeweise. Er ist eben ein Deutscher. Du hast mich
früh vor ihm gewarnt, aber ich bin ein guter Narr gewesen und habe ihn
doch mitgenommen. Wir haben ihm unser Vertrauen geschenkt, haben ihn einen
ganzen Tag mit uns geschleppt, haben dadurch zumindest einen halben Tag
verloren und jetzt – weil ihn dort im Hotel irgendjemand gelockt hat –
verabschiedet er sich, verabschiedet sich einfach. Aber weil er ein
falscher Deutscher ist, tut er dies nicht offen, sondern sucht sich den
Vorwand mit dem Koffer und weil er ein grober Deutscher ist, kann er nicht
weggehn, ohne uns in unserer Ehre zu beleidigen und uns Diebe zu nennen,
weil wir mit seinem Koffer einen kleinen Scherz gemacht haben. "
Karl, der seine Sachen packte, sagte ohne sich umzuwenden: "Reden Sie
nur so weiter und erleichtern Sie mir das Weggehn. Ich weiß ganz gut, was
Kameradschaft ist. Ich habe in Europa auch Freunde gehabt und keiner kann
mir vorwerfen, daß ich mich falsch oder gemein gegen ihn benommen hätte.
Wir sind jetzt natürlich außer Verbindung, aber wenn ich noch einmal
nach Europa zurückkommen sollte, werden mich alle gut aufnehmen und mich
sofort als ihren Freund anerkennen. Und Sie Delamarche und Sie Robinson,
Sie hätte ich verraten sollen, da Sie doch, was ich niemals vertuschen
werde, so freundlich waren, sich meiner anzunehmen und mir eine
Lehrlingsstelle in Butterford in Aussicht zu stellen. Aber es ist etwas
anderes. Sie haben nichts und das erniedrigt Sie in meinen Augen nicht im
geringsten, aber Sie mißgönnen mir meinen kleinen Besitz und suchen mich
deshalb zu demütigen, das kann ich nicht aushalten. Und nun nachdem Sie
meinen Koffer aufgebrochen haben, entschuldigen Sie sich mit keinem Wort,
sondern beschimpfen mich noch und beschimpfen weiter mein Volk – damit
nehmen Sie mir aber auch jede Möglichkeit bei Ihnen zu bleiben. Übrigens
gilt das alles nicht eigentlich von Ihnen Robinson. Gegen Ihren Charakter
habe ich nur einzuwenden, daß Sie von Delamarche zu sehr abhängig sind.
" "Da sehn wir ja", sagte Delamarche indem er zu Karl trat
und ihm einen leichten Stoß gab, wie um ihn aufmerksam zu machen,
"da sehn wir ja wie Sie sich entpuppen. Den ganzen Tag sind Sie
hinter mir gegangen, haben sich an meinem Rock gehalten, haben mir jede
Bewegung nachgemacht und waren sonst still wie ein Mäuschen. Jetzt aber
da Sie im Hotel irgendeinen Rückhalt spüren, fangen Sie große Reden zu
halten an. Sie sind ein kleiner Schlaumeier und ich weiß noch gar nicht,
ob wir das so ruhig hinnehmen werden. Ob wir nicht das Lehrgeld für das
verlangen werden, was Sie uns während des Tages abgeschaut haben. Du
Robinson, wir beneiden ihn – meint er – um seinen Besitz. Ein Tag
Arbeit in Butterford – von Kalifornien gar nicht zu reden – und wir
haben zehnmal mehr, als Sie uns gezeigt haben und als Sie in Ihrem
Rockfutter noch versteckt haben mögen. Also nur immer Achtung aufs Maul!
" Karl hatte sich vom Koffer erhoben und sah nun auch den
verschlafenen, aber vom Bier ein wenig belebten Robinson herankommen.
"Wenn ich noch lange hierbliebe", sagte er, "könnte ich
vielleicht noch weitere Überraschungen erleben. Sie scheinen Lust zu
haben, mich durchzuprügeln." "Alle Geduld hat ein Ende",
sagte Robinson. "Sie schweigen besser, Robinson", sagte Karl,
ohne Delamarche aus den Augen zu lassen, "im Innern geben Sie mir ja
doch recht, aber nach außen müssen Sie es mit Delamarche halten."
"Wollen Sie ihn vielleicht bestechen?" fragte Delamarche.
"Fällt mir nicht ein", sagte Karl. "Ich bin froh, daß ich
fortgehe und ich will mit keinem von Ihnen mehr etwas zu tun haben. Nur
eines will ich noch sagen, Sie haben mir den Vorwurf gemacht, daß ich
Geld besitze und es vor Ihnen versteckt habe. Angenommen, daß es wahr
ist, war es nicht sehr richtig Leuten gegenüber gehandelt, die ich erst
paar Stunden kannte und bestätigen Sie nicht noch durch Ihr jetziges
Benehmen die Richtigkeit einer derartigen Handlungsweise? "
"Bleib ruhig", sagte Delamarche zu Robinson, trotzdem sich
dieser nicht rührte. Dann fragte er Karl: "Da Sie so unverschämt
aufrichtig sind, so treiben Sie doch, da wir ja so gemütlich beisammen
stehn, diese Aufrichtigkeit noch weiter und gestehn Sie ein, warum Sie
eigentlich ins Hotel wollen. " Karl mußte einen Schritt über den
Koffer hinweg machen, so nahe war Delamarche an ihn herangetreten. Aber
Delamarche ließ sich dadurch nicht beirren, schob den Koffer beiseite,
machte einen Schritt vorwärts, wobei er den Fuß auf ein weißes Vorhemd
setzte, das im Gras liegen geblieben war und wiederholte seine Frage.
Wie zur Antwort stieg von
der Straße her ein Mann mit einer stark leuchtenden Taschenlampe zu der
Gruppe herauf. Es war ein Kellner aus dem Hotel. Kaum hatte er Karl
erblickt, sagte er: "Ich suche Sie schon fast eine halbe Stunde. Alle
Böschungen auf beiden Straßenseiten habe ich schon abgesucht. Die Frau
Oberköchin läßt Ihnen nämlich sagen, daß sie den Strohkorb, den sie
Ihnen geborgt hat dringend braucht." "Hier ist er", sagte
Karl mit einer vor Aufregung unsichern Stimme. Delamarche und Robinson
waren in scheinbarer Bescheidenheit beiseite getreten, wie sie es vor
fremden gutgestellten Leuten immer machten. Der Kellner nahm den Korb an
sich und sagte: "Dann läßt Sie die Frau Oberköchin fragen, ob Sie
es sich nicht überlegt haben und doch vielleicht im Hotel übernachten
wollten. Auch die beiden andern Herren wären willkommen, wenn Sie sie
mitnehmen wollen. Die Betten sind schon vorbereitet. Die Nacht ist ja
heute warm, aber hier auf der Lehne ist es durchaus nicht ungefährlich zu
schlafen, man findet öfters Schlangen. " "Da die Frau Oberköchin
so freundlich ist, werde ich ihre Einladung doch annehmen", sagte
Karl und wartete auf eine Äußerung seiner Kameraden. Aber Robinson stand
stumpf da und Delamarche hatte die Hände in den Hosentaschen und schaute
zu den Sternen hinauf. Beide bauten offenbar darauf, daß Karl sie ohne
weiters mitnehmen werde. "Für diesen Fall", sagte der Kellner,
"habe ich den Auftrag, Sie ins Hotel zu führen und Ihr Gepäck zu
tragen. " "Dann warten Sie bitte noch einen Augenblick",
sagte Karl und bückte sich um die paar Sachen, die noch herumlagen, in
den Koffer zu legen.
Plötzlich richtete er
sich auf. Die Photographie fehlte, sie hatte ganz oben im Koffer gelegen
und war nirgends zu finden. Alles war vollständig, nur die Photographie
fehlte. "Ich kann die Photographie nicht finden", sagte er
bittend zu Delamarche. "Was für eine Photographie?" fragte
dieser. "Die Photographie meiner Eltern", sagte Karl. "Wir
haben keine Photographie gesehn", sagte Delamarche. "Es war
keine Photographie drin, Herr Roßmann", bestätigte auch Robinson
von seiner Seite. "Aber das ist doch unmöglich", sagte Karl und
seine Hilfe suchenden Blicke zogen den Kellner näher. "Sie lag
obenauf und jetzt ist sie weg. Wenn Sie doch lieber den Spaß mit dem
Koffer nicht gemacht hätten. " "Jeder Irrtum ist
ausgeschlossen", sagte Delamarche, "in dem Koffer war keine
Photographie. " "Sie war mir wichtiger, als alles was ich sonst
im Koffer habe", sagte Karl zum Kellner, der herumgieng und im Grase
suchte. "Sie ist nämlich unersetzlich, ich bekomme keine zweite.
" Und als der Kellner von dem aussichtslosen Suchen abließ, sagte er
noch: "Es war das einzige Bild, das ich von meinen Eltern besaß.
" Daraufhin sagte der Kellner laut ohne jede Beschönigung:
"Vielleicht könnten wir noch die Taschen der Herren untersuchen.
" "Ja", sagte Karl sofort, "ich muß die Photographie
finden. Aber ehe ich die Taschen durchsuche, sage ich noch, daß, wer mir
die Photographie freiwillig gibt, den ganzen gefüllten Koffer bekommt.
" Nach einem Augenblick allgemeiner Stille sagte Karl zum Kellner:
"Meine Kameraden wollen also offenbar die Taschendurchsuchung. Aber
selbst jetzt verspreche ich sogar demjenigen, in dessen Tasche die
Photographie gefunden wird, den ganzen Koffer. Mehr kann ich nicht tun.
" Sofort machte sich der Kellner daran, Delamarche zu untersuchen,
der ihm schwieriger zu behandeln schien, als Robinson, den er Karl überließ.
Er machte Karl darauf aufmerksam, daß beide gleichzeitig untersucht
werden müßten, da sonst einer unbeobachtet die Photographie beiseite
schaffen könnte. Gleich beim ersten Griff fand Karl in Robinsons Tasche
eine ihm gehörige Kravatte, aber er nahm sie nicht an sich und rief dem
Kellner zu: "Was Sie bei Delamarche auch finden mögen, lassen Sie
ihm bitte alles. Ich will nichts als die Photographie, nur die
Photographie." Beim Durchsuchen der Brusttaschen gelangte Karl mit
der Hand an die heiße fettige Brust Robinsons und da kam es ihm zu Bewußtsein,
daß er an seinen Kameraden vielleicht ein großes Unrecht begehe. Er
beeilte sich nun nach Möglichkeit. Im übrigen war alles umsonst, weder
bei Robinson noch bei Delamarche fand sich die Photographie vor.
"Es hilft
nichts", sagte der Kellner. "Sie haben wahrscheinlich die
Photographie zerrissen und die Stücke weggeworfen", sagte Karl,
"ich dachte sie wären meine Freunde, aber im Geheimen wollten sie
mir nur schaden. Nicht eigentlich Robinson, der wäre gar nicht auf den
Einfall gekommen, daß die Photographie solchen Wert für mich hat, aber
desto mehr Delamarche. " Karl sah nur den Kellner vor sich, dessen
Laterne einen kleinen Kreis beleuchtete, während alles sonst, auch
Delamarche und Robinson, in tiefem Dunkel war.
Es war natürlich gar
nicht mehr die Rede davon, daß die beiden in das Hotel mitgenommen werden
könnten. Der Kellner schwang den Koffer auf die Achsel, Karl nahm den
Strohkorb und sie giengen. Karl war schon auf der Straße, als er im
Nachdenken sich unterbrechend stehen blieb und in das Dunkel hinaufrief:
"Hören Sie einmal! Sollte doch einer von Ihnen die Photographie noch
haben und mir ins Hotel bringen wollen – er bekommt den Koffer noch
immer und wird – ich schwöre es – nicht angezeigt. " Es kam
keine eigentliche Antwort herunter, nur ein abgerissenes Wort war zu hören,
der Beginn eines Zurufes Robinsons, dem aber offenbar Delamarche sofort
den Mund stopfte. Noch eine lange Weile wartete Karl ob man sich oben
nicht doch noch anders entscheiden würde. Zweimal rief er in Abständen:
"Ich bin noch immer da. " Aber kein Laut antwortete, nur einmal
rollte ein Stein den Abhang herab, vielleicht durch Zufall, vielleicht in
einem verfehlten Wurf.
V
Im Hotel occidental
Im
Hotel wurde Karl gleich in eine Art Bureau geführt, in welchem die Oberköchin
ein Vormerkbuch in der Hand einer jungen Schreibmaschinistin einen Brief
in die Schreibmaschine diktierte. Das äußerst präcise Diktieren, der
beherrschte und elastische Tastenschlag jagten an dem nur hie und da
merklichen Ticken der Wanduhr vorüber, die schon fast halb zwölf Uhr
zeigte. "So!" sagte die Oberköchin, klappte das Vormerkbuch zu,
die Schreibmaschinistin sprang auf und stülpte den Holzdeckel über die
Maschine, ohne bei dieser mechanischen Arbeit die Augen von Karl zu
lassen. Sie sah noch wie ein Schulmädchen aus, ihre Schürze war sehr
sorgfältig gebügelt, auf den Achseln z. B. gewellt, die Frisur recht
hoch und man staunte ein wenig wenn man nach diesen Einzelnheiten ihr
ernstes Gesicht sah. Nach Verbeugungen zuerst gegen die Oberköchin, dann
gegen Karl entfernte sie sich und Karl sah unwillkürlich die Oberköchin
mit einem fragenden Blicke an.
"Das ist aber schön,
daß Sie nun doch gekommen sind", sagte die Oberköchin. "Und
Ihre Kameraden" "Ich habe sie nicht mitgenommen", sagte
Karl. "Die marschieren wohl sehr früh aus", sagte die Oberköchin,
wie um sich die Sache zu erklären. "Muß sie denn nicht denken, daß
ich auch mitmarschiere?" fragte sich Karl und sagte deshalb, um jeden
Zweifel auszuschließen: "Wir sind in Unfrieden aus einander
gegangen. " Die Oberköchin schien das als eine angenehme Nachricht
aufzufassen. "Dann sind Sie also frei?" fragte sie. "Ja
frei bin ich", sagte Karl und nichts schien ihm wertloser. "Hören
Sie, möchten Sie nicht hier im Hotel eine Stelle annehmen?" fragte
die Oberköchin. "Sehr gern", sagte Karl, "ich habe aber
entsetzlich wenig Kenntnisse. Ich kann z. B. nicht einmal auf der
Schreibmaschine schreiben. " "Das ist nicht das
wichtigste", sagte die Oberköchin. "Sie bekämen eben vorläufig
nur eine ganz kleine Anstellung und müßten dann zusehn, durch Fleiß und
Aufmerksamkeit sich hinaufzubringen. Jedenfalls aber glaube ich, daß es für
Sie besser und passender wäre sich irgendwo festzusetzen statt so durch
die Welt zu bummeln. Dazu scheinen Sie mir nicht gemacht. " "Das
würde alles auch der Onkel unterschreiben", sagte sich Karl und
nickte zustimmend. Gleichzeitig erinnerte er sich, daß er, um den man so
besorgt war, sich noch gar nicht vorgestellt hatte. "Entschuldigen
Sie bitte", sagte er, "daß ich mich noch gar nicht vorgestellt
habe, ich heiße Karl Roßmann. " "Sie sind ein Deutscher, nicht
wahr?" "Ja", sagte Karl, "ich bin noch nicht lange in
Amerika. " "Von wo sind Sie denn?" "Aus Prag in Böhmen",
sagte Karl. "Sehn Sie einmal an", rief die Oberköchin in einem
stark englisch betonten Deutsch und hob fast die Arme, "dann sind wir
ja Landsleute, ich heiße Grete Mitzelbach und bin aus Wien. Und Prag
kenne ich ja ausgezeichnet, ich war ja ein halbes Jahr in der Goldenen
Gans auf dem Wenzelsplatz angestellt. Aber denken Sie nur einmal!"
"Wann ist das gewesen?" fragte Karl. "Das ist schon viele
viele Jahre her." "Die alte Goldene Gans", sagte Karl,
"ist vor zwei Jahren niedergerissen worden. " "Ja,
freilich", sagte die Oberköchin ganz in Gedanken an vergangene
Zeiten.
Mit einem Male aber
wieder lebhaft werdend rief sie und faßte dabei Karls Hände: "Jetzt
da es sich herausgestellt hat, daß Sie mein Landsmann sind, dürfen Sie
um keinen Preis von hier fort. Das dürfen Sie mir nicht antun. Hätten
Sie z. B. Lust Liftjunge zu werden? Sagen Sie nur ja und Sie sind es. Wenn
Sie ein bißchen herumgekommen sind, werden Sie wissen daß es nicht
besonders leicht ist, solche Stellen zu bekommen, denn sie sind der beste
Anfang, den man sich denken kann. Sie kommen mit allen Gästen zusammen,
man sieht Sie immer, man gibt Ihnen kleine Aufträge, kurz, Sie haben
jeden Tag die Möglichkeit, zu etwas Besserem zu gelangen. Für alles übrige
lassen Sie mich sorgen! " "Liftjunge möchte ich ganz gerne
sein", sagte Karl nach einer kleinen Pause. Es wäre ein großer
Unsinn gewesen, gegen die Stelle eines Liftjungen mit Rücksicht auf seine
fünf Gymnasialklassen Bedenken zu haben. Eher wäre hier in Amerika Grund
gewesen, sich der fünf Gymnasialklassen zu schämen. Übrigens hatten die
Liftjungen Karl immer gefallen, sie waren ihm wie der Schmuck der Hotels
vorgekommen. "Sind nicht Sprachenkenntnisse erforderlich?"
fragte er noch. "Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das
genügt vollkommen." "Englisch habe ich erst in Amerika in
zweieinhalb Monaten erlernt", sagte Karl, er glaubte, seinen einzigen
Vorzug nicht verschweigen zu dürfen. "Das spricht schon genügend für
Sie", sagte die Oberköchin. "Wenn ich daran denke, welche
Schwierigkeiten mir das Englisch gemacht hat. Das ist allerdings schon
seine dreißig Jahre her. Gerade gestern habe ich davon gesprochen.
Gestern war nämlich mein fünfzigster Geburtstag. " Und sie suchte lächelnd
den Eindruck von Karls Mienen abzulesen, den die Würde dieses Alters auf
ihn machte. "Dann wünsche ich Ihnen viel Glück", sagte Karl.
"Das kann man immer brauchen", sagte sie, schüttelte Karl die
Hand und wurde wieder halb traurig, über diese alte Redensart aus der
Heimat, die ihr da im Deutschsprechen eingefallen war.
"Aber ich halte Sie
hier auf", rief sie dann. "Und Sie sind gewiß sehr müde und
wir können auch alles viel besser bei Tag besprechen. Die Freude einen
Landsmann getroffen zu haben, macht ganz gedankenlos. Kommen Sie, ich
werde Sie in Ihr Zimmer führen. " "Ich habe noch eine Bitte
Frau Oberköchin", sagte Karl im Anblick des Telephonkastens der auf
einem Tische stand. "Es ist möglich, daß mir morgen, vielleicht
sehr früh, meine frühern Kameraden eine Photographie bringen, die ich
dringend brauche. Wären Sie so freundlich und würden Sie dem Portier
telephonieren, er möchte die Leute zu mir schicken oder mich holen
lassen. " "Gewiß", sagte die Oberköchin, "aber würde
es nicht genügen, wenn er ihnen die Photographie abnimmt? Was ist es denn
für eine Photographie, wenn man fragen darf?" "Es ist die
Photographie meiner Eltern", sagte Karl, "nein ich muß mit den
Leuten selbst sprechen. " Die Oberköchin sagte nichts weiter und gab
telephonisch in die Portiersloge den entsprechenden Befehl, wobei sie 536
als Zimmernummer Karls nannte.
Sie giengen dann durch
eine der Eingangstüre entgegengesetzte Tür auf einen kleinen Gang
hinaus, wo an dem Geländer eines Aufzuges ein kleiner Liftjunge schlafend
lehnte. "Wir können uns selbst bedienen", sagte die Oberköchin
leise und ließ Karl in den Aufzug eintreten. "Eine Arbeitszeit von
zehn bis zwölf Stunden ist eben ein wenig zu viel für einen solchen
Jungen", sagte sie dann während sie aufwärts fuhren. "Aber es
ist eigentümlich in Amerika. Da ist dieser kleine Junge z. B., er ist
auch erst vor einem halben Jahr mit seinen Eltern hier angekommen, er ist
ein Italiener. Jetzt sieht es aus, als könne er die Arbeit unmöglich
aushalten, hat schon kein Fleisch im Gesicht, schläft im Dienst ein,
trotzdem er von Natur sehr bereitwillig ist – aber er muß nur noch ein
halbes Jahr hier oder irgendwo anders in Amerika dienen und hält alles
mit Leichtigkeit aus und in fünf Jahren wird er ein starker Mann sein.
Von solchen Beispielen könnte ich Ihnen stundenlang erzählen. Dabei
denke ich gar nicht an Sie, denn Sie sind ein kräftiger Junge. Sie sind
siebzehn Jahre alt, nicht?" "Ich werde nächsten Monat
sechzehn", antwortete Karl. "Sogar erst sechzehn!" sagte
die Oberköchin. "Also nur Mut! "
Oben führte sie Karl in
ein Zimmer, das zwar schon als Dachzimmer eine schiefe Wand hatte, im übrigen
aber bei einer Beleuchtung durch zwei Glühlampen sich sehr wohnlich
zeigte. "Erschrecken Sie nicht über die Einrichtung", sagte die
Oberköchin, "es ist nämlich kein Hotelzimmer, sondern ein Zimmer
meiner Wohnung, die aber aus drei Zimmern besteht, so daß Sie mich nicht
im geringsten stören. Ich sperre die Verbindungstüre ab, so daß Sie
ganz ungeniert bleiben. Morgen als neuer Hotelangestellter werden Sie natürlich
Ihr eigenes Zimmerchen bekommen. Wären Sie mit Ihren Kameraden gekommen,
dann hätte ich Ihnen in der gemeinsamen Schlafkammer der Hausdiener
aufbetten lassen, aber da Sie allein sind, denke ich, daß es Ihnen hier
besser passen wird, wenn Sie auch nur auf einem Sopha schlafen müssen.
Und nun schlafen Sie wohl damit Sie sich für den Dienst kräftigen. Er
wird morgen noch nicht zu streng sein. " "Ich danke Ihnen
vielmals für Ihre Freundlichkeit. " "Warten Sie", sagte
sie beim Ausgang stehen bleibend, "da wären Sie aber bald geweckt
worden. " Und sie gieng zu der einen Seitentür des Zimmers, klopfte
und rief: " Therese! " "Bitte, Frau Oberköchin",
meldete sich die Stimme der kleinen Schreibmaschinistin. "Wenn Du
mich früh wecken gehst, so mußt Du über den Gang gehn, hier im Zimmer
schläft ein Gast. Er ist totmüde." Sie lächelte Karl zu, während
sie das sagte. "Hast Du verstanden?" "Ja Frau Oberköchin."
"Also dann gute Nacht! " "Gute Nacht wünsch ich. "
"Ich schlafe nämlich",
sagte die Oberköchin zur Erklärung, "seit einigen Jahren ungemein
schlecht. Jetzt kann ich ja mit meiner Stellung zufrieden sein und brauche
eigentlich keine Sorgen zu haben. Aber es müssen die Folgen meiner frühern
Sorgen sein, die mir diese Schlaflosigkeit verursachen. Wenn ich um drei
Uhr früh einschlafe kann ich froh sein. Da ich aber schon um fünf, spätestens
um halb sechs wieder auf dem Platze sein muß, muß ich mich wecken lassen
undzwar besonders vorsichtig, damit ich nicht noch nervöser werde als ich
schon bin. Und da weckt mich eben die Therese. Aber jetzt wissen Sie
wirklich schon alles und ich komme gar nicht weg. Gute Nacht! " Und
trotz ihrer Schwere huschte sie fast aus dem Zimmer.
Karl freute sich auf den
Schlaf, denn der Tag hatte ihn sehr hergenommen. Und behaglichere Umgebung
konnte er für einen langen ungestörten Schlaf gar nicht wünschen. Das
Zimmer war zwar nicht zum Schlafzimmer bestimmt, es war eher ein
Wohnzimmer oder richtiger ein Repräsentationszimmer der Oberköchin und
ein Waschtisch war ihm zuliebe eigens für diesen Abend hergebracht, aber
dennoch fühlte sich Karl nicht als Eindringling, sondern nur desto besser
versorgt. Sein Koffer war richtig hergestellt und wohl schon lange nicht
in größerer Sicherheit gewesen. Auf einem niedrigen Schrank mit Schiebefächern,
über den eine großmaschige wollene Decke gezogen war, standen
verschiedene Photographien in Rahmen und unter Glas, bei der Besichtigung
des Zimmers blieb Karl dort stehn und sah sie an. Es waren meist alte
Photographien und stellten in der Mehrzahl Mädchen dar, die in unmodernen
unbehaglichen Kleidern, mit locker aufgesetzten kleinen aber hochgehenden
Hüten, die rechte Hand auf einen Schirm gestützt, dem Beschauer
zugewendet waren und doch mit den Blicken auswichen. Unter den
Herrenbildnissen fiel Karl besonders das Bild eines jungen Soldaten auf,
der das Käppi auf ein Tischchen gelegt hatte, stramm mit seinem wilden
schwarzen Haar dastand und voll von einem stolzen aber unterdrückten
Lachen war. Die Knöpfe seiner Uniform waren auf der Photographie nachträglich
vergoldet worden. Alle diese Photographien stammten wohl noch aus Europa,
man hätte dies auf der Rückseite wahrscheinlich auch genau ablesen können,
aber Karl wollte sie nicht in die Hand nehmen. So wie diese Photographien
hier standen, so hatte er auch die Photographie seiner Eltern in seinem künftigen
Zimmer aufstellen mögen.
Gerade streckte er sich
nach einer gründlichen Waschung des ganzen Körpers, die er seiner
Nachbarin wegen möglichst leise durchzuführen sich bemüht hatte, im
Vorgenuß des Schlafes auf seinem Kanapee, da glaubte er ein schwaches
Klopfen an einer Türe zu hören. Man konnte nicht gleich feststellen, an
welcher Tür es war, es konnte auch bloß ein zufälliges Geräusch sein.
Es wiederholte sich auch nicht gleich und Karl schlief schon fast, als es
wieder erfolgte. Aber nun war kein Zweifel mehr, daß es ein Klopfen war
und von der Tür der Schreibmaschinistin herkam. Karl lief auf den Fußspitzen
zur Tür hin und fragte so leise, daß es, wenn man trotz allem nebenan
doch schlief, niemanden hätte wecken können: "Wünschen Sie
etwas?" Sofort und ebenso leise kam die Antwort: "Möchten Sie
nicht die Tür öffnen? Der Schlüssel steckt auf Ihrer Seite. "
"Bitte", sagte Karl, "ich muß mich nur zuerst anziehn.
" Es gab eine kleine Pause, dann hieß es: "Das ist nicht nötig.
Machen Sie auf und legen Sie sich ins Bett, ich werde ein wenig
warten." "Gut", sagte Karl und führte es auch so aus, nur
drehte er außerdem noch das elektrische Licht auf. "Ich liege
schon", sagte er dann etwas lauter. Da trat auch schon aus ihrem
dunklen Zimmer die kleine Schreibmaschinistin, genau so angezogen wie
unten im Bureau, sie hatte wohl die ganze Zeit über nicht daran gedacht
schlafen zu gehn.
"Entschuldigen Sie
vielmals", sagte sie und stand ein wenig gebückt vor Karls Lager,
"und verraten Sie mich bitte nicht. Ich will Sie auch nicht lange stören,
ich weiß, daß Sie totmüde sind. " "Es ist nicht so arg",
sagte Karl, "aber es wäre vielleicht doch besser gewesen, ich hätte
mich angezogen. " Er mußte ausgestreckt daliegen, um bis an den Hals
zugedeckt sein zu können, denn er besaß kein Nachthemd. "Ich bleibe
ja nur einen Augenblick", sagte sie und griff nach einem Sessel,
"kann ich mich zum Kanapee setzen?" Karl nickte. Da setzte sie
sich so eng zum Kanapee, daß Karl an die Mauer rücken mußte, um zu ihr
aufschauen zu können. Sie hatte ein rundes gleichmäßiges Gesicht, nur
die Stirn war ungewöhnlich hoch, aber das konnte auch vielleicht nur an
der Frisur liegen, die ihr nicht recht paßte. Ihr Anzug war sehr rein und
sorgfältig. In der linken Hand quetschte sie ein Taschentuch.
"Werden Sie lange
hier bleiben?" fragte sie. "Es ist noch nicht ganz
bestimmt", antwortete Karl, "aber ich denke, ich werde bleiben.
" "Das wäre nämlich sehr gut", sagte sie und fuhr mit dem
Taschentuch über ihr Gesicht, "ich bin hier nämlich so
allein." "Das wundert mich", sagte Karl, "die Frau
Oberköchin ist doch sehr freundlich zu Ihnen. Sie behandelt Sie gar nicht
wie eine Angestellte. Ich dachte schon, Sie wären verwandt."
"Oh nein", sagte sie, "ich heiße Therese Berchtold, ich
bin aus Pommern. " Auch Karl stellte sich vor. Daraufhin sah sie ihn
zum erstenmal voll an, als sei er ihr durch die Namensnennung ein wenig
fremder geworden. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte sie: "Sie dürfen
nicht glauben, daß ich undankbar bin. Ohne die Frau Oberköchin stünde
es ja mit mir viel schlechter. Ich war früher Küchenmädchen hier im
Hotel und schon in großer Gefahr entlassen zu werden, denn ich konnte die
schwere Arbeit nicht leisten. Man stellt hier sehr große Ansprüche. Vor
einem Monat ist ein Küchenmädchen nur vor Überanstrengung ohnmächtig
geworden und vierzehn Tage im Krankenhaus gelegen. Und ich bin nicht sehr
stark, ich habe früher viel zu leiden gehabt und bin dadurch in der
Entwicklung ein wenig zurückgeblieben, Sie würden wohl gar nicht sagen,
daß ich schon achtzehn Jahre alt bin. Aber jetzt werde ich schon stärker.
" "Der Dienst hier muß wirklich sehr anstrengend sein",
sagte Karl. "Unten habe ich jetzt einen Liftjungen stehend schlafen
gesehn. " "Dabei haben es die Liftjungen noch am besten",
sagte sie, "die verdienen ihr schönes Geld an Trinkgeldern und müssen
sich schließlich doch bei weitem nicht so plagen wie die Leute in der Küche.
Aber da habe ich wirklich einmal Glück gehabt, die Frau Oberköchin hat
einmal ein Mädchen gebraucht um die Servietten für ein Bankett
herzurichten, hat zu uns Küchenmädchen heruntergeschickt, es gibt hier
an fünfzig solcher Mädchen, ich war gerade bei der Hand und habe sie
sehr zufriedengestellt, denn im Aufbauen der Servietten habe ich mich
immer ausgekannt. Und so hat sie mich von da an in ihrer Nähe behalten
und allmählich zu ihrer Sekretärin ausgebildet. Dabei habe ich sehr viel
gelernt. " "Gibt es denn da soviel zu schreiben?" fragte
Karl. "Ach sehr viel", antwortete sie, "das können Sie
sich wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Sie haben doch gesehn, daß ich
heute bis halb zwölf gearbeitet habe und heute ist kein besonderer Tag.
Allerdings schreibe ich nicht immerfort, sondern habe auch viele
Besorgungen in der Stadt zu machen. " "Wie heißt denn die
Stadt?" fragte Karl. "Das wissen Sie nicht" sagte sie,
"Ramses." "Ist es eine große Stadt" fragte Karl.
"Sehr groß", antwortete sie, "ich gehe nicht gern hin.
Aber wollen Sie nicht wirklich schon schlafen?" "Nein,
nein", sagte Karl, "ich weiß ja noch gar nicht, warum Sie
hereingekommen sind." "Weil ich mit niemandem reden kann. Ich
bin nicht wehleidig, aber wenn wirklich niemand für einen da ist, so ist
man schon glücklich, schließlich von jemandem angehört zu werden. Ich
habe Sie schon unten im Saal gesehn, ich kam gerade um die Frau Oberköchin
zu holen, als sie Sie in die Speisekammern wegführte. " "Das
ist ein schrecklicher Saal", sagte Karl. "Ich merke es schon gar
nicht mehr", antwortete sie. "Aber ich wollte nur sagen, daß ja
die Frau Oberköchin so freundlich zu mir ist, wie es nur meine selige
Mutter war. Aber es ist doch ein zu großer Unterschied in unserer
Stellung, als daß ich frei mit ihr reden könnte. Unter den Küchenmädchen
habe ich früher gute Freundinnen gehabt, aber die sind schon längst
nicht mehr hier und die neuen Mädchen kenne ich kaum. Schließlich kommt
es mir manchmal vor, daß mich meine jetzige Arbeit mehr anstrengt als die
frühere, daß ich sie aber nicht einmal so gut verrichte, wie die und daß
mich die Frau Oberköchin nur aus Mitleid in meiner Stellung hält. Schließlich
muß man ja wirklich eine bessere Schulbildung gehabt haben, um Sekretärin
zu werden. Es ist eine Sünde das zu sagen, aber oft und oft fürchte ich
wahnsinnig zu werden. Um Gotteswillen", sagte sie plötzlich viel
schneller und griff flüchtig nach Karls Schulter, da er die Hände unter
der Decke hielt, "Sie dürfen aber der Frau Oberköchin kein Wort
davon sagen, sonst bin ich wirklich verloren. Wenn ich ihr jetzt außer
den Umständen die ich ihr durch meine Arbeit mache, auch noch Leid
bereiten sollte, das wäre wirklich das Höchste. " "Es ist
selbstverständlich, daß ich ihr nichts sagen werde", antwortete
Karl. "Dann ist es gut", sagte sie, "und bleiben Sie hier.
Ich wäre froh wenn Sie hierblieben und wir könnten, wenn es Ihnen recht
ist, zusammenhalten. Gleich wie ich Sie zum erstenmal gesehn habe, habe
ich Vertrauen zu Ihnen gehabt. Und trotzdem – denken Sie, so schlecht
bin ich – habe ich auch Angst gehabt, die Frau Oberköchin könnte Sie
an meiner Stelle zum Sekretär machen und mich entlassen. Erst wie ich da
lange allein gesessen bin, während Sie unten im Bureau waren, habe ich
mir die Sache so zurechtgelegt, daß es sogar sehr gut wäre, wenn Sie
meine Arbeiten übernehmen würden, denn die würden Sie sicher besser
verstehn. Wenn Sie die Besorgungen in der Stadt nicht machen wollten, könnte
ich ja diese Arbeit behalten. Sonst aber wäre ich in der Küche gewiß
viel nützlicher, besonders da ich auch schon etwas stärker geworden bin.
" "Die Sache ist schon geordnet", sagte Karl, "ich
werde Liftjunge und Sie bleiben Sekretärin. Wenn Sie aber der Frau Oberköchin
nur die geringste Andeutung von Ihren Plänen machen, verrate ich auch das
Übrige, was Sie mir heute gesagt haben, so leid es mir tun würde. "
Diese Tonart erregte Therese so sehr, daß sie sich beim Bett niederwarf
und wimmernd das Gesicht ins Bettzeug drückte. "Ich verrate ja
nichts", sagte Karl, "aber Sie dürfen auch nichts sagen. "
Nun konnte er nicht mehr ganz unter seiner Decke versteckt bleiben,
streichelte ein wenig ihren Arm, fand nichts Rechtes, was er ihr sagen könne
und dachte nur, daß hier ein bitteres Leben sei. Endlich beruhigte sie
sich wenigstens so weit, daß sie sich ihres Weinens schämte, sah Karl
dankbar an, redete ihm zu, morgen lange zu schlafen und versprach, wenn
sie Zeit fände, gegen acht Uhr heraufzukommen und ihn zu wecken.
"Sie wecken ja so geschickt", sagte Karl. "Ja einiges kann
ich", sagte sie, fuhr mit der Hand zum Abschied sanft über seine
Decke hin und lief in ihr Zimmer.
Am nächsten Tage bestand
Karl darauf gleich seinen Dienst anzutreten, trotzdem ihm die Oberköchin
diesen Tag für die Besichtigung von Ramses freigeben wollte. Aber Karl
erklärte offen, dafür werde sich noch Gelegenheit finden, jetzt sei es für
ihn das Wichtigste mit der Arbeit anzufangen, denn eine auf ein anderes
Ziel gerichtete Arbeit habe er schon in Europa nutzlos abgebrochen und
fange als Liftjunge in einem Alter an, in dem wenigstens die tüchtigern
Jungen nahe daran seien in natürlicher Folge eine höhere Arbeit zu übernehmen.
Es sei ganz richtig daß er als Liftjunge anfange, aber ebenso richtig
sei, daß er sich besonders beeilen müsse. Bei diesen Umständen würde
ihm die Besichtigung der Stadt gar kein Vergnügen machen. Nicht einmal zu
einem kurzen Weg, zu dem ihn Therese aufforderte konnte er sich entschließen.
Immer schwebte ihm der Gedanke daran vor Augen, es könne schließlich mit
ihm, wenn er nicht fleißig sei, soweit kommen wie mit Delamarche und
Robinson.
Beim Hotelschneider wurde
ihm die Liftjungenuniform anprobiert, die äußerlich sehr prächtig mit
Goldknöpfen und Goldschnüren ausgestattet war, bei deren Anziehn es Karl
aber doch ein wenig schauderte, denn besonders unter den Achseln war das Röckchen
kalt, hart und dabei unaustrockbar naß von dem Schweiß der Liftjungen,
die es vor ihm getragen hatten. Die Uniform mußte auch vor allem über
der Brust eigens für Karl erweitert werden, denn keine der zehn
vorliegenden wollte auch nur beiläufig passen. Trotz dieser Näharbeit
die hier notwendig war, und trotzdem der Meister sehr peinlich schien –
zweimal flog die bereits abgelieferte Uniform aus seiner Hand in die
Werkstatt zurück – war alles in kaum fünf Minuten erledigt und Karl
verließ das Atelier schon als Liftjunge mit anliegenden Hosen und einem
trotz der bestimmten gegenteiligen Zusicherung des Meisters sehr
beengenden Jäckchen, das immer wieder zu Athemübungen verlockte, da man
sehen wollte, ob das Athmen noch immer möglich war.
Dann meldete er sich bei
jenem Oberkellner unter dessen Befehl er stehen sollte, einem schlanken
schönen Mann mit großer Nase, der wohl schon in den vierziger Jahren
stehen konnte. Er hatte keine Zeit sich auch nur auf das geringste Gespräch
einzulassen und läutete bloß einen Liftjungen herbei, zufällig gerade
jenen, den Karl gestern gesehen hatte. Der Oberkellner nannte ihn nur bei
seinem Taufnamen Giacomo, was Karl erst später erfuhr, denn in der
englischen Aussprache war der Name nicht zu erkennen. Dieser Junge bekam
nun den Auftrag Karl das für den Liftdienst Notwendige zu zeigen, aber er
war so scheu und eilig, daß Karl von ihm, so wenig auch im Grunde zu
zeigen war, kaum dieses Wenige erfahren konnte. Sicher war Giacomo auch
deshalb verärgert, weil er den Liftdienst offenbar Karls halber verlassen
mußte und den Zimmermädchen zur Hilfeleistung zugeteilt war, was ihm
nach bestimmten Erfahrungen die er aber verschwieg, entehrend vorkam. Enttäuscht
war Karl vor allem dadurch, daß ein Liftjunge mit der Maschinerie des
Aufzugs nur insoferne etwas zu tun hatte, als er ihn durch einen einfachen
Druck auf den Knopf in Bewegung setzte, während für Reparaturen am
Triebwerk derartig ausschließlich die Maschinisten des Hotels verwendet
wurden, daß z. B. Giacomo trotz halbjährigen Dienstes beim Lift weder
das Triebwerk im Keller, noch die Maschinerie im Innern des Aufzugs mit
eigenen Augen gesehen hatte, trotzdem ihn dies, wie er ausdrücklich
sagte, sehr gefreut hätte. Überhaupt war es ein einförmiger Dienst und
wegen der zwölfstündigen Arbeitszeit, abwechselnd bei Tag und Nacht, so
anstrengend, daß er nach Giacomos Angaben überhaupt nicht auszuhalten
war, wenn man nicht minutenweise im Stehen schlafen konnte. Karl sagte
hiezu nichts, aber er begriff wohl, daß gerade diese Kunst Giacomo die
Stelle gekostet hatte.
Sehr willkommen war es
Karl, daß der Aufzug den er zu besorgen hatte, nur für die obersten
Stockwerke bestimmt war, weshalb er es nicht mit den anspruchsvollsten
reichen Leuten zu tun haben würde. Allerdings konnte man hier auch nicht
soviel lernen wie anderswo und es war nur für den Anfang gut.
Schon nach der ersten
Woche sah Karl ein, daß er dem Dienst vollständig gewachsen war. Das
Messing seines Aufzugs war am besten geputzt, keiner der dreißig andern
Aufzüge konnte sich darin vergleichen und es wäre vielleicht noch
leuchtender gewesen, wenn der Junge, der bei dem gleichen Aufzug diente
auch nur annähernd so fleißig gewesen wäre und sich nicht in seiner Lässigkeit
durch Karls Fleiß unterstützt gefühlt hätte. Es war ein geborener
Amerikaner, namens Rennel, ein eitler Junge mit dunklen Augen und glatten,
etwas gehöhlten Wangen. Er hatte einen eleganten Privatanzug, in dem er
an dienstfreien Abenden leicht parfumiert in die Stadt eilte; hie und da
bat er auch Karl ihn abends zu vertreten, da er in Familienangelegenheiten
weggehn müsse, und es kümmerte ihn wenig, daß sein Aussehn allen
solchen Ausreden widersprach. Trotzdem konnte ihn Karl gut leiden und
hatte es gern, wenn Rennel an solchen Abenden vor dem Ausgehn in seinem
Privatanzug unten beim Lift vor ihm stehen blieb, sich noch ein wenig
entschuldigte, während er die Handschuh über die Finger zog und dann
durch den Korridor abgieng. Im übrigen wollte ihm Karl mit diesen
Vertretungen nur eine Gefälligkeit machen, wie sie ihm gegenüber einem
ältern Kollegen am Anfang selbstverständlich schien, eine dauernde
Einrichtung sollte es nicht werden. Denn ermüdend genug war dieses ewige
Fahren im Lift allerdings und gar in den Abendstunden hatte es fast keine
Unterbrechung.
Bald lernte Karl auch,
die kurzen tiefen Verbeugungen machen, die man von den Liftjungen
verlangte und das Trinkgeld fieng er im Fluge ab. Es verschwand in seiner
Westentasche und niemand hätte nach seinen Mienen sagen können, ob es
groß oder klein war. Vor Damen öffnete er die Tür mit einer kleinen
Beigabe von Galanterie und schwang sich in den Aufzug langsam hinter
ihnen, die in Sorge um ihre Röcke, Hüte und Behänge zögernder als Männer
einzutreten pflegten. Während der Fahrt stand er, weil dies das unauffälligste
war, knapp bei der Tür mit dem Rücken zu seinen Fahrgästen und hielt
den Griff der Aufzugtüre, um sie im Augenblick der Ankunft plötzlich und
doch nicht etwa erschreckend seitwärts weg zu stoßen. Selten nur klopfte
ihm einer während der Fahrt auf die Schulter, um irgendeine kleine
Auskunft zu bekommen, dann drehte er sich eilig um, als habe er es
erwartet und gab mit lauter Stimme Antwort. Oft gab es trotz der vielen
Aufzüge, besonders nach Schluß der Teater oder nach Ankunft bestimmter
Expreßzüge, ein solches Gedränge, daß er, kaum daß die Gäste oben
entlassen waren, wieder hinunterrasen mußte, um die dort Wartenden
aufzunehmen. Er hatte auch die Möglichkeit, durch Ziehen an einem durch
den Aufzugskasten hindurchgehenden Drahtseil, die gewöhnliche
Schnelligkeit zu steigern, allerdings war dies durch die Aufzugsordnung
verboten und sollte auch gefährlich sein. Karl tat es auch niemals wenn
er mit Passagieren fuhr, aber wenn er sie oben abgesetzt hatte und unten
andere warteten, dann kannte er keine Rücksicht, und arbeitete an dem
Seil mit starken taktmäßigen Griffen, wie ein Matrose. Er wußte übrigens,
daß dies die andern Liftjungen auch taten und er wollte seine Passagiere
nicht an andere Jungen verlieren. Einzelne Gäste, die längere Zeit im
Hotel wohnten, was hier übrigens ziemlich gebräuchlich war, zeigten hie
und da durch ein Lächeln, daß sie Karl als ihren Liftjungen erkannten,
Karl nahm diese Freundlichkeit mit ernstem Gesichte aber gerne an.
Manchmal, wenn der Verkehr etwas schwächer war, konnte er auch besondere
kleine Aufträge annehmen, z. B. einem Hotelgast, der sich nicht erst in
sein Zimmer bemühen wollte, eine im Zimmer vergessene Kleinigkeit zu
holen, dann flog er in seinem in solchen Augenblicken ihm besonders
vertrauten Aufzug allein hinauf, trat in das fremde Zimmer, wo meistens
sonderbare Dinge, die er nie gesehen hatte, herumlagen oder auf den
Kleiderrechen hiengen, fühlte den charakteristischen Geruch einer fremden
Seife, eines Parfums, eines Mundwassers und eilte ohne sich im geringsten
aufzuhalten mit dem meist trotz undeutlicher Angaben gefundenen Gegenstand
wieder zurück. Oft bedauerte er größere Aufträge nicht übernehmen zu
können, da hiefür eigene Diener und Botenjungen bestimmt waren, die ihre
Wege auf Fahrrädern, ja sogar Motorrädern besorgten, nur zu Botengängen
aus den Zimmern in die Speise- oder Spielsäle konnte sich Karl bei günstiger
Gelegenheit verwenden lassen.
Wenn er nach der zwölfstündigen
Arbeitszeit drei Tage um sechs Uhr abends, die nächsten drei Tage um
sechs Uhr früh aus der Arbeit kam, war er so müde, daß er geradewegs
ohne sich um jemanden zu kümmern in sein Bett gieng. Es lag im
gemeinsamen Schlafsaal der Liftjungen, die Frau Oberköchin, deren Einfluß
vielleicht doch nicht so groß war, wie er am ersten Abend geglaubt hatte,
hatte sich zwar bemüht, ihm ein eigenes Zimmerchen zu verschaffen und es
wäre ihr wohl auch gelungen, aber da Karl sah, welche Schwierigkeiten es
machte und wie die Oberköchin öfters mit seinem Vorgesetzten, jenem so
beschäftigten Oberkellner wegen dieser Sache telephonierte, verzichtete
er darauf und überzeugte die Oberköchin von dem Ernst seines Verzichtes
mit dem Hinweis darauf, daß er von den andern Jungen wegen eines nicht
eigentlich selbst erarbeiteten Vorzugs nicht beneidet werden wolle.
Ein ruhiges Schlafzimmer
war dieser Schlafsaal allerdings nicht. Denn da jeder einzelne die freie
Zeit von zwölf Stunden verschiedenartig auf Essen, Schlaf, Vergnügen und
Nebenverdienst verteilte, war im Schlafsaal immerfort die größte
Bewegung. Da schliefen einige und zogen die Decken über die Ohren um
nichts zu hören; wurde doch einer geweckt, dann schrie er so wütend über
das Geschrei der andern, daß auch die übrigen noch so guten Schläfer
nicht standhalten konnten. Fast jeder Junge hatte seine Pfeife, es wurde
damit eine Art Luxus getrieben, auch Karl hatte sich eine angeschafft und
fand bald Geschmack an ihr. Nun durfte aber im Dienst nicht geraucht
werden, die Folge dessen war, daß im Schlafsaal jeder solange er nicht
unbedingt schlief auch rauchte. Infolge dessen stand jedes Bett in einer
eigenen Rauchwolke und alles in einem allgemeinen Dunst. Es war unmöglich
durchzusetzen, trotzdem eigentlich die Mehrzahl grundsätzlich zustimmte,
daß in der Nacht nur an einem Ende des Saales das Licht brennen sollte. Wäre
dieser Vorschlag durchgedrungen, dann hätten diejenigen, welche schlafen
wollten, dies im Dunkel der einen Saalhälfte – es war ein großer Saal
mit vierzig Betten – ruhig tun können, während die andern im
beleuchteten Teil Würfel oder Karten hätten spielen und alles übrige
besorgen können, wozu Licht nötig war. Hätte einer dessen Bett in der
beleuchteten Saalhälfte stand, schlafen gehn wollen, so hätte er sich in
eines der freien Betten im Dunkel legen können, denn es standen immer
genug Betten frei und niemand wendete gegen eine derartige vorübergehende
Benützung seines Bettes durch einen Andern etwas ein. Aber es gab keine
Nacht, in der diese Einteilung befolgt worden wäre. Immer wieder fanden
sich z. B. zwei, welche nachdem sie das Dunkel zu etwas Schlaf ausgenützt
hatten, Lust bekamen in ihren Betten auf einem zwischen sie gelegten Brett
Karten zu spielen und natürlich drehten sie eine passende elektrische
Lampe auf, deren stechendes Licht die Schlafenden, wenn sie ihm zugewendet
waren, auffahren ließ. Man wälzte sich zwar noch ein wenig herum, fand
aber schließlich auch nichts besseres zu tun, als mit dem gleichfalls
geweckten Nachbar auch ein Spiel bei neuer Beleuchtung vorzunehmen. Und
wieder dampften natürlich auch alle Pfeifen. Es gab allerdings auch
einige, die um jeden Preis schlafen wollten – Karl gehörte meist zu
ihnen – und die statt den Kopf aufs Kissen zu legen, ihn mit dem Kissen
bedeckten oder hinein einwickelten, aber wie wollte man im Schlafbleiben,
wenn der nächste Nachbar in tiefer Nacht aufstand, um vor dem Dienst noch
ein wenig in der Stadt dem Vergnügen nachzugehn, wenn er in dem am
Kopfende des eigenen Bettes angebrachten Waschbecken laut und wassersprühend
sich wusch, wenn er die Stiefel nicht nur polternd anzog sondern stampfend
sich besser in sie hineintreten wollte – fast alle hatten trotz
amerikanischer Stiefelform zu enge Stiefel – um dann schließlich, da
ihm eine Kleinigkeit in seiner Ausstattung fehlte, das Kissen des
Schlafenden zu heben, unter dem man allerdings schon längst geweckt, nur
darauf wartete, auf ihn loszufahren. Nun waren aber auch alle Sportsleute
und junge meist kräftige Burschen, die keine Gelegenheit zu sportlichen
Übungen versäumen wollten. Und man konnte sicher sein, wenn man in der
Nacht mitten aus dem Schlaf durch großen Lärm geweckt aufsprang, auf dem
Boden neben seinem Bett zwei Ringkämpfer zu finden und bei greller
Beleuchtung auf allen Betten in der Runde aufrecht stehende Sachverständige
in Hemd und Unterhosen. Einmal fiel anläßlich eines solchen nächtlichen
Boxkampfes einer der Kämpfer über den schlafenden Karl und das erste,
was Karl beim Öffnen der Augen erblickte, war das Blut, das dem Jungen
aus der Nase rann und ehe man noch etwas dagegen unternehmen konnte das
ganze Bettzeug überfloß. Oft verbrachte Karl fast die ganzen zwölf
Stunden mit Versuchen, einige Stunden Schlaf zu gewinnen, trotzdem es ihn
auch sehr lockte an den Unterhaltungen der andern teilzunehmen; aber immer
wieder schien es ihm, daß alle andern in ihrem Leben einen Vorsprung vor
ihm hätten, den er durch fleißigere Arbeit und ein wenig
Verzichtleistung ausgleichen müsse. Trotzdem ihm also hauptsächlich
seiner Arbeit wegen am Schlaf sehr gelegen war, beklagte er sich doch
weder gegenüber der Oberköchin noch gegenüber Therese über die Verhältnisse
im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen und Großen alle Jungen
schwer daran ohne sich ernstlich zu beklagen und zweitens war die Plage im
Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner Aufgabe als Liftjunge, die er ja
aus den Händen der Oberköchin dankbar übernommen hatte.
Einmal in der Woche hatte
er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazu
verwendete bei der Oberköchin ein zwei Besuche zu machen und mit Therese
deren kärgliche freie Zeit er abpaßte irgendwo in einem Winkel, auf
einem Korridor und selten nur in ihrem Zimmer einige flüchtige Reden
auszutauschen. Manchmal begleitete er sie auch auf ihren Besorgungen in
der Stadt, die alle höchst eilig ausgeführt werden mußten. Dann liefen
sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der
Untergrundbahn, die Fahrt vergieng im Nu, als werde der Zug ohne jeden
Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten
statt auf den Aufzug zu warten, der ihnen zu langsam war, die Stufen
hinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen
auseinanderflogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen
Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karl und Therese eilten, eng
beisammen in die verschiedenen Bureaux, Waschanstalten, Lagerhäuser und
Geschäfte, in denen telephonisch nicht leicht zu besorgende, im übrigen
nicht besonders verantwortliche Bestellungen oder Beschwerden auszurichten
waren. Therese merkte bald, daß Karls Hilfe hiebei nicht zu verachten
war, daß sie vielmehr in vieles eine große Beschleunigung brachte.
Niemals mußte sie in seiner Begleitung wie sonst oft darauf warten, daß
die überbeschäftigten Geschäftsleute sie anhörten. Er trat an den Pult
und klopfte auf ihn solange mit den Knöcheln, bis es half, er rief über
Menschenmauern sein noch immer etwas überspitztes, aus hundert Stimmen
leicht herauszuhörendes Englisch hin, er gieng auf die Leute ohne Zögern
zu und mochten sie sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäftssäle
zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte jeden
Widerstand, aber er fühlte sich in einer sichern Stellung, die ihm Rechte
gab, das Hotel occidental war eine Kundschaft, deren man nicht spotten
durfte und schließlich war Therese trotz ihrer geschäftlichen Erfahrung
hilfsbedürftig genug. "Sie sollten immer mitkommen", sagte sie
manchmal glücklich lachend, wenn sie von einer besonders gut ausgeführten
Unternehmung kamen.
Nur dreimal während der
anderthalb Monate, die Karl in Ramses blieb, war er längere Zeit über
ein paar Stunden in Thereses Zimmerchen. Es war natürlich kleiner als
irgend ein Zimmer der Oberköchin, die paar Dinge welche darin standen,
waren gewissermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Karl verstand schon
nach seinen Erfahrungen aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen verhältnismäßig
ruhigen Zimmers und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte
Therese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vor
ihm und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem Besuch damals
am ersten Abend noch Geheimnisse vor ihm zu haben. Sie war ein uneheliches
Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die Mutter und das Kind aus
Pommern sich nachkommen lassen, aber als hätte er damit seine Pflicht erfüllt
oder als hätte er andere Menschen erwartet, als die abgearbeitete Frau
und das schwache Kind, die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war
er bald nach ihrer Ankunft ohne viel Erklärungen nach Kanada
ausgewandert, und die Zurückgebliebenen hatten weder einen Brief noch
eine sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu
verwundern war, denn sie waren in den Massenquartieren des New Yorker
Ostens unauffindbar verloren.
Einmal erzählte Therese
– Karl stand neben ihr beim Fenster und sah auf die Straße – vom Tode
ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem Winterabend – sie konnte
damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein – jede mit ihrem Bündel durch
die Straßen eilten, um Schlafstellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst
bei der Hand führte, es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärtszukommen,
bis die Hand erlahmte und sie Therese ohne sich nach ihr umzusehn losließ,
die sich nun Mühe geben mußte, sich selbst an den Röcken der Mutter
festzuhalten. Oft stolperte Therese und fiel sogar, aber die Mutter war
wie in einem Wahn und hielt nicht an. Und diese Schneestürme in den
langen geraden Newyorker Straßen! Karl hatte noch keinen Winter in
Newyork mitgemacht. Geht man gegen den Wind, und der dreht sich im Kreise,
kann man keinen Augenblick die Augen öffnen, immerfort zerreibt einem der
Wind den Schnee auf dem Gesicht, man lauft aber kommt nicht weiter, es ist
etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen Erwachsene im
Vorteil, es lauft unter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freude an
allem. So hatte auch damals Therese ihre Mutter nicht ganz begreifen können
und sie war fest davon überzeugt, daß, wenn sie sich an jenem Abend klüger
– sie war eben noch ein so kleines Kind – zu ihrer Mutter verhalten hätte,
diese nicht einen so jammervollen Tod hätte erleiden müssen. Die Mutter
war damals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück
war mehr vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht
worden und in ihren Bündeln schleppten sie nur unbrauchbare Fetzen mit
sich herum, die sie vielleicht aus Aberglauben sich nicht wegzuwerfen
getrauten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei einem
Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete wie sie Therese den
ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige Gelegenheit nicht ausnützen
zu können, denn sie fühlte sich totmüde, hatte schon am Morgen zum
Schrecken der Passanten auf der Gasse viel Blut gehustet, und ihre einzige
Sehnsucht war, irgendwo in die Wärme zu kommen und sich auszuruhn. Und
gerade an diesem Abend war es unmöglich ein Plätzchen zu bekommen. Dort
wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in
dem man sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können,
durcheilten sie die engen eisigen Korridore, durchstiegen die hohen
Stockwerke, umkreisten die schmalen Terassen der Höfe, klopften wahllos
an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden der
ihnen entgegenkam und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf
der Stufe einer stillen Treppe nieder, riß Therese, die sich fast wehrte,
an sich und küßte sie mit schmerzhaftem Anpressen der Lippen. Wenn man
nachher weiß, daß das die letzten Küsse waren, begreift man nicht, daß
man, und mag man ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das
nicht einzusehn. In manchen Zimmern an denen sie vorüberkamen, waren die
Türen geöffnet um eine erstickende Luft herauszulassen und aus dem
rauchigen Dunst, der wie durch einen Brand verursacht die Zimmer erfüllte,
trat nur die Gestalt irgendjemandes hervor, der im Türrahmen stand und
entweder durch seine stumme Gegenwart oder durch ein kurzes Wort die Unmöglichkeit
eines Unterkommens in dem betreffenden Zimmer bewies. Therese schien es
jetzt im Rückblick, daß die Mutter nur in den ersten Stunden ernstlich
einen Platz suchte, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie
wohl niemanden mehr angesprochen, trotzdem sie mit kleinen Pausen bis zur
Morgendämmerung nicht aufhörte weiterzueilen und trotzdem in diesen Häusern,
in denen weder Haustore noch Wohnungstüren je verschlossen werden,
immerfort Leben ist und einem Menschen auf Schritt und Tritt begegnen. Natürlich
war es kein Laufen, das sie rasch weiterbrachte, sondern es war nur die äußerste
Anstrengung deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut
auch bloß ein Schleichen sein. Therese wußte auch nicht, ob sie von
Mitternacht bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder in zwei oder gar
nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridore dieser Häuser sind nach
schlauen Plänen der besten Raumausnützung aber ohne Rücksicht auf
leichte Orientierung angelegt, wie oft waren sie wohl durch die gleichen
Korridore gekommen! Therese hatte wohl in dunkler Erinnerung, daß sie das
Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht hatten, wieder verließen, aber
ebenso schien es ihr, daß sie auf der Gasse gleich gewendet und wieder in
dieses Haus sich gestürzt hätten. Für das Kind war es natürlich ein
unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihr
festhaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleift zu werden,
und das Ganze schien damals für seinen Unverstand nur die Erklärung zu
haben, daß die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Therese
desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der
Sicherheit halber auch noch mit der andern Hand an den Röcken der Mutter
und heulte in Abständen. Sie wollte nicht hier zurückgelassen werden,
zwischen den Leuten, die vor ihnen die Treppen stampfend emporstiegen, die
hinter ihnen, noch nicht zu sehn, hinter einer Wendung der Treppe
herankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streit mit einander hatten
und einander gegenseitig in das Zimmer hineinstießen. Betrunkene
wanderten mit dumpfem Gesang im Haus umher und glücklich schlüpfte noch
die Mutter mit Therese durch solche sich gerade schließende Gruppen. Gewiß
hätten sie spät in der Nacht, wo man nicht mehr so acht gab und niemand
mehr unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der
allgemeinen von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen können,
an deren einigen sie vorüberkamen, aber Therese verstand es nicht und die
Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem Beginn eines schönen
Wintertags, lehnten sie beide an einer Hausmauer und hatten dort
vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen
herumgestarrt. Es zeigte sich, daß Therese ihr Bündel verloren hatte,
und die Mutter machte sich daran, Therese zur Strafe für die
Unachtsamkeit zu schlagen, aber Therese hörte keinen Schlag und spürte
keinen. Sie giengen dann weiter durch die sich belebenden Gassen, die
Mutter an der Mauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mit der Hand
den Reif vom Geländer streifte und gelangten schließlich, damals hatte
es Therese hingenommen, heute verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau,
zu dem die Mutter für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Therese nicht,
ob sie warten oder weggehn solle, und Therese nahm dies als Befehl zum
Warten, da dies ihren Wünschen am besten entsprach. Sie setzte sich also
auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel aufschnürte,
einen bunten Fetzen herausnahm und damit ihr Kopftuch umband, das sie während
der ganzen Nacht getragen hatte. Therese war zu müde, als daß ihr auch
nur der Gedanke gekommen wäre, der Mutter zu helfen. Ohne sich in der
Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, und ohne jemanden zu fragen,
stieg die Mutter eine Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst welche
Arbeit ihr zugeteilt war. Therese wunderte sich darüber, da die
Handlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kalklöschen, mit dem Hinreichen
der Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäftigt werden. Sie
dachte daher, die Mutter wolle heute eine besser bezahlte Arbeit ausführen
und lächelte verschlafen zu ihr hinauf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum
bis zum Erdgeschoß gediehn, wenn auch schon die hohen Gerüststangen für
den weitern Bau, allerdings noch ohne Verbindungshölzer, zum blauen
Himmel ragten. Oben umgieng die Mutter geschickt die Maurer die Ziegel auf
Ziegel legten und sie unbegreiflicher Weise nicht zur Rede stellten, sie
hielt sich vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag der als Geländer
diente und Therese staunte unten in ihrem Dusel diese Geschicklichkeit an
und glaubte noch einen freundlichen Blick der Mutter erhalten zu haben.
Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu einem kleinen Ziegelhaufen, vor
dem das Geländer und wahrscheinlich auch der Weg aufhörte, aber sie
hielt sich nicht daran, gieng auf den Ziegelhaufen los, ihre
Geschicklichkeit schien sie verlassen zu haben, sie stieß den
Ziegelhaufen um und fiel über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel
rollten ihr nach und schließlich eine ganze Weile später löste sich
irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder. Die letzte
Erinnerung Thereses an ihre Mutter war, wie sie mit auseinandergestreckten
Beinen dalag in dem karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie
jenes auf ihr liegende rohe Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von
allen Seiten zusammenliefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornig
etwas hinunterrief.
Es war spät geworden,
als Therese ihre Erzählung beendet hatte. Sie hatte ausführlich erzählt,
wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war und gerade bei gleichgültigen
Stellen, wie bei der Beschreibung der Gerüststangen, die jede allein für
sich in den Himmel ragten, hatte sie mit Tränen in den Augen innehalten müssen.
Sie wußte jede Kleinigkeit, die damals vorgefallen war jetzt nach zehn
Jahren ganz genau, und weil der Anblick ihrer Mutter oben im halbfertigen
Erdgeschoß das letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie es
ihrem Freunde gar nicht genug deutlich überantworten konnte, wollte sie
nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal darauf zurückkommen,
stockte aber, legte das Gesicht in die Hände und sagte kein Wort mehr.
Es gab aber auch
lustigere Zeiten in Theresens Zimmer. Gleich bei seinem ersten Besuch
hatte Karl dort ein Lehrbuch der kaufmännischen Korrespondenz liegen
gesehn und auf seine Bitte geborgt erhalten. Es wurde gleichzeitig
besprochen, daß Karl die im Buch enthaltenen Aufgaben machen und
Theresen, die das Buch, soweit es für ihre kleinen Arbeiten nötig war,
schon durchstudiert hatte, zur Durchsicht vorlegen solle. Nun lag Karl
ganze Nächte lang, Watte in den Ohren, unten auf seinem Bett im
Schlafsaal, der Abwechslung halber in allen möglichen Lagen, las im Buch
und kritzelte die Aufgaben in ein Heftchen mit einer Füllfeder, die ihm
die Oberköchin zur Belohnung dafür geschenkt hatte, daß er für sie ein
großes Inventurverzeichnis sehr praktisch angelegt und rein ausgeführt
hatte. Es gelang ihm die meisten Störungen der andern Jungen dadurch zum
Guten zu wenden, daß er sich von ihnen immer kleine Ratschläge in der
englischen Sprache geben ließ bis sie dessen müde wurden und ihn in Ruhe
ließen. Oft staunte er, wie die andern mit ihrer gegenwärtigen Lage ganz
ausgesöhnt waren, ihren provisorischen Charakter – ältere als zwanzigjährige
Liftjungen wurden nicht geduldet – gar nicht fühlten, die Notwendigkeit
einer Entscheidung über ihren künftigen Beruf nicht einsahen und trotz
Karls Beispiel nichts anderes lasen, als höchstens Detektivgeschichten,
die in schmutzigen Fetzen von Bett zu Bett gereicht wurden.
Bei den Zusammenkünften
korrigierte nun Therese mit übergroßer Umständlichkeit, es ergaben sich
strittige Ansichten, Karl führte als Zeugen seinen großen Newyorker
Professor an, aber der galt bei Therese ebenso wenig wie die
grammatikalischen Meinungen der Liftjungen. Sie nahm ihm die Füllfeder
aus der Hand und strich die Stelle von deren Fehlerhaftigkeit sie überzeugt
war durch, Karl aber strich in solchen Zweifelfällen, trotzdem im
allgemeinen keine höhere Autorität als Therese, die Sache zu Gesicht
bekommen sollte, aus Genauigkeit die Striche Theresens wieder durch.
Manchmal allerdings kam die Oberköchin und entschied dann immer zu
Theresens Gunsten, was noch nicht beweisend war, denn Therese war ihre
Sekretärin. Gleichzeitig aber brachte sie die allgemeine Versöhnung,
denn es wurde Thee gekocht, Gebäck geholt und Karl mußte von Europa erzählen,
allerdings mit vielen Unterbrechungen von Seiten der Oberköchin, die
immer wieder fragte und staunte, wodurch sie Karl zu Bewußtsein brachte,
wie vieles sich dort in verhältnismäßig kurzer Zeit von Grund aus geändert
hatte und wie vieles wohl auch schon seit seiner Abwesenheit anders
geworden war und immerfort anders wurde.
Karl mochte einen Monat
etwa in Ramses gewesen sein, als ihm eines Abends Renell im Vorübergehn
sagte, er sei vor dem Hotel von einem Mann mit Namen Delamarche
angesprochen und nach Karl ausgefragt worden. Renell habe nun keinen Grund
gehabt etwas zu verschweigen und habe der Wahrheit gemäß erzählt, daß
Karl Liftjunge sei, jedoch Aussicht habe infolge der Protektion der Oberköchin
noch ganz andere Stellen zu bekommen. Karl merkte wie vorsichtig Renell
von Delamarche behandelt worden war, der ihn sogar für diesen Abend zu
einem gemeinsamen Nachtmahl eingeladen hatte. "Ich habe nichts mehr
mit Delamarche zu tun", sagte Karl. "Nimm Du Dich nur auch vor
ihm in Acht! " "Ich? " sagte Renell, streckte sich und
eilte weg. Er war der zierlichste Junge im Hotel und es gieng unter den
andern Jungen, ohne daß man den Urheber wußte, das Gerücht herum, daß
er von einer vornehmen Dame, die schon längere Zeit im Hotel wohnte, im
Lift zumindest abgeküßt worden sei. Für den, der das Gerücht kannte
hatte es unbedingt einen großen Reiz, jene selbstbewußte Dame, in deren
Äußern nicht das Geringste die Möglichkeit eines solchen Benehmens
ahnen ließ, mit ihren ruhigen leichten Schritten, zarten Schleiern,
streng geschnürter Taille an sich vorübergehn zu sehn. Sie wohnte im
ersten Stock und Renells Lift war nicht der ihre, aber man konnte natürlich,
wenn die andern Lifts augenblicklich besetzt waren, solchen Gästen den
Eintritt in einen andern Lift nicht verwehren. So kam es daß diese Dame
hie und da in Karls und Renells Lift fuhr und tatsächlich immer nur wenn
Renell Dienst hatte. Es konnte Zufall sein, aber niemand glaubte daran und
wenn der Lift mit den beiden abfuhr, gab es in der ganzen Reihe der
Liftjungen eine mühsam unterdrückte Unruhe, die schon sogar zum
Einschreiten eines Oberkellners geführt hatte. Sei es nun daß die Dame,
sei es daß das Gerücht die Ursache war, jedenfalls hatte sich Renell verändert,
war noch beiweitem selbstbewußter geworden, überließ das Putzen gänzlich
Karl, der schon auf die nächste Gelegenheit einer gründlichen Aussprache
hierüber wartete, und war im Schlafsaal gar nicht mehr zu sehn. Kein
anderer war so vollständig aus der Gemeinschaft der Liftjungen
ausgetreten, denn im allgemeinen hielten alle zumindest in Dienstfragen
streng zusammen und hatten eine Organisation die von der Hoteldirektion
anerkannt war.
Alles dieses ließ sich
Karl durch den Kopf gehn, dachte auch an Delamarche und verrichtete im übrigen
seinen Dienst wie immer. Gegen Mitternacht hatte er eine kleine
Abwechslung, denn Therese, die ihn öfters mit kleinen Geschenken überraschte,
brachte ihm einen großen Apfel und eine Tafel Chokolade. Sie unterhielten
sich ein wenig, durch die Unterbrechungen, welche die Fahrten mit dem
Aufzug brachten, kaum gestört. Das Gespräch kam auch auf Delamarche und
Karl merkte, daß er sich eigentlich durch Therese hatte beeinflussen
lassen, wenn er ihn seit einiger Zeit für einen gefährlichen Menschen
hielt, denn so erschien er allerdings Therese nach Karls Erzählungen.
Karl jedoch hielt ihn im Grunde nur für einen Lumpen, der durch das Unglück
sich hatte verderben lassen und mit dem man schon auskommen konnte.
Therese widersprach dem aber sehr lebhaft und forderte Karl in langen
Reden das Versprechen ab, kein Wort mit Delamarche mehr zu reden. Statt
dieses Versprechen zu geben, drängte sie Karl wiederholt schlafen zu
gehn, da schon Mitternacht längst vorüber war, und als sie sich
weigerte, drohte er seinen Posten zu verlassen und sie in ihr Zimmer zu führen.
Als sie endlich bereit war wegzugehn, sagte er: "Warum machst Du Dir
so unnötige Sorgen, Therese? Für den Fall, daß Du dadurch besser
schlafen solltest verspreche ich Dir gerne, daß ich mit Delamarche nur
reden werde, wenn es sich nicht vermeiden läßt. " Dann kamen viele
Fahrten, denn der Junge am Nebenlift wurde zu irgend einer andern
Dienstleistung verwendet und Karl mußte beide Lifts besorgen. Es gab Gäste,
die von Unordnung sprachen und ein Herr, der eine Dame begleitete, berührte
Karl sogar leicht mit dem Spazierstock, um ihn zur Eile anzutreiben, eine
Ermahnung, die recht unnötig war. Wenn doch wenigstens die Gäste, da sie
sahen, daß bei dem einen Lift kein Junge stand, gleich zu Karls Lift
getreten wären, aber das taten sie nicht, sondern giengen zu dem
Nebenlift und blieben dort, die Hand an der Klinke stehn oder traten gar
selbst in den Aufzug ein, was nach dem strengsten Paragraphen der
Dienstordnung die Liftjungen um jeden Preis verhüten sollten. So gab es für
Karl ein sehr ermüdendes Hin- und Herlaufen, ohne daß er aber dabei das
Bewußtsein gehabt hätte seine Pflicht genau zu erfüllen. Gegen drei Uhr
früh wollte überdies ein Packträger, ein alter Mann mit dem er ein
wenig befreundet war, irgend eine Hilfeleistung von ihm haben, aber die
konnte er nun keinesfalls leisten, denn gerade standen Gäste vor seinen
beiden Lifts und es gehörte Geistesgegenwart dazu sich sofort mit großen
Schritten für eine Gruppe zu entscheiden. Er war daher glücklich als der
andere Junge wieder antrat und rief ein paar Worte des Vorwurfs wegen
seines langen Ausbleibens zu ihm hinüber, trotzdem er wahrscheinlich
keine Schuld daran hatte. Nach vier Uhr früh trat ein wenig Ruhe ein,
aber Karl brauchte sie auch schon dringend. Er lehnte schwer am Geländer
neben seinem Aufzug, aß langsam den Apfel, aus dem schon nach dem ersten
Biß ein starker Duft strömte, und sah in einen Lichtschacht hinunter,
der von großen Fenstern der Vorratskammern umgeben war, hinter denen hängende
Massen von Bananen im Dunkel gerade noch schimmerten.
VI
Der Fall Robinson
Da klopfte ihm jemand auf
die Schulter. Karl, der natürlich dachte, es wäre ein Gast, steckte den
Apfel eiligst in die Tasche und eilte, kaum daß er den Mann ansah, zum
Aufzug hin. "Guten Abend, Herr Roßmann", sagte nun aber der
Mann, "ich bin es, Robinson." "Sie haben sich aber verändert",
sagte Karl und schüttelte den Kopf. "Ja es geht mir gut", sagte
Robinson und sah an seiner Kleidung hinunter, die vielleicht aus genug
feinen Stücken bestand, aber so zusammengewürfelt war, daß sie geradezu
schäbig aussah. Das Auffallendste war eine offenbar zum erstenmal
getragene weiße Weste mit vier kleinen schwarz eingefaßten Täschchen,
auf die Robinson auch durch Vorstrecken der Brust aufmerksam zu machen
suchte. "Sie haben teuere Kleider", sagte Karl und dachte flüchtig
an sein schönes einfaches Kleid, in dem er sogar neben Renell hätte
bestehen können und das die zwei schlechten Freunde verkauft hatten.
"Ja", sagte Robinson, "ich kaufe mir fast jeden Tag irgend
etwas. Wie gefällt Ihnen die Weste?" "Ganz gut", sagte
Karl. "Es sind aber keine wirklichen Taschen, das ist nur so
gemacht", sagte Robinson und faßte Karl bei der Hand, damit sich
dieser selbst davon überzeuge. Aber Karl wich zurück, denn aus Robinsons
Mund kam ein unerträglicher Branntweingeruch. "Sie trinken wieder
viel", sagte Karl und stand schon wieder am Geländer.
"Nein", sagte Robinson, "nicht viel" und fügte im
Widerspruch zu seiner früheren Zufriedenheit hinzu: "Was hat der
Mensch sonst auf der Welt. " Eine Fahrt unterbrach das Gespräch und,
kaum war Karl wieder unten, erfolgte ein telephonischer Anruf, laut dessen
Karl den Hotelarzt holen sollte, da eine Dame im siebenten Stockwerk einen
Ohnmachtsanfall erlitten hatte. Während dieses Weges hoffte Karl im
Geheimen, daß Robinson sich inzwischen entfernt haben werde, denn er
wollte nicht mit ihm gesehen werden und in Gedanken an Theresens Warnung
auch von Delamarche nichts hören. Aber Robinson wartete noch in der
steifen Haltung eines Vollgetrunkenen und gerade gieng ein höherer
Hotelbeamter im schwarzen Gehrock und Cylinderhut vorüber, ohne glücklicherweise
Robinson, wie es schien, besonders zu beachten. "Wollen Sie Roßmann
nicht einmal zu uns kommen, wir haben es jetzt sehr fein", sagte
Robinson und sah Karl lockend an. "Laden Sie mich ein oder
Delamarche?" fragte Karl. "Ich und Delamarche. Wir sind darin
einig", sagte Robinson. "Dann sage ich Ihnen und bitte Sie
Delamarche das Gleiche auszurichten: Unser Abschied war, wenn das nicht
schon an und für sich klar gewesen sein sollte, ein endgültiger. Sie
beide haben mir mehr Leid getan, als irgend jemand. Haben Sie sich
vielleicht in den Kopf gesetzt, mich auch weiterhin nicht in Ruhe zu
lassen?" "Wir sind doch Ihre Kameraden", sagte Robinson und
widerliche Tränen der Trunkenheit stiegen ihm in die Augen.
"Delamarche läßt Ihnen sagen, daß er Sie für alles Frühere
entschädigen will. Wir wohnen jetzt mit Brunelda zusammen, einer
herrlichen Sängerin. " Und im Anschluß daran wollte er gerade ein
Lied in hohen Tönen singen, wenn ihn nicht Karl noch rechtzeitig
angezischt hätte: "Schweigen Sie aber augenblicklich, wissen Sie
denn nicht, wo Sie sind." "Roßmann", sagte Robinson nur rücksichtlich
des Singens eingeschüchtert, "ich bin doch Ihr Kamerad, sagen Sie,
was Sie wollen. Und nun haben Sie hier so eine schöne Position, könnten
Sie mir einiges Geld überlassen." "Sie vertrinken es ja bloß
wieder", sagte Karl, "da sehe ich sogar in Ihrer Tasche
irgendeine Branntweinflasche aus der Sie gewiß, während ich weg war,
getrunken haben, denn anfangs waren Sie ja noch ziemlich bei Sinnen.
" "Das ist nur zur Stärkung, wenn ich auf einem Wege bin",
sagte Robinson entschuldigend. "Ich will Sie ja nicht mehr
bessern", sagte Karl. "Aber das Geld! " sagte Robinson mit
aufgerissenen Augen. " Sie haben wohl von Delamarche den Auftrag
bekommen Geld mitzubringen. Gut ich gebe Ihnen Geld, aber nur unter der
Bedingung, daß Sie sofort von hier fortgehn und niemals mehr mich hier
besuchen. Wenn Sie mir etwas mitteilen wollen, schreiben Sie an mich. Karl
Roßmann, Liftjunge, Hotel occidental, genügt als Adresse. Aber hier dürfen
Sie, das wiederhole ich, mich nicht mehr aufsuchen. Hier bin ich im Dienst
und habe keine Zeit für Besuche. Wollen Sie also das Geld unter dieser
Bedingung?" fragte Karl und griff in die Westentasche, denn er war
entschlossen, das Trinkgeld der heutigen Nacht zu opfern. Robinson nickte
bloß zu der Frage und atmete schwer. Karl deutete das unrichtig und
fragte nochmals: "Ja oder Nein?"
Da winkte ihn Robinson zu
sich heran und flüsterte unter Schlingbewegungen, die schon ganz deutlich
waren: "Roßmann, mir ist sehr schlecht. " "Zum
Teufel", entfuhr es Karl und mit beiden Händen schleppte er ihn zum
Geländer.
Und schon ergoß es sich
aus Robinsons Mund in die Tiefe. Hilflos strich er in den Pausen die ihm
seine Übelkeit ließ blindlings an Karl hin. "Sie sind wirklich ein
guter Junge", sagte er dann oder "es hört schon auf", was
aber noch lange nicht richtig war, oder "die Hunde, was haben sie mir
dort für ein Zeug eingegossen! " Karl hielt es vor Unruhe und Ekel
bei ihm nicht aus und begann auf und ab zu gehn. Hier im Winkel neben dem
Aufzug war ja Robinson ein wenig versteckt, aber wie wenn ihn doch jemand
bemerkte, einer dieser nervösen reichen Gäste, die nur darauf warten,
dem herbeilaufenden Hotelbeamten eine Beschwerde mitzuteilen, für welche
dieser dann wütend am ganzen Hause Rache nimmt oder wenn einer dieser
immerfort wechselnden Hoteldetektivs vorüberkäme, die niemand kennt außer
die Direktion und die man in jedem Menschen vermutet, der prüfende
Blicke, vielleicht auch bloß aus Kurzsichtigkeit, macht. Und unten
brauchte nur jemand bei dem die ganze Nacht nicht aussetzenden
Restaurationsbetrieb in die Vorratskammern zu gehn, staunend die Scheußlichkeit
im Lichtschacht zu bemerken und Karl telephonisch anzufragen, was denn um
Himmelswillen da oben los sei. Konnte Karl dann Robinson verleugnen? Und
wenn er es täte, würde sich nicht Robinson in seiner Dummheit und
Verzweiflung statt aller Entschuldigung gerade nur auf Karl berufen? Und
mußte dann nicht Karl sofort entlassen werden, da dann das Unerhörte
geschehen war, daß ein Liftjunge, der niedrigste und entbehrlichste
Angestellte in der ungeheueren Stufenleiter der Dienerschaft dieses
Hotels, durch seinen Freund das Hotel hatte beschmutzen und die Gäste
erschrecken oder gar vertreiben lassen? Konnte man einen Liftjungen weiter
dulden, der solche Freunde hatte, von denen er sich überdies während
seiner Dienststunden besuchen ließ? Sah es nicht ganz so aus, als ob ein
solcher Liftjunge selbst ein Säufer oder gar etwas Ärgeres sei, denn
welche Vermutung war einleuchtender, als daß er seine Freunde aus den
Vorräten des Hotels so lange überfütterte, bis sie an einer beliebigen
Stelle dieses gleichen peinlich rein gehaltenen Hotels solche Dinge ausführten,
wie jetzt Robinson? Und warum sollte sich ein solcher Junge auf die Diebstähle
von Lebensmitteln beschränken, da doch die Möglichkeiten zu stehlen, bei
der bekannten Nachlässigkeit der Gäste, den überall offenstehenden Schränken,
den auf den Tischen herumliegenden Kostbarkeiten, den aufgerissenen
Kassetten, den gedankenlos hingeworfenen Schlüsseln wirklich unzählige
waren?
Gerade sah Karl in der
Ferne Gäste aus einem Kellerlokal heraufsteigen, in dem eben eine
Varietevorstellung beendet worden war. Karl stellte sich zu seinem Aufzug
und wagte sich gar nicht nach Robinson umzudrehn aus Furcht vor dem, was
er zu sehn bekommen könnte. Es beruhigte ihn wenig, daß er keinen Laut,
nicht einmal einen Seufzer von dort hörte. Er bediente zwar seine Gäste
und fuhr mit ihnen auf und ab, aber seine Zerstreutheit konnte er doch
nicht ganz verbergen und bei jeder Abwärtsfahrt war er darauf gefaßt,
unten eine peinliche Überraschung vorzufinden.
Endlich hatte er wieder
Zeit nach Robinson zu sehn, der in seinem Winkel ganz klein kauerte und
das Gesicht gegen die Knie drückte. Seinen runden harten Hut hatte er
weit aus der Stirne geschoben. "Also jetzt gehn Sie schon",
sagte Karl leise und bestimmt, "hier ist das Geld. Wenn Sie sich
beeilen, kann ich Ihnen noch den kürzesten Weg zeigen. " "Ich
werde nicht weggehn können", sagte Robinson und wischte sich mit
einem winzigen Taschentuch die Stirn, "ich werde hier sterben. Sie können
sich nicht vorstellen, wie schlecht mir ist. Delamarche nimmt mich überall
in die feinen Lokale mit, aber ich vertrage dieses zimperliche Zeug nicht,
ich sage es Delamarche täglich." "Hier können Sie nun einmal
nicht bleiben", sagte Karl, "bedenken Sie doch wo Sie sind. Wenn
man Sie hier findet, werden Sie bestraft und ich verliere meinen Posten.
Wollen Sie das?" "Ich kann nicht weggehn", sagte Robinson,
"lieber spring ich da hinunter", und er zeigte zwischen den Geländerstangen
in den Lichtschacht. "Wenn ich hier so sitze, so kann ich es noch
ertragen, aber aufstehn kann ich nicht, ich habe es ja schon versucht wie
Sie wegwaren. " "Dann hole ich also einen Wagen, und Sie fahren
ins Krankenhaus", sagte Karl und schüttelte ein wenig Robinsons
Beine, der jeden Augenblick in völlige Teilnahmslosigkeit zu verfallen
drohte. Aber kaum hatte Robinson das Wort Krankenhaus gehört, das ihm
schreckliche Vorstellungen zu erwecken schien, als er laut zu weinen
anfieng und die Hände um Gnade bittend nach Karl ausstreckte.
"Still", sagte
Karl, schlug ihm mit einem Klaps die Hände nieder, lief zu dem
Liftjungen, den er in der Nacht vertreten hatte, bat ihn für ein kleines
Weilchen um die gleiche Gefälligkeit, eilte zu Robinson zurück, zog den
noch immer Schluchzenden mit aller Kraft in die Höhe und flüsterte ihm
zu: "Robinson, wenn Sie wollen, daß ich mich Ihrer annehme, dann
strengen Sie sich aber an, jetzt eine ganz kleine Strecke Wegs aufrecht zu
gehn. Ich führe Sie nämlich in mein Bett, in dem Sie solange bleiben können,
bis Ihnen gut ist. Sie werden staunen, wie bald Sie sich erholen werden.
Aber jetzt benehmen Sie sich nur vernünftig, denn auf den Gängen sind überall
Leute und auch mein Bett ist in einem allgemeinen Schlafsaal. Wenn man auf
Sie auch nur ein wenig aufmerksam wird, kann ich nichts mehr für Sie tun.
Und die Augen müssen Sie offenhalten, ich kann Sie da nicht wie einen
Totkranken herumführen. " "Ich will ja alles tun was Sie für
recht halten", sagte Robinson, "aber Sie allein werden mich
nicht führen können. Könnten Sie nicht noch Renell holen?"
"Renell ist nicht hier", sagte Karl. "Ach ja", sagte
Robinson, "Renell ist mit Delamarche beisammen. Die beiden haben mich
ja um Sie geschickt. Ich verwechsle schon alles. " Karl benützte
diese und andere unverständliche Selbstgespräche Robinsons, um ihn vorwärts
zu schieben und kam mit ihm auch glücklich bis zu einer Ecke, von der aus
ein etwas schwächer beleuchteter Gang zum Schlafsaal der Liftjungen führte.
Gerade jagte in vollem Lauf ein Liftjunge auf sie zu und an ihnen vorüber.
Im übrigen hatten sie bis jetzt nur ungefährliche Begegnungen gehabt;
zwischen vier und fünf Uhr war nämlich die stillste Zeit und Karl hatte
wohl gewußt, daß wenn ihm das Wegschaffen Robinsons jetzt nicht gelänge,
in der Morgendämmerung und im beginnenden Tagesverkehr überhaupt nicht
mehr daran zu denken wäre.
Im Schlafsaal war am
andern Ende des Saales gerade eine große Rauferei oder sonstige
Veranstaltung im Gange, man hörte rythmisches Händeklatschen,
aufgeregtes Füßetrappeln und sportliche Zurufe. In der bei der Tür
gelegenen Saalhälfte sah man in den Betten nur wenige unbeirrte Schläfer,
die meisten lagen auf dem Rücken und starrten in die Luft, während hie
und da einer bekleidet oder unbekleidet wie er gerade war, aus dem Bett
sprang, um nachzusehn, wie die Dinge am andern Saalende standen. So
brachte Karl Robinson, der sich an das Gehen inzwischen ein wenig gewöhnt
hatte, ziemlich unbeachtet in Renells Bett, da es der Tür sehr nahe lag
und glücklicherweise nicht besetzt war, während in seinem eigenen Bett,
wie er aus der Ferne sah, ein fremder Junge, den er gar nicht kannte,
ruhig schlief. Kaum fühlte Robinson das Bett unter sich, als er sofort
– ein Bein baumelte noch aus dem Bett heraus – einschlief. Karl zog
ihm die Decke weit über das Gesicht und glaubte sich für die nächste
Zeit wenigstens keine Sorgen machen zu müssen, da Robinson gewiß nicht
vor sechs Uhr früh erwachen würde, und bis dahin würde er wieder hier
sein und dann schon vielleicht mit Renell ein Mittel finden, um Robinson
wegzubringen. Eine Inspektion des Schlafsaales durch irgendwelche höhere
Organe gab es nur in außerordentlichen Fällen, die Abschaffung der früher
üblichen allgemeinen Inspektion hatten die Liftjungen schon vor Jahren
durchgesetzt, es war also auch von dieser Seite nichts zu fürchten.
Als Karl wieder bei
seinem Aufzug angelangt war, sah er, daß sowohl sein Aufzug, als auch
jener seines Nachbarn gerade in die Höhe fuhren. Unruhig wartete er
darauf, wie sich das aufklären würde. Sein Aufzug kam früher herunter
und es entstieg ihm jener Junge, der vor einem Weilchen durch den Gang
gelaufen war. "Ja wo bist Du denn gewesen Roßmann?" fragte
dieser. "Warum bist Du weggegangen? Warum hast Du es nicht
gemeldet?" "Aber ich habe ihm doch gesagt, daß er mich ein
Weilchen vertreten soll", antwortete Karl und zeigte auf den Jungen
vom Nachbarlift der gerade herankam. "Ich habe ihn doch auch zwei
Stunden während des größten Verkehres vertreten. " "Das ist
alles sehr gut", sagte der Angesprochene, "aber das genügt doch
nicht. Weißt Du denn nicht, daß man auch die kürzeste Abwesenheit während
des Dienstes im Bureau des Oberkellners melden muß. Dazu hast Du ja das
Telephon da. Ich hätte Dich schon gerne vertreten, aber Du weißt ja, daß
das nicht so leicht ist. Gerade waren vor beiden Lifts neue Gäste vom
Vier-Uhr-dreißig-Expreßzug. Ich konnte doch nicht zuerst zu Deinem Lift
laufen und meine Gäste warten lassen, so bin ich also zuerst mit meinem
Lift hinaufgefahren." "Nun?" fragte Karl gespannt, da beide
Jungen schwiegen. "Nun", sagte der Junge vom Nachbarlift,
"da geht gerade der Oberkellner vorüber, sieht die Leute vor Deinem
Lift ohne Bedienung, bekommt Galle, fragt mich, der ich gleich hergerannt
bin, wo Du steckst, ich habe keine Ahnung davon, denn Du hast mir ja gar
nicht gesagt, wohin Du gehst und so telephoniert er gleich in den
Schlafsaal, daß sofort ein anderer Junge herkommen soll. " "Ich
habe Dich ja noch im Gang getroffen", sagte Karls Ersatzmann. Karl
nickte. "Natürlich", beteuerte der andere Junge, "habe ich
gleich gesagt, daß Du mich um Deine Vertretung gebeten hast, aber hört
denn der auf solche Entschuldigungen. Du kennst ihn wahrscheinlich noch
nicht. Und wir sollen Dir ausrichten, daß Du sofort ins Bureau kommen
sollst. Also halte Dich lieber nicht auf und lauf hin. Vielleicht verzeiht
er es Dir noch, Du warst ja wirklich nur zwei Minuten weg. Berufe Dich nur
ruhig auf mich, daß Du mich um Vertretung gebeten hast. Davon daß Du
mich vertreten hast rede lieber nicht, laß Dir raten, mir kann ja nichts
geschehn, ich hatte Erlaubnis, aber es ist nicht gut von einer solchen
Sache zu reden und sie noch in diese Angelegenheit zu mischen, mit der sie
nichts zu tun hat. " "Es ist das erstemal gewesen, daß ich
meinen Posten verlassen habe", sagte Karl. "Das ist immer so,
nur glaubt man es nicht", sagte der Junge und lief zu seinem Lift, da
sich Leute näherten. Karls Vertreter, ein etwa vierzehnjähriger Junge,
der offenbar mit Karl Mitleid hatte, sagte: "Es sind schon viele Fälle
vorgekommen, in denen man solche Sachen verziehen hat. Gewöhnlich wird
man zu andern Arbeiten versetzt. Entlassen wurde soviel ich weiß wegen
einer solchen Sache nur einer. Du mußt Dir nur eine gute Entschuldigung
ausdenken. Auf keinen Fall sag, daß Dir plötzlich schlecht geworden ist,
da lacht er Dich aus. Da ist schon besser, Du sagst, ein Gast hat Dir
irgend eine eilige Bestellung an einen andern Gast aufgegeben und Du weißt
nicht mehr, wer der erste Gast war und den zweiten hast Du nicht finden können.
" "Na", sagte Karl, "es wird nicht so schlimm
werden", nach allem was er gehört hatte, glaubte er an keinen guten
Ausgang mehr. Und wenn selbst diese Dienstversäumnis verziehen werden
sollte, so lag doch drin im Schlafsaal noch Robinson als seine lebendige
Schuld und es war bei dem galligen Charakter des Oberkellners nur zu
wahrscheinlich, daß man sich mit keiner oberflächlichen Untersuchung
begnügen und schließlich doch Robinson noch aufstöbern würde. Es
bestand wohl kein ausdrückliches Verbot, nach dem fremde Leute in den
Schlafsaal nicht mitgenommen werden durften, aber dies bestand nur deshalb
nicht, weil eben unausdenkbare Dinge nicht verboten werden.
Als Karl in das Bureau
des Oberkellners eintrat, saß dieser gerade bei seinem Morgenkaffee,
machte einmal einen Schluck und sah dann wieder in ein Verzeichnis, das
ihm offenbar der gleichfalls anwesende oberste Hotelportier zur
Begutachtung überbracht hatte. Es war dies ein großer Mann, den seine üppige
reichgeschmückte Uniform – noch auf den Achseln und die Arme hinunter
schlängelten sich goldene Ketten und Bänder – noch breitschultriger
machte, als er von Natur aus war. Ein glänzender schwarzer Schnurrbart,
weit in Spitzen ausgezogen so wie ihn Ungarn tragen, rührte sich auch bei
der schnellsten Kopfwendung nicht. Im übrigen konnte sich der Mann
infolge seiner Kleiderlast überhaupt nur schwer bewegen und stellte sich
nicht anders, als mit seitwärts eingestemmten Beinen auf, um sein Gewicht
richtig zu verteilen.
Karl war frei und eilig
eingetreten, wie er es sich hier im Hotel angewöhnt hatte, denn die
Langsamkeit und Vorsicht, die bei Privatpersonen Höflichkeit bedeutet, hält
man bei Liftjungen für Faulheit. Außerdem mußte man ihm auch nicht
gleich beim Eintreten sein Schuldbewußtsein ansehn. Der Oberkellner hatte
zwar flüchtig auf die sich öffnende Türe hingeblickt, war dann aber
sofort zu seinem Kaffee und zu seiner Lektüre zurückgekehrt, ohne sich
weiter um Karl zu kümmern. Der Portier aber fühlte sich vielleicht durch
Karls Anwesenheit gestört, vielleicht hatte er irgend eine geheime
Nachricht oder Bitte vorzutragen, jedenfalls sah er alle Augenblicke bös
und mit steif geneigtem Kopf nach Karl hin, um sich dann wenn er offenbar
seiner Absicht entsprechend mit Karls Blicken zusammengetroffen war,
wieder dem Oberkellner zuzuwenden. Karl aber glaubte, es würde sich nicht
gut ausnehmen, wenn er jetzt, da er nun schon einmal hier war, das Bureau
wieder verlassen würde, ohne vom Oberkellner den Befehl hiezu erhalten zu
haben. Dieser aber studierte weiter das Verzeichnis und aß zwischendurch
von einem Stück Kuchen, von dem er hie und da, ohne im Lesen
innezuhalten, den Zucker abschüttelte. Einmal fiel ein Blatt des
Verzeichnisses zu Boden, der Portier machte nicht einmal einen Versuch es
aufzuheben, er wußte daß er es nicht zustandebrächte, es war auch nicht
nötig, denn Karl war schon zur Stelle und reichte das Blatt dem
Oberkellner, der es ihm mit einer Handbewegung abnahm, als sei es von
selbst vom Boden aufgeflogen. Die ganze kleine Dienstleistung hatte nichts
genützt, denn der Portier hörte auch weiterhin mit seinen bösen Blicken
nicht auf.
Trotzdem war Karl gefaßter
als früher. Schon daß seine Sache für den Oberkellner so wenig
Wichtigkeit zu haben schien, konnte man für ein gutes Zeichen halten. Es
war schließlich auch nur begreiflich. Natürlich bedeutet ein Liftjunge
gar nichts und darf sich deshalb nichts erlauben, aber eben deshalb weil
er nichts bedeutet, kann er auch nichts Außerordentliches anstellen.
Schließlich war der Oberkellner in seiner Jugend selbst Liftjunge gewesen
– was noch der Stolz dieser Generation von Liftjungen war – er war es
gewesen, der die Liftjungen zum ersten mal organisiert hatte und gewiß
hat er auch einmal ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, wenn ihn auch
jetzt allerdings niemand zwingen konnte, sich daran zu erinnern und wenn
man auch nicht außer Acht lassen durfte, daß er gerade als gewesener
Liftjunge darin seine Pflicht sah, diesen Stand durch zeitweilig
unnachsichtliche Strenge in Ordnung zu halten. Nun setzte aber Karl außerdem
seine Hoffnung auf das Vorrücken der Zeit. Nach der Bureauuhr war schon
viertel sechs vorüber, jeden Augenblick konnte Renell zurückkehren,
vielleicht war er sogar schon da, denn es mußte ihm doch aufgefallen
sein, daß Robinson nicht zurückgekommen war, übrigens konnten sich
Delamarche und Renell gar nicht weit vom Hotel occidental aufgehalten
haben, wie Karl jetzt einfiel, denn sonst hätte doch Robinson in seinem
elenden Zustand den Weg hierher nicht gefunden. Wenn nun Renell Robinson
in seinem Bett antraf, was doch geschehen mußte, dann war alles gut. Denn
praktisch wie Renell war, besonders wenn es sich um seine Interessen
handelte, würde er schon Robinson irgendwie gleich aus dem Hotel
entfernen, was ja um so leichter geschehen konnte, da Robinson sich
inzwischen ein wenig gestärkt hatte und überdies wahrscheinlich
Delamarche vor dem Hotel wartete, um ihn in Empfang zu nehmen. Wenn aber
Robinson einmal entfernt war, dann konnte Karl dem Oberkellner viel
ruhiger entgegentreten und für diesmal vielleicht noch mit einer wenn
auch schweren Rüge davonkommen. Dann würde er sich mit Therese beraten,
ob er der Oberköchin die Wahrheit sagen dürfe – er sah für seinen
Teil kein Hindernis – und wenn das möglich war, würde die Sache ohne
besonderen Schaden aus der Welt geschafft sein.
Gerade hatte sich Karl
durch solche Überlegungen ein wenig beruhigt und machte sich daran, das
in dieser Nacht eingenommene Trinkgeld unauffällig zu überzählen, denn
es schien ihm dem Gefühl nach besonders reichlich gewesen zu sein, als
der Oberkellner das Verzeichnis mit den Worten "Warten Sie noch bitte
einen Augenblick Feodor" auf den Tisch legte, elastisch aufsprang und
Karl so laut anschrie, daß dieser erschrocken vorerst nur in das große
schwarze Mundloch starrte.
"Du hast Deinen
Posten ohne Erlaubnis verlassen. Weißt Du was das bedeutet? Das bedeutet
Entlassung. Ich will keine Entschuldigungen hören, Deine erlogenen
Ausreden kannst Du für Dich behalten, mir genügt vollständig die
Tatsache daß Du nicht da warst. Wenn ich das einmal dulde und verzeihe,
werden nächstens alle vierzig Liftjungen während des Dienstes
davonlaufen und ich kann meine fünftausend Gäste allein die Treppen
hinauftragen. "
Karl schwieg. Der Portier
war nähergekommen und zog das Röckchen Karls, das einige Falten warf,
ein wenig tiefer, zweifellos um den Oberkellner auf diese kleine
Unordentlichkeit im Anzug Karls besonders aufmerksam zu machen.
"Ist Dir vielleicht
plötzlich schlecht geworden?" fragte der Oberkellner listig. Karl
sah ihn prüfend an und antwortete: "Nein." "Also nicht
einmal schlecht ist Dir geworden?" schrie der Oberkellner desto stärker.
"Also dann mußt Du ja irgendeine großartige Lüge erfunden haben.
Heraus damit. Was für eine Entschuldigung hast Du?" "Ich habe
nicht gewußt, daß man telephonisch um Erlaubnis bitten muß", sagte
Karl. "Das ist allerdings köstlich", sagte der Oberkellner, faßte
Karl beim Rockkragen und brachte ihn fast in Schwebe vor eine
Dienstordnung der Lifts, die auf der Wand aufgenagelt war. Auch der
Portier gieng hinter ihnen zur Wand hin. "Da! lies! " sagte der
Oberkellner und zeigte auf einen Paragraphen. Karl glaubte er solle es für
sich lesen. "Laut! " kommandierte aber der Oberkellner. Statt
laut zu lesen, sagte Karl in der Hoffnung damit den Oberkellner besser zu
beruhigen: "Ich kenne den Paragraphen, ich habe ja die Dienstordnung
auch bekommen und genau gelesen. Aber gerade eine solche Bestimmung, die
man niemals braucht, vergißt man. Ich diene schon zwei Monate und habe
niemals meinen Posten verlassen. " "Dafür wirst Du ihn jetzt
verlassen", sagte der Oberkellner, gieng zum Tisch hin, nahm das
Verzeichnis wieder zur Hand, als wolle er darin weiterlesen, schlug damit
aber auf den Tisch als sei es ein nutzloser Fetzen und gieng, starke Röte
auf Stirn und Wangen, kreuz und quer im Zimmer herum. "Wegen eines
solchen Bengels hat man das nötig. Solche Aufregungen beim Nachtdienst!
" stieß er einigemal hervor. "Wissen Sie wer gerade
hinauffahren wollte, als dieser Kerl hier vom Lift weggelaufen ist?"
wandte er sich zum Portier. Und er nannte einen Namen, bei dem es den
Portier, der gewiß alle Gäste kannte und bewerten konnte, so schauderte,
daß er schnell auf Karl hinsah, als sei nur dessen Existenz eine Bestätigung
dessen, daß der Träger jenes Namens eine Zeitlang bei einem Lift dessen
Junge weggelaufen war, nutzlos hatte warten müssen. "Das ist
schrecklich!" sagte der Portier und schüttelte langsam in
grenzenloser Beunruhigung den Kopf gegen Karl hin, welcher ihn traurig
ansah und dachte, daß er nun auch für die Begriffstützigkeit dieses
Mannes werde büßen müssen. "Ich kenne Dich übrigens auch
schon", sagte der Portier und streckte seinen dicken großen steif
gespannten Zeigefinger aus. "Du bist der einzige Junge, welcher mich
grundsätzlich nicht grüßt. Was bildest Du Dir eigentlich ein! Jeder der
an der Portierloge vorübergeht muß mich grüßen. Mit den übrigen
Portiers kannst Du es halten, wie Du willst, ich aber verlange gegrüßt
zu werden. Ich tue zwar manchmal so, als ob ich nicht aufpaßte, aber Du
kannst ganz ruhig sein, ich weiß sehr genau, wer mich grüßt oder nicht,
Du Lümmel. " Und er wandte sich von Karl ab und schritt
hochaufgerichtet auf den Oberkellner zu, der aber statt sich zu des
Portiers Sache zu äußern, sein Frühstück beendete und eine
Morgenzeitung überflog, die ein Diener eben ins Zimmer hereingereicht
hatte.
"Herr
Oberportier", sagte Karl, der während der Unachtsamkeit des
Oberkellners wenigstens die Sache mit dem Portier ins Reine bringen
wollte, denn er begriff, daß ihm vielleicht der Vorwurf des Portiers
nicht schaden konnte, wohl aber dessen Feindschaft, "ich grüße Sie
ganz gewiß. Ich bin doch noch nicht lange in Amerika und stamme aus
Europa, wo man bekanntlich viel mehr grüßt, als nötig ist. Das habe ich
mir natürlich noch nicht ganz abgewöhnen können und noch vor zwei
Monaten hat man mir in New York, wo ich zufällig in höheren Kreisen
verkehrte, bei jeder Gelegenheit zugeredet, mit meiner übertriebenen Höflichkeit
aufzuhören. Und da sollte ich gerade Sie nicht gegrüßt haben. Ich habe
Sie jeden Tag einigemal gegrüßt. Aber natürlich nicht jedesmal wenn ich
Sie gesehen habe, da ich doch täglich hundertmal an Ihnen vorüberkomme.
" "Du hast mich jedesmal zu grüßen, jedesmal ohne Ausnahme, Du
hast die ganze Zeit, während Du mit mir sprichst die Kappe in der Hand zu
halten, Du hast mich immer mit Oberportier anzureden und nicht mit Sie.
Und alles das jedesmal und jedesmal. " "Jedesmal?"
wiederholte Karl leise und fragend, er erinnerte sich jetzt, wie er vom
Portier während der ganzen Zeit seines hiesigen Aufenthaltes immer streng
und vorwurfsvoll angeschaut worden war, schon von jenem ersten Morgen, an
dem er, seiner dienenden Stellung noch nicht recht angepaßt, etwas zu kühn,
diesen Portier ohne weiters umständlich und dringlich ausgefragt hatte,
ob nicht zwei Männer vielleicht nach ihm gefragt und etwa eine
Photographie für ihn zurückgelassen hätten. "Jetzt siehst Du,
wohin ein solches Benehmen führt", sagte der Portier, der wieder
ganz nahe zu Karl zurückgekehrt war und zeigte auf den noch lesenden
Oberkellner, als sei dieser der Vertreter seiner Rache. "In Deiner nächsten
Stellung wirst Du es schon verstehn, den Portier zu grüßen und wenn es
auch nur vielleicht in einer elenden Spelunke sein wird. "
Karl sah ein, daß er
eigentlich seinen Posten schon verloren hatte, denn der Oberkellner hatte
es bereits ausgesprochen, der Oberportier als fertige Tatsache wiederholt
und wegen eines Liftjungen dürfte wohl die Bestätigung der Entlassung
seitens der Hoteldirektion nicht nötig sein. Es war allerdings schneller
gegangen, als er gedacht hatte, denn schließlich hatte er doch zwei
Monate gedient so gut er konnte und gewiß besser als mancher andere
Junge. Aber auf solche Dinge wird eben im entscheidenden Augenblick
offenbar in keinem Weltteil, weder in Europa noch in Amerika Rücksicht
genommen, sondern es wird so entschieden, wie einem in der ersten Wut das
Urteil aus dem Munde fährt. Vielleicht wäre es jetzt am besten gewesen,
wenn er sich gleich verabschiedet hätte und weggegangen wäre, die Oberköchin
und Therese schliefen vielleicht noch, er hätte sich, um ihnen die Enttäuschung
und Trauer über sein Benehmen wenigstens beim persönlichen Abschied zu
ersparen, brieflich verabschieden können, hätte rasch seinen Koffer
packen und in der Stille fortgehn können. Blieb er aber auch nur einen
Tag noch – und er hätte allerdings ein wenig Schlaf gebraucht – so
erwartete ihn nichts anderes, als Aufbauschung seiner Sache zum Skandal,
Vorwürfe von allen Seiten, der unerträgliche Anblick der Tränen
Thereses und vielleicht gar der Oberköchin und möglicherweise
zuguterletzt auch noch eine Bestrafung. Andererseits aber beirrte es ihn,
daß er hier zwei Feinden gegenüberstand und daß an jedem Wort, das er
aussprechen würde, wenn nicht der eine, so der andere etwas aussetzen und
zum Schlechten deuten würde. Deshalb schwieg er und genoß vorläufig die
Ruhe, die im Zimmer herrschte, denn der Oberkellner las noch immer die
Zeitung und der Oberportier ordnete sein über den Tisch hin verstreutes
Verzeichnis nach den Seitenzahlen, was ihm bei seiner offenbaren
Kurzsichtigkeit große Schwierigkeiten machte.
Endlich legte der
Oberkellner die Zeitung gähnend hin, vergewisserte sich durch einen Blick
auf Karl daß dieser noch anwesend sei und drehte die Glocke des
Tischtelephons an. Er rief mehrere Male Halloh, aber niemand meldete sich.
"Es meldet sich niemand", sagte er zum Oberportier. Dieser, der
das Telephonieren wie es Karl schien, mit besonderem Interesse
beobachtete, sagte: "Es ist ja schon dreiviertel sechs. Sie ist gewiß
schon wach. Läuten Sie nur stärker. " In diesem Augenblick kam,
ohne weitere Aufforderung das telephonische Gegenzeichen. "Hier
Oberkellner Isbary", sagte der Oberkellner. "Guten Morgen Frau
Oberköchin. Ich habe Sie doch nicht am Ende geweckt. Das tut mir sehr
leid. Ja, ja, dreiviertel sechs ist schon. Aber das tut mir aufrichtig
leid, daß ich Sie erschreckt habe. Sie sollten während des Schlafens das
Telephon abstellen. Nein, nein tatsächlich, es gibt für mich keine
Entschuldigung, besonders bei der Geringfügigkeit der Sache wegen deren
ich Sie sprechen will. Aber natürlich habe ich Zeit, bitte sehr, ich
bleibe beim Telephon wenn es Ihnen recht ist. " "Sie muß im
Nachthemd zum Telephon gelaufen sein", sagte der Oberkellner lächelnd
zum Oberportier, der die ganze Zeit über mit gespanntem Gesichtsausdruck
zum Telephonkasten sich gebückt gehalten hatte. "Ich habe sie
wirklich geweckt, sie wird nämlich sonst von dem kleinen Mädel, das bei
ihr auf der Schreibmaschine schreibt, geweckt und die muß es heute
ausnahmsweise versäumt haben. Es tut mir leid, daß ich sie aufgeschreckt
habe, sie ist so wie so nervös." "Warum spricht sie nicht
weiter?" "Sie ist nachschauen gegangen, was mit dem Mädel los
ist", antwortete der Oberkellner schon mit der Muschel am Ohr, denn
es läutete wieder. "Sie wird sich schon finden", redete er
weiter ins Telephon hinein. "Sie dürfen sich nicht von allem so
erschrecken lassen, Sie brauchen wirklich eine gründliche Erholung. Ja
also meine kleine Anfrage. Es ist da ein Liftjunge, namens" – er
drehte sich fragend nach Karl um, der, da er genau aufpaßte gleich mit
seinem Namen aushelfen konnte – "also namens Karl Roßmann, wenn
ich mich recht erinnere, so haben Sie sich für ihn ein wenig
interessiert; leider hat er Ihre Freundlichkeit schlecht belohnt, er hat
ohne Erlaubnis seinen Posten verlassen, hat mir dadurch schwere jetzt noch
gar nicht übersehbare Unannehmlichkeiten verursacht und ich habe ihn
daher soeben entlassen. Ich hoffe Sie nehmen die Sache nicht tragisch. Wie
meinen Sie? Entlassen, ja entlassen. Aber ich sagte Ihnen doch, daß er
seinen Posten verlassen hat. Nein da kann ich Ihnen wirklich nicht
nachgeben liebe Frau Oberköchin. Es handelt sich um meine Autorität, da
steht viel auf dem Spiel, so ein Junge verdirbt mir die ganze Bande.
Gerade bei den Liftjungen muß man teuflisch aufpassen. Nein, nein, in
diesem Falle kann ich Ihnen den Gefallen nicht tun, so sehr ich es mir
immer angelegen sein lasse Ihnen gefällig zu sein. Und wenn ich ihn schon
trotz allem hier ließe, zu keinem andern Zweck als um meine Galle in Tätigkeit
zu erhalten, Ihretwegen, ja Ihretwegen Frau Oberköchin kann er nicht
hierbleiben. Sie nehmen einen Anteil an ihm, den er durchaus nicht
verdient und da ich nicht nur ihn kenne, sondern auch Sie, weiß ich, daß
das zu den schwersten Enttäuschungen für Sie führen müßte, die ich
Ihnen um jeden Preis ersparen will. Ich sage das ganz offen, trotzdem der
verstockte Junge paar Schritte vor mir steht. Er wird entlassen, nein nein
Frau Oberköchin, er wird vollständig entlassen, nein nein er wird zu
keiner andern Arbeit versetzt, er ist vollständig unbrauchbar. Übrigens
laufen ja auch sonst Beschwerden gegen ihn ein. Der Oberportier z. B. ja
also was denn, Feodor, ja beklagt sich über die Unhöflichkeit und
Frechheit dieses Jungen. Wie, das soll nicht genügen? Ja liebe Frau Oberköchin
Sie verläugnen wegen dieses Jungen Ihren Charakter. Nein so dürfen Sie
mir nicht zusetzen. "
In diesem Augenblick
beugte sich der Portier zum Ohr des Oberkellners und flüsterte etwas. Der
Oberkellner sah ihn zuerst erstaunt an und redete dann so rasch in das
Telephon, daß Karl ihn anfangs nicht ganz genau verstand und auf den Fußspitzen
zwei Schritte nähertrat.
"Liebe Frau Oberköchin",
hieß es, "aufrichtig gesagt, ich hätte nicht geglaubt, daß Sie
eine so schlechte Menschenkennerin sind. Eben erfahre ich etwas über
Ihren Engelsjungen, was Ihre Meinung über ihn gründlich ändern wird und
es tut mir fast leid, daß gerade ich es Ihnen sagen muß. Dieser feine
Junge also, den Sie ein Muster von Anstand nennen, läßt keine
dienstfreie Nacht vergehn, ohne in die Stadt zu laufen, aus der er erst am
Morgen wiederkommt. Ja ja Frau Oberköchin das ist durch Zeugen bewiesen,
durch einwandfreie Zeugen, ja. Können Sie mir nun vielleicht sagen, wo er
das Geld zu diesen Lustbarkeiten hernimmt Wie er die Aufmerksamkeit für
seinen Dienst behalten soll? Und wollen Sie vielleicht auch noch, daß ich
Ihnen beschreiben soll, was er in der Stadt treibt? Diesen Jungen
loszuwerden, will ich mich aber ganz besonders beeilen. Und Sie bitte
nehmen das als Mahnung, wie vorsichtig man gegen hergelaufene Burschen
sein soll. "
"Aber Herr
Oberkellner", rief nun Karl, förmlich erleichtert durch den großen
Irrtum, der hier unterlaufen schien, und der vielleicht am ehesten dazu führen
konnte, daß sich alles noch unerwartet besserte, "da liegt bestimmt
eine Verwechslung vor. Ich glaube, der Herr Oberportier hat Ihnen gesagt,
daß ich jede Nacht weggehe. Das ist aber durchaus nicht richtig, ich bin
vielmehr jede Nacht im Schlafsaal, das können alle Jungen bestätigen.
Wenn ich nicht schlafe lerne ich kaufmännische Korrespondenz, aber aus
dem Schlafsaal rühre ich mich keine Nacht. Das ist ja leicht zu beweisen.
Der Herr Oberportier verwechselt mich offenbar mit jemand anderm und jetzt
verstehe ich auch, warum er glaubt daß ich ihn nicht grüße. "
"Wirst Du sofort
schweigen", schrie der Oberportier und schüttelte die Faust, wo
andere einen Finger bewegt hätten, "ich soll Dich mit jemand andern
verwechseln. Ja dann kann ich nicht mehr Oberportier sein, wenn ich die
Leute verwechsle. Hören Sie nur, Herr Isbary, dann kann ich nicht mehr
Oberportier sein, nun ja, wenn ich die Leute verwechsle. In meinen dreißig
Dienstjahren ist mir allerdings noch keine Verwechslung passiert, wie mir
hunderte von Herren Oberkellnern, die wir seit jener Zeit hatten, bestätigen
müssen, aber bei Dir miserabler Junge soll ich mit den Verwechslungen
angefangen haben. Bei Dir, mit Deiner auffallenden glatten Fratze. Was
gibt es da zu verwechseln, Du könntest jede Nacht hinter meinem Rücken
in die Stadt gelaufen sein und ich bestätige bloß nach Deinem Gesicht,
daß Du ein ausgegohrener Lump bist. "
"Laß Feodor!"
sagte der Oberkellner, dessen telephonisches Gespräch mit der Oberköchin
plötzlich abgebrochen worden zu sein schien. "Die Sache ist ja ganz
einfach. Auf seine Unterhaltungen in der Nacht kommt es ja in erster Reihe
gar nicht an. Er möchte ja vielleicht vor seinem Abschied noch irgend
eine große Untersuchung über seine Nachtbeschäftigung verursachen
wollen. Ich kann mir schon vorstellen daß ihm das gefallen würde. Es würden
womöglich alle vierzig Liftjungen heraufcitiert und als Zeugen
einvernommen, die würden ihn natürlich auch alle verwechselt haben, es müßte
also allmählich das ganze Personal zur Zeugenschaft heran, der
Hotelbetrieb würde natürlich auf ein Weilchen eingestellt und wenn er
dann schließlich doch herausgeworfen würde, so hätte er doch wenigstens
seinen Spaß gehabt. Also das machen wir lieber nicht. Die Oberköchin,
diese gute Frau, hat er schon zum Narren gehalten und damit soll es genug
sein. Ich will nichts weiter hören, Du bist wegen Dienstversäumnis auf
der Stelle aus dem Dienst entlassen. Da gebe ich Dir eine Anweisung an die
Kasse, daß Dir Dein Lohn bis zum heutigen Tag ausgezahlt werde. Das ist
übrigens bei Deinem Verhalten, unter uns gesagt, einfach ein Geschenk,
das ich Dir nur aus Rücksicht auf die Frau Oberköchin mache. "
Ein telephonischer Anruf
hielt den Oberkellner ab, die Anweisung sofort zu unterschreiben.
"Die Liftjungen geben mir aber heute zu schaffen! " rief er
schon nach Anhören der ersten Worte. "Das ist ja unerhört!"
rief er nach einem Weilchen. Und vom Telephon weg wandte er sich zum
Hotelportier und sagte: "Bitte Feodor halt mal diesen Burschen ein
wenig, wir werden noch mit ihm zu reden haben." Und ins Telephon gab
er den Befehl: "Komm sofort herauf! "
Nun konnte sich der
Oberportier wenigstens austoben, was ihm beim Reden nicht hatte gelingen
wollen. Er hielt Karl oben am Arm fest, aber nicht etwa mit ruhigem Griff,
der schließlich auszuhalten gewesen wäre, sondern er lokkerte hie und da
den Griff und machte ihn dann mit Steigerung fester und fester, was bei
seinen großen Körperkräften gar nicht aufzuhören schien und ein Dunkel
vor Karls Augen verursachte. Aber er hielt Karl nicht nur, sondern als hätte
er auch den Befehl bekommen ihn gleichzeitig zu strecken, zog er ihn auch
hie und da in die Höhe und schüttelte ihn, wobei er immer wieder halb
fragend zum Oberkellner sagte: "Ob ich ihn jetzt nur nicht
verwechsle, ob ich ihn jetzt nur nicht verwechsle. "
Es war eine Erlösung für
Karl, als der oberste der Liftjungen, ein gewisser Bess, ein ewig
fauchender dicker Junge eintrat und die Aufmerksamkeit des Oberportiers
ein wenig auf sich lenkte. Karl war so ermattet, daß er kaum grüßte,
als er zu seinem Staunen hinter dem Jungen Therese leichenblaß,
unordentlich angezogen, mit lose aufgesteckten Haaren hereinschlüpfen
sah. Im Augenblick war sie bei ihm und flüsterte: "Weiß es schon
die Oberköchin?" "Der Oberkellner hat es ihr
telephoniert", antwortete Karl. "Dann ist schon gut, dann ist
schon gut", sagte sie rasch mit lebhaften Augen. "Nein",
sagte Karl, "Du weißt ja nicht, was sie gegen mich haben. Ich muß
weg, die Oberköchin ist davon auch schon überzeugt. Bitte bleib nicht
hier, geh hinauf, ich werde mich dann von Dir verabschieden kommen."
"Aber Roßmann, was fällt Dir denn ein. Du wirst schön bei uns
bleiben, so lange es Dir gefällt. Der Oberkellner macht ja alles, was die
Oberköchin will, er liebt sie ja, ich habe es letzthin zufällig
erfahren. Da sei nur ruhig. " "Bitte Therese geh jetzt weg. Ich
kann mich nicht so gut verteidigen wenn Du hier bist. Und ich muß mich
genau verteidigen, weil Lügen gegen mich vorgebracht werden. Je besser
ich aber aufpassen und mich verteidigen kann, desto mehr Hoffnung ist, daß
ich bleibe. Also, Therese – " Leider konnte er in einem plötzlichen
Schmerz nicht unterlassen leise hinzuzufügen: "Wenn mich nur dieser
Oberportier loslassen würde! Ich wußte gar nicht daß er mein Feind ist.
Aber wie er mich immerfort drückt und zieht. " "Warum sage ich
das nur! " dachte er gleichzeitig, "kein Frauenzimmer kann das
ruhig anhören" und tatsächlich wendete sich Therese, ohne daß er
sie noch mit der freien Hand hätte davon abhalten können, an den
Oberportier: "Herr Oberportier bitte lassen Sie doch sofort den Roßmann
frei. Sie machen ihm ja Schmerzen. Die Frau Oberköchin wird gleich persönlich
kommen und dann wird man schon sehn, daß ihm in allem Unrecht geschieht.
Lassen Sie ihn los, was kann es Ihnen denn für ein Vergnügen machen ihn
zu quälen. " Und sie griff sogar nach des Oberportiers Hand.
"Befehl kleines Fräulein, Befehl", sagte der Oberportier und
zog mit der freien Hand Therese freundlich an sich, während er mit der
andern Karl nun sogar angestrengt drückte, als wolle er ihm nicht nur
Schmerzen machen, sondern als habe er mit diesem in seinem Besitz
befindlichen Arm ein besonderes Ziel, das noch lange nicht erreicht sei.
Therese brauchte einige
Zeit um sich der Umarmung des Oberportiers zu entwinden und wollte sich
gerade beim Oberkellner, der noch immer von dem sehr umständlichen Bess
sich erzählen ließ, für Karl einsetzen, als die Oberköchin mit raschem
Schritte eintrat. "Gottseidank", rief Therese und man hörte
einen Augenblick im Zimmer nichts als diese lauten Worte. Gleich sprang
der Oberkellner auf und schob Bess zur Seite: "Sie kommen also selbst
Frau Oberköchin. Wegen dieser Kleinigkeit? Nach unserem Telephongespräch
konnte ich es ja ahnen, aber geglaubt habe ich es eigentlich doch nicht.
Und dabei wird die Sache Ihres Schützlings immerfort ärger. Ich fürchte
ich werde ihn tatsächlich nicht entlassen aber dafür einsperren lassen müssen.
Hören Sie selbst! " Und er winkte Bess herbei. "Ich möchte
zuerst paar Worte mit dem Roßmann reden", sagte die Oberköchin und
setzte sich auf einen Sessel, da sie der Oberkellner hiezu nötigte.
"Karl bitte komm näher", sagte sie dann. Karl folgte oder wurde
vielmehr vom Oberportier nähergeschleppt. "Lassen Sie ihn doch
los", sagte die Oberköchin ärgerlich, "er ist doch kein Raubmörder.
" Der Oberportier ließ ihn tatsächlich los, drückte aber vorher
noch einmal so stark, daß ihm selbst vor Anstrengung die Tränen in die
Augen traten.
"Karl", sagte
die Oberköchin, legte die Hände ruhig in den Schoß und sah Karl mit
geneigtem Kopfe an – es war gar nicht wie ein Verhör – "vor
allem will ich Dir sagen, daß ich noch vollständiges Vertrauen zu Dir
habe. Auch der Herr Oberkellner ist ein gerechter Mann, dafür bürge ich.
Wir beide wollen Dich im Grunde gerne hierbehalten. " – Sie sah
hiebei flüchtig zum Oberkellner hinüber, als wolle sie bitten, ihr nicht
ins Wort zu fallen. Es geschah auch nicht – "Vergiß also, was man
Dir bis jetzt vielleicht hier gesagt hat. Vor allem was Dir vielleicht der
Herr Oberportier gesagt hat, mußt Du nicht besonders schwer nehmen. Er
ist zwar ein aufgeregter Mann, was bei seinem Dienst kein Wunder ist, aber
er hat auch Frau und Kinder und weiß, daß man einen Jungen, der nur auf
sich angewiesen ist, nicht unnötig plagen muß, sondern daß das schon
die übrige Welt genügend besorgt. "
Es war ganz still im
Zimmer. Der Oberportier sah Erklärungen fordernd auf den Oberkellner,
dieser sah auf die Oberköchin und schüttelte den Kopf. Der Liftjunge
Bess grinste recht sinnlos hinter dem Rücken des Oberkellners. Therese
schluchzte vor Freude und Leid in sich hinein und hatte alle Mühe es
niemanden hören zu lassen.
Karl aber blickte,
trotzdem das nur als schlechtes Zeichen aufgefaßt werden konnte, nicht
auf die Oberköchin, die gewiß nach seinem Blick verlangte, sondern vor
sich auf den Fußboden. In seinem Arm zuckte der Schmerz nach allen
Richtungen, das Hemd klebte an dem Striemen fest und er hätte eigentlich
den Rock ausziehn und die Sache besehen sollen. Was die Oberköchin sagte,
war natürlich sehr freundlich gemeint, aber unglücklicher Weise schien
es ihm, als müsse es gerade durch das Verhalten der Oberköchin zu Tage
treten, daß er keine Freundlichkeit verdiene, daß er die Wohltaten der
Oberköchin zwei Monate unverdient genossen habe, ja daß er nichts
anderes verdiene, als unter die Hände des Oberportiers zu kommen.
"Ich sage das",
fuhr die Oberköchin fort, "damit Du jetzt unbeirrt antwortest, was
Du übrigens wahrscheinlich auch sonst getan hättest, wie ich Dich zu
kennen glaube. "
"Darf ich bitte
inzwischen den Arzt holen, der Mann könnte nämlich inzwischen
verbluten", mischte sich plötzlich der Liftjunge Bess sehr höflich,
aber sehr störend ein.
"Geh", sagte
der Oberkellner zu Bess, der gleich davonlief. Und dann zur Oberköchin:
"Die Sache ist die. Der Oberportier hat den Jungen da nicht zum Spaß
festgehalten. Unten im Schlafsaal der Liftjungen ist nämlich in einem
Bett sorgfältig zugedeckt ein wildfremder schwer betrunkener Mann
aufgefunden worden. Man hat ihn natürlich geweckt und wollte ihn
wegschaffen. Da hat dieser Mann aber einen großen Radau zu machen
angefangen, immer wieder herumgeschrien, der Schlafsaal gehöre dem Karl
Roßmann, dessen Gast er sei, der ihn hergebracht habe und der jeden
bestrafen werde, der ihn anzurühren wagen würde. Im übrigen müsse er
auch deshalb auf den Karl Roßmann warten, weil ihm dieser Geld
versprochen habe und es nur holen gegangen sei. Achten Sie bitte darauf;
Frau Oberköchin: Geld versprochen habe und es holen gegangen sei. Du
kannst auch acht geben Roßmann", sagte der Oberkellner nebenbei zu
Karl, der sich gerade nach Therese umgedreht hatte, die wie gebannt den
Oberkellner anstarrte, und die immer wieder entweder irgendwelche Haare
aus der Stirn strich oder diese Handbewegung um ihrer selbst willen
machte. "Aber vielleicht erinnere ich Dich an irgendwelche
Verpflichtungen. Der Mann unten hat nämlich weiterhin gesagt, daß ihr
beide nach Deiner Rückkunft einen Nachtbesuch bei irgendeiner Sängerin
machen werdet, deren Namen allerdings niemand verstanden hat, da ihn der
Mann immer nur unter Gesang aussprechen konnte. "
Hier unterbrach sich der
Oberkellner, denn die sichtlich ’bleich gewordene Oberköchin erhob sich
vom Sessel, den sie ein wenig zurückstieß. "Ich verschone Sie mit
dem weitern", sagte der Oberkellner. "Nein bitte nein",
sagte die Oberköchin und ergriff seine Hand, "erzählen Sie nur
weiter, ich will alles hören, darum bin ich ja hier. " Der
Oberportier, der vortrat und sich zum Zeichen dessen, daß er von Anfang
an alles durchschaut hatte, laut auf die Brust schlug, wurde vom
Oberkellner mit den Worten: "Ja Sie hatten ganz recht Feodor! "
gleichzeitig beruhigt und zurückgewiesen.
"Es ist nicht mehr
viel zu erzählen", sagte der Oberkellner. "Wie die Jungen eben
schon sind, haben sie den Mann zuerst ausgelacht, haben dann mit ihm
Streit bekommen und er ist, da dort immer gute Boxer zur Verfügung stehn,
einfach niedergeboxt worden und ich habe gar nicht zu fragen gewagt, an
welchen und an wieviel Stellen er blutet, denn diese Jungen sind fürchterliche
Boxer und ein Betrunkener macht es ihnen natürlich leicht. "
"So", sagte die
Oberköchin, hielt den Sessel an der Lehne und sah auf den Platz, den sie
eben verlassen hatte. "Also sprich doch bitte ein Wort Roßmann!"
sagte sie dann. Therese war von ihrem bisherigen Platz zur Oberköchin hinübergelaufen
und hatte sich, was sie Karl sonst niemals hatte tun sehn, in die Oberköchin
eingehängt. Der Oberkellner stand knapp hinter der Oberköchin und glättete
langsam einen kleinen bescheidenen Spitzenkragen der Oberköchin, der sich
ein wenig umgeschlagen hatte. Der Oberportier neben Karl sagte: "Also
wirds?" wollte damit aber nur einen Stoß maskieren, den er
unterdessen Karl in den Rücken gab.
"Es ist wahr",
sagte Karl infolge des Stoßes unsicherer als er wollte, "daß ich
den Mann in den Schlafsaal gebracht habe. "
"Mehr wollen wir
nicht wissen", sagte der Portier im Namen aller. Die Oberköchin
wandte sich stumm zum Oberkellner und dann zu Therese.
"Ich konnte mir
nicht anders helfen", sagte Karl weiter. "Der Mann ist mein
Kamerad von früher her, er kam, nachdem wir uns zwei Monate lang nicht
gesehen hatten, hierher, um mir einen Besuch zu machen, war aber so
betrunken, daß er nicht wieder allein fortgehn konnte. "
Der Oberkellner sagte
neben der Oberköchin halblaut vor sich hin: "Er kam also zu Besuch
und war nachher so betrunken, daß er nicht fortgehn konnte. " Die
Oberköchin flüsterte über die Schulter dem Oberkellner etwas zu, der
mit einem offenbar nicht zu dieser Sache gehörigen Lächeln Einwände zu
machen schien. Therese – Karl sah nur zu ihr hin – drückte ihr
Gesicht in völliger Hilflosigkeit an die Oberköchin und wollte nichts
mehr sehn. Der Einzige der mit Karls Erklärung vollständig zufrieden
war, war der Oberportier, welcher einigemal wiederholte: "Es ist ja
ganz recht, seinem Saufbruder muß man helfen" und diese Erklärung
jedem der Anwesenden durch Blicke und Handbewegungen einzuprägen suchte.
"Schuld also bin
ich", sagte Karl und machte eine Pause, als warte er auf ein
freundliches Wort seiner Richter, das ihm Mut zur weitern Verteidigung
geben könnte, aber es kam nicht, "schuld bin ich nur daran, daß ich
den Mann, er heißt Robinson, ist ein Irländer, in den Schlafsaal
gebracht habe. Alles andere, was er gesagt hat, hat er aus Betrunkenheit
gesagt und es ist nicht richtig. "
"Du hast ihm also
kein Geld versprochen?" fragte der Oberkellner.
"Ja", sagte
Karl und es tat ihm leid, daß er daran vergessen hatte, er hatte sich aus
Unüberlegtheit oder Zerstreutheit in allzu bestimmten Ausdrücken als
schuldlos bezeichnet. "Geld habe ich ihm versprochen, weil er mich
darum gebeten hat. Aber ich wollte es nicht holen, sondern ihm das
Trinkgeld geben, das ich heute Nacht verdient hatte." Und er zog zum
Beweise das Geld aus der Tasche und zeigte auf der flachen Hand die paar
kleinen Münzen.
"Du verrennst Dich
immer mehr", sagte der Oberkellner. "Wenn man Dir glauben
sollte, müßte man immer das was Du früher gesagt hast vergessen. Zuerst
hast Du also den Mann – nicht einmal den Namen Robinson glaube ich Dir,
so hat, seitdem es ein Irland gibt, kein Irländer geheißen – zuerst
also hast Du ihn nur in den Schlafsaal gebracht, wofür allein Du übrigens
schon im Schwung herausfliegen könntest – Geld aber hast Du ihm zuerst
nicht versprochen, dann wieder, wenn man Dich überraschend fragt, hast Du
ihm Geld versprochen. Aber wir haben hier kein Antwort- und Fragespiel,
sondern wollen Deine Rechtfertigung hören. Zuerst aber wolltest Du das
Geld nicht holen, sondern ihm Dein heutiges Trinkgeld geben, dann aber
zeigt sich, daß Du dieses Geld noch bei Dir hast, also offenbar doch noch
anderes Geld holen wolltest, wofür auch Dein langes Ausbleiben spricht.
Schließlich wäre es ja nichts Besonderes, wenn Du für ihn aus Deinem
Koffer hättest Geld holen wollen, daß Du es aber mit aller Kraft
leugnest, das ist allerdings etwas Besonderes. Ebenso wie Du auch
immerfort verschweigen willst, daß Du den Mann erst hier im Hotel
betrunken gemacht hast, woran ja nicht der geringste Zweifel ist, denn Du
selbst hast zugegeben, daß er allein gekommen ist, aber nicht allein
weggehn konnte und er selbst hat ja im Schlafsaal herumgeschrien, daß er
Dein Gast ist. Fraglich also bleiben jetzt nur noch zwei Dinge, die Du,
wenn Du die Sache vereinfachen willst, selbst beantworten kannst, die man
aber schließlich auch ohne Deine Mithilfe wird feststellen können:
Erstens wie hast Du Dir den Zutritt zu den Vorratskammern verschafft und
zweitens wieso hast Du verschenkbares Geld angesammelt?"
"Es ist unmöglich
sich zu verteidigen, wenn nicht guter Wille da ist", sagte sich Karl
und antwortete dem Oberkellner nicht mehr, so sehr darunter wahrscheinlich
Therese litt. Er wußte, daß alles was er sagen konnte, hinterher ganz
anders aussehen würde als es gemeint gewesen war und daß es nur der Art
der Beurteilung überlassen bliebe, Gutes oder Böses vorzufinden.
"Er antwortet
nicht", sagte die Oberköchin.
"Es ist das Vernünftigste,
was er tun kann", sagte der Oberkellner.
"Er wird sich schon
noch etwas ausdenken", sagte der Oberportier und strich mit der früher
grausamen Hand behutsam seinen Bart.
"Sei still",
sagte die Oberköchin zu Therese, die an ihrer Seite zu schluchzen begann,
"Du siehst, er antwortet nicht, wie kann ich denn da etwas für ihn
tun. Schließlich bin ich es, die vor dem Herrn Oberkellner Unrecht behält.
Sag doch Therese, habe ich Deiner Meinung nach etwas für ihn zu tun versäumt?"
Wie konnte das Therese wissen und was nützte es, daß sich die Oberköchin
durch diese öffentlich an das kleine Mädchen gerichtete Frage und Bitte
vor den beiden Herren vielleicht viel vergab?
"Frau Oberköchin",
sagte Karl, der sich noch einmal aufraffte, aber nur um Therese die
Antwort zu ersparen, zu keinem andern Zweck, "ich glaube nicht, daß
ich Ihnen irgendwie Schande gemacht habe und nach genauer Untersuchung müßte
das auch jeder andere finden. "
"Jeder andere",
sagte der Oberportier und zeigte mit dem Finger auf den Oberkellner,
"das ist eine Spitze gegen Sie, Herr Isbary. "
"Nun Frau Oberköchin",
sagte dieser, "es ist halb sieben, hohe und höchste Zeit. Ich denke,
Sie lassen mir am besten das Schlußwort in dieser schon allzu duldsam
behandelten Sache. "
Der kleine Giacomo war
hereingekommen, wollte zu Karl treten, ließ aber, durch die allgemein
herrschende Stille erschreckt, davon ab und wartete.
Die Oberköchin hatte
seit Karls letzten Worten den Blick nicht von ihm gewendet und es deutete
auch nichts darauf hin, daß sie die Bemerkung des Oberkellners gehört
hatte. Ihre Augen sahen voll auf Karl hin, sie waren groß und blau, aber
ein wenig getrübt durch das Alter und die viele Mühe. Wie sie so dastand
und den Sessel vor sich schwach schaukelte, hätte man ganz gut erwarten können,
sie werde im nächsten Augenblicke sagen: "Nun Karl, die Sache ist,
wenn ich es überlege, noch nicht recht klar gestellt und braucht wie Du
es richtig gesagt hast noch eine genaue Untersuchung. Und die wollen wir
jetzt veranstalten, ob man sonst damit einverstanden ist oder nicht, denn
Gerechtigkeit muß sein. "
Statt dessen aber sagte
die Oberköchin nach einer kleinen Pause, die niemand zu unterbrechen
gewagt hatte – nur die Uhr schlug in Bestätigung der Worte des
Oberkellners halb sieben und mit ihr, wie jeder wußte, gleichzeitig alle
Uhren im ganzen Hotel, es klang im Ohr und in der Ahnung wie das
zweimalige Zucken einer einzigen großen Ungeduld: "Nein Karl nein,
nein! Das wollen wir uns nicht einreden. Gerechte Dinge haben auch ein
besonderes Aussehn und das hat, ich muß es gestehn, Deine Sache nicht.
Ich darf das sagen und muß es auch sagen, denn ich bin es, die mit dem
besten Vorurteil für Dich hergekommen ist. Du siehst, auch Therese
schweigt. " (Aber sie schwieg doch nicht, sie weinte.)
Die Oberköchin stockte
in einem plötzlich sie überkommenden Entschluß und sagte: "Karl,
komm einmal her" und als er zu ihr gekommen war – gleich
vereinigten sich hinter seinem Rücken der Oberkellner und der Oberportier
zu lebhaftem Gespräch – umfaßte sie ihn mit der linken Hand, gieng mit
ihm und der willenlos folgenden Therese in die Tiefe des Zimmers und dort
mit beiden einigemal auf und ab, wobei sie sagte: "Es ist möglich,
Karl, und darauf scheinst Du zu vertrauen, sonst würde ich Dich überhaupt
nicht verstehn, daß eine Untersuchung Dir in einzelnen Kleinigkeiten
recht geben wird. Warum denn nicht Du hast vielleicht tatsächlich den
Oberportier gegrüßt. Ich glaube es sogar bestimmt, ich weiß auch, was
ich von dem Oberportier zu halten habe, Du siehst ich rede selbst jetzt
noch offen zu Dir. Aber solche kleine Rechtfertigungen helfen Dir gar
nichts. Der Oberkellner, dessen Menschenkenntnis ich im Laufe vieler Jahre
zu schätzen gelernt habe und welcher der verläßlichste Mensch ist, den
ich überhaupt kenne, hat Deine Schuld klar ausgesprochen und die scheint
mir allerdings unwiderleglich. Vielleicht hast Du bloß unüberlegt
gehandelt, vielleicht aber bist Du nicht der, für den ich Dich gehalten
habe. Und doch", damit unterbrach sie sich gewissermaßen selbst und
sah nur flüchtig nach den beiden Herren zurück, "kann ich es mir
noch nicht abgewöhnen, Dich für einen im Grunde anständigen Jungen zu
halten. "
"Frau Oberköchin!
Frau Oberköchin", mahnte der Oberkellner, der ihren Blick
aufgefangen hatte.
"Wir sind gleich
fertig", sagte die Oberköchin und redete nun schneller auf Karl ein:
"Höre Karl, so wie ich die Sache übersehe, bin ich noch froh, daß
der Oberkellner keine Untersuchung einleiten will, denn wollte er sie
einleiten, ich müßte es in Deinem Interesse verhindern. Niemand soll
erfahren, wie und womit Du den Mann bewirtet hast, der übrigens nicht
einer Deiner früheren Kameraden gewesen sein kann wie Du vorgibst, denn
mit denen hast Du ja zum Abschied großen Streit gehabt, so daß Du nicht
jetzt einen von ihnen traktieren wirst. Es kann also nur ein Bekannter
sein, mit dem Du Dich leichtsinniger Weise in der Nacht in irgendeiner städtischen
Kneipe verbrüdert hast. Wie konntest Du mir, Karl, alle diese Dinge
verbergen? Wenn es Dir im Schlafsaal vielleicht unerträglich war und Du
zuerst aus diesem unschuldigen Grunde mit Deinem Nachtschwärmen
angefangen hast, warum hast Du denn kein Wort davon gesagt, Du weißt ich
wollte Dir ein eigenes Zimmer verschaffen und habe darauf geradezu erst über
Deine Bitten verzichtet. Es scheint jetzt, als hättest Du den allgemeinen
Schlafsaal vorgezogen weil Du Dich dort ungebundener fühltest. Und Dein
Geld hattest Du doch in meiner Kassa aufgehoben und die Trinkgelder
brachtest Du mir jede Woche, woher um Gotteswillen, Junge, hast Du das
Geld für Deine Vergnügungen genommen und woher wolltest Du jetzt das
Geld für Deinen Freund holen? Das sind natürlich lauter Dinge, die ich
wenigstens jetzt dem Oberkellner gar nicht andeuten darf, denn dann wäre
vielleicht eine Untersuchung unausweichlich. Du mußt also unbedingt aus
dem Hotel undzwar so schnell als möglich. Geh direkt in die Pension
Brenner – Du warst doch schon mehrmals mit Therese dort – sie werden
Dich auf diese Empfehlung hin umsonst aufnehmen" – und die Oberköchin
schrieb mit einem goldenen Crayon, den sie aus der Bluse zog, einige
Zeilen auf eine Visitkarte, wobei sie aber die Rede nicht unterbrach –
"Deinen Koffer werde ich Dir gleich nachschicken, Therese, lauf doch
in die Garderobe der Liftjungen und pack seinen Koffer", (aber
Therese rührte sich noch nicht, sondern wollte, wie sie alles Leid
ausgehalten hatte, nun auch die Wendung zum Bessern, welche die Sache
Karls dank der Güte der Oberköchin nahm, ganz miterleben).
Jemand öffnete ohne sich
zu zeigen ein wenig die Tür und schloß sie gleich wieder. Es mußte
offenbar Giacomo gegolten haben, denn dieser trat vor und sagte: "Roßmann
ich habe Dir etwas auszurichten." "Gleich", sagte die Oberköchin
und steckte Karl, der mit gesenktem Kopf ihr zugehört hatte, die
Visitkarte in die Tasche, "Dein Geld behalte ich vorläufig, Du weißt,
Du kannst es mir anvertrauen. Heute bleib zu hause und überlege Deine
Angelegenheit, morgen – heute habe ich nicht Zeit, auch habe ich mich
schon vielzulange hier aufgehalten – komme ich zu Brenner und wir werden
zusehn was wir weiter für Dich machen können. Verlassen werde ich Dich
nicht, das sollst Du jedenfalls schon heute wissen. Über Deine Zukunft mußt
Du Dir keine Sorgen machen, eher über die letztvergangene Zeit. "
Darauf klopfte sie ihm leicht auf die Schulter und gieng zum Oberkellner
hinüber, Karl hob den Kopf und sah der großen stattlichen Frau nach, die
sich in ruhigem Schritt und freier Haltung von ihm entfernte.
"Bist Du denn gar
nicht froh", sagte Therese, die bei ihm zurückgeblieben war,
"daß alles so gut ausgefallen ist?" "O ja", sagte
Karl und lächelte ihr zu, wußte aber nicht warum er darüber froh sein
sollte, daß man ihn als einen Dieb wegschickte. Aus Thereses Augen
strahlte die Freude, als sei es ihr ganz gleichgültig, ob Karl etwas
verbrochen hatte oder nicht, ob er gerecht beurteilt worden war oder
nicht, wenn man ihn nur gerade entwischen ließ, in Schande oder in Ehren.
Und so verhielt sich gerade Therese, die doch in ihren eigenen
Angelegenheiten so peinlich war und ein nicht ganz eindeutiges Wort der
Oberköchin wochenlang in ihren Gedanken drehte und untersuchte. Mit
Absicht fragte er: "Wirst Du meinen Koffer gleich packen und
wegschicken?" Er mußte gegen seinen Willen vor Staunen den Kopf schütteln,
so schnell fand sich Therese in die Frage hinein und die Überzeugung, daß
in dem Koffer Dinge waren, die man vor allen Leuten geheim halten mußte,
ließ sie gar nicht nach Karl hinsehn, gar nicht ihm die Hand reichen,
sondern nur flüstern: "Natürlich, Karl, gleich, gleich werde ich
den Koffer pakken. " Und schon war sie davongelaufen.
Nun ließ sich aber
Giacomo nicht mehr halten und aufgeregt durch das lange Warten rief er
laut: "Roßmann, der Mann wälzt sich unten im Gang und will sich
nicht wegschaffen lassen. Sie wollten ihn ins Krankenhaus bringen lassen,
aber er wehrt sich und behauptet, Du würdest niemals dulden, daß er ins
Krankenhaus kommt. Man solle ein Automobil nehmen und ihn nachhause
schicken, Du werdest das Automobil bezahlen. Willst Du?"
"Der Mann hat
Vertrauen zu Dir", sagte der Oberkellner. Karl zuckte mit den
Schultern und zählte Giacomo sein Geld in die Hand: "Mehr habe ich
nicht", sagte er dann.
"Ich soll Dich auch
fragen, ob Du mitfahren willst", fragte noch Giacomo mit dem Gelde
klimpernd.
"Er wird nicht
mitfahren", sagte die Oberköchin.
"Also Roßmann",
sagte der Oberkellner schnell und wartete gar nicht bis Giacomo draußen
war, "Du bist auf der Stelle entlassen. "
Der Oberportier nickte
mehrere Male, als wären es seine eigenen Worte, die der Oberkellner nur
nachspreche.
"Die Gründe Deiner
Entlassung kann ich gar nicht laut aussprechen, denn sonst müßte ich
Dich einsperren lassen. "
Der Oberportier sah
auffallend streng zur Oberköchin hinüber, denn er hatte wohl erkannt, daß
sie die Ursache dieser allzu milden Behandlung war.
"Jetzt geh zu Bess,
zieh Dich um, übergieb Bess Deine Livree, und verlasse sofort, aber
sofort das Haus. "
Die Oberköchin schloß
die Augen, sie wollte damit Karl beruhigen. Während er sich zum Abschied
verbeugte, sah er flüchtig, wie der Oberkellner die Hand der Oberköchin
wie im Geheimen umfaßte und mit ihr spielte. Der Oberportier begleitete
Karl mit schweren Schritten bis zur Tür, die er ihn nicht schließen ließ,
sondern selbst noch offen hielt, um Karl nachschreien zu können: "In
einer Viertelminute will ich Dich beim Haupttor an mir vorübergehen sehn,
merk Dir das. "
Karl beeilte sich wie er
nur konnte, um nur beim Haupttor eine Belästigung zu vermeiden, aber es
gieng alles viel langsamer, als er wollte. Zuerst war Bess nicht gleich zu
finden und jetzt in der Frühstückszeit war alles voll Menschen, dann
zeigte sich, daß ein Junge sich Karls alte Hosen ausgeborgt hatte und
Karl mußte die Kleiderständer bei fast allen Betten absuchen, ehe er
diese Hosen fand, so daß wohl fünf Minuten vergangen waren, ehe Karl zum
Haupttor kam. Gerade vor ihm gieng eine Dame mitten zwischen vier Herren.
Sie giengen alle auf ein großes Automobil zu, das sie erwartete und
dessen Schlag bereits ein Lakai geöffnet hielt während er den freien
linken Arm seitwärts wagrecht und steif ausstreckte, was höchst
feierlich aussah. Aber Karl hatte umsonst gehofft, hinter dieser vornehmen
Gesellschaft unbemerkt hinauszukommen. Schon faßte ihn der Oberportier
bei der Hand und zog ihn zwischen zwei Herren hindurch, die er um
Verzeihung bat, zu sich hin. "Das soll eine Viertelminute gewesen
sein", sagte er und sah Karl von der Seite an, als beobachte er eine
schlecht gehende Uhr. "Komm einmal her", sagte er dann und führte
ihn in die große Portiersloge, die Karl zwar schon längst einmal
anzusehen Lust gehabt hatte, in die er aber jetzt von dem Portier
geschoben nur mit Mißtrauen eintrat. Er war schon in der Tür, als er
sich umwendete und den Versuch machte, den Oberportier wegzuschieben und
wegzukommen. "Nein, nein, hier geht man hinein", sagte der
Oberportier und drehte Karl um. "Ich bin doch schon entlassen",
sagte Karl und meinte damit, daß ihm im Hotel niemand mehr etwas zu
befehlen habe. "Solange ich Dich halte bist Du nicht entlassen",
sagte der Portier, was allerdings auch richtig war.
Karl fand schließlich
auch keine Ursache, warum er sich gegen den Portier wehren sollte. Was
konnte ihm denn auch im Grunde noch geschehn? Überdies bestanden die Wände
der Portiersloge ausschließlich aus ungeheueren Glasscheiben, durch die
man die Menge der im Vestibul gegeneinanderströmenden Menschen deutlich
sah, als wäre man mitten unter ihnen. Ja es schien in der ganzen
Portierloge keinen Winkel zu geben, in dem man sich vor den Augen der
Leute verbergen konnte. So eilig es dort draußen die Leute zu haben
schienen, denn mit ausgestrecktem Arm, mit gesenktem Kopf, mit spähenden
Augen, mit hochgehaltenen Gepäckstücken suchten sie ihren Weg, so versäumte
doch kaum einer einen Blick in die Portiersloge zu werfen, denn hinter
deren Scheiben waren immer Ankündigungen und Nachrichten ausgehängt, die
sowohl für die Gäste als für das Hotelpersonal Wichtigkeit hatten. Außerdem
aber bestand noch ein unmittelbarer Verkehr der Portiersloge mit dem
Vestibul, denn an zwei großen Schiebefenstern saßen zwei Unterportiere
und waren unaufhörlich damit beschäftigt Auskünfte in den
verschiedensten Angelegenheiten zu erteilen. Das waren geradezu überbürdete
Leute und Karl hätte behaupten wollen, daß der Oberportier, wie er ihn
kannte, sich in seiner Laufbahn um diese Posten herumgewunden hatte. Diese
zwei Auskunftserteiler hatten – von außen konnte man sich das nicht
richtig vorstellen – in der Öffnung des Fensters immer zumindest zehn
fragende Gesichter vor sich. Unter diesen zehn Fragern die immerfort
wechselten war oft ein Durcheinander von Sprachen, als sei jeder einzelne
von einem andern Lande abgesendet. Immer fragten einige gleichzeitig,
immer redeten außerdem einzelne untereinander. Die meisten wollten etwas
aus der Portiersloge holen oder etwas dort abgeben, so sah man immer auch
ungeduldig fuchtelnde Hände aus dem Gedränge ragen. Einmal hatte einer
ein Begehren wegen irgendeiner Zeitung, die sich unversehens von der Höhe
aus entfaltete und für einen Augenblick alle Gesichter verhüllte. Allem
diesen mußten nun die zwei Unterportiere standhalten. Bloßes Reden hätte
für ihre Aufgabe nicht genügt, sie plapperten, besonders der eine, ein düsterer
Mann mit einem das ganze Gesicht umgebenden dunklen Bart, gab die Auskünfte
ohne die geringste Unterbrechung. Er sah weder auf die Tischplatte, wo er
fortwährend Handreichungen auszuführen hatte, noch auf das Gesicht
dieses oder jenes Fragers, sondern ausschließlich starr vor sich,
offenbar um seine Kräfte zu sparen und zu sammeln. Übrigens störte wohl
sein Bart ein wenig die Verständlichkeit seiner Rede und Karl konnte in
dem Weilchen, während dessen er bei ihm stehen blieb, sehr wenig von dem
Gesagten auffassen, wenn es auch möglicherweise trotz des englischen
Beiklanges gerade fremde Sprachen waren, die er gebrauchen mußte. Außerdem
beirrte es daß sich eine Auskunft so knapp an die andere anschloß und in
sie übergieng, so daß oft noch ein Frager mit gespanntem Gesicht
zuhorchte, da er glaubte, es gehe noch um seine Sache, um erst nach einem
Weilchen zu merken, daß er schon erledigt war. Gewöhnen mußte man sich
auch daran, daß der Unterportier niemals bat, eine Frage zu wiederholen,
selbst wenn sie im Ganzen verständlich und nur ein wenig undeutlich
gestellt war, ein kaum merkliches Kopfschütteln verriet dann, daß er
nicht die Absicht habe, diese Frage zu beantworten und es war Sache des
Fragestellers, seinen eigenen Fehler zu erkennen und die Frage besser zu
formulieren. Besonders damit verbrachten manche Leute sehr lange Zeit vor
dem Schalter. Zur Unterstützung der Unterportiere war jedem ein
Laufbursche beigegeben, der im gestreckten Lauf von einem Bücherregal und
aus verschiedenen Kästen alles beizubringen hatte was der Unterportier
gerade benötigte. Das waren die bestbezahlten wenn auch anstrengendsten
Posten, die es im Hotel für ganz junge Leute gab, in gewissem Sinne waren
sie auch noch ärger daran als die Unterportiere, denn diese hatten bloß
nachzudenken und zu reden, während diese jungen Leute gleichzeitig
nachdenken und laufen mußten. Brachten sie einmal etwas unrichtiges
herbei, so konnte sich natürlich der Unterportier in der Eile nicht damit
aufhalten, ihnen lange Belehrungen zu geben, er warf vielmehr einfach das,
was sie ihm auf den Tisch legten, mit einem Ruck vom Tisch herunter. Sehr
interessant war die Ablösung der Unterportiere, die gerade kurz nach dem
Eintritt Karls stattfand. Eine solche Ablösung mußte natürlich
wenigstens während des Tages öfters stattfinden, denn es gab wohl kaum
einen Menschen, der es länger als eine Stunde hinter dem Schalter
ausgehalten hätte. Zur Ablösungszeit ertönte nun eine Glocke und
gleichzeitig traten aus einer Seitentüre die zwei Unterportiere, die
jetzt an die Reihe kommen sollten, jeder von seinem Laufjungen gefolgt.
Sie stellten sich vorläufig untätig beim Schalter auf und betrachteten
ein Weilchen die Leute draußen, um festzustellen, in welchem Stadium sich
gerade die augenblickliche Fragebeantwortung befand. Schien ihnen der
Augenblick passend, um einzugreifen, klopften sie dem abzulösenden
Unterportier auf die Schulter, der, trotzdem er sich bisher um nichts, was
hinter seinem Rücken vorgieng, gekümmert hatte, sofort verstand und
seinen Platz freimachte. Das ganze gieng so rasch, daß es oft die Leute
draußen überraschte und sie aus Schrecken über das so plötzlich vor
ihnen auftauchende neue Gesicht fast zurückwichen. Die abgelösten zwei Männer
streckten sich und begossen dann über zwei bereitstehenden Waschbecken
ihre heißen Köpfe, die abgelösten Laufjungen durften sich aber noch
nicht strecken, sondern hatten noch ein Weilchen damit zu tun, die während
ihrer Dienststunden auf den Boden geworfenen Gegenstände aufzuheben und
an ihren Platz zu legen.
Alles dieses hatte Karl
mit der angespanntesten Aufmerksamkeit in wenigen Augenblicken in sich
aufgenommen und mit leichten Kopfschmerzen folgte er still dem Oberportier
der ihn weiterführte. Offenbar hatte auch der Oberportier den großen
Eindruck beobachtet, den diese Art der Auskunftserteilung auf Karl gemacht
hatte, und er riß plötzlich an Karls Hand und sagte: "Siehst Du, so
wird hier gearbeitet." Karl hatte ja allerdings hier im Hotel nicht
gefaulenzt, aber von solcher Arbeit hatte er doch keine Ahnung gehabt, und
fast völlig daran vergessend, daß der Oberportier sein großer Feind
war, sah er zu ihm auf und nickte stumm und anerkennend mit dem Kopf. Das
schien dem Oberportier aber wieder eine Überschätzung der Unterportiere
und vielleicht eine Unhöflichkeit gegenüber seiner Person zu sein, denn,
als hätte er Karl zum Narren gehalten, rief er ohne Besorgnis, daß man
ihn hören könnte: "Natürlich ist dieses hier die dümmste Arbeit
im ganzen Hotel; wenn man eine Stunde zugehört hat, kennt man so ziemlich
alle Fragen die gestellt werden und den Rest braucht man ja nicht zu
beantworten. Wenn Du nicht frech und ungezogen gewesen wärest, wenn Du
nicht gelogen, gelumpt, gesoffen und gestohlen hättest, hätte ich Dich
vielleicht bei so einem Fenster anstellen können, denn dazu kann ich
ausschließlich nur vernagelte Köpfe brauchen. " Karl überhörte gänzlich
die Beschimpfung soweit sie ihn betraf, so sehr war er darüber empört,
daß die ehrliche und schwere Arbeit der Unterportiere, statt anerkannt zu
werden, verhöhnt wurde, und überdies verhöhnt von einem Mann, der, wenn
er es gewagt hätte sich einmal zu einem solchen Schalter zu setzen, gewiß
nach paar Minuten unter dem Gelächter aller Frager hätte abziehn müssen.
"Lassen Sie mich", sagte Karl, seine Neugierde inbetreff der
Portierloge war bis zum Übermaß gestillt, "ich will mit Ihnen
nichts mehr zu tun haben. " "Das genügt nicht, um
fortzukommen", sagte der Oberportier, drückte Karls Arme, daß
dieser sie gar nicht rühren konnte und trug ihn förmlich an das andere
Ende der Portiersloge. Sahen die Leute draußen diese Gewalttätigkeit des
Oberportiers nicht? Oder wenn sie sie sahen, wie faßten sie sie denn auf,
daß keiner sich darüber aufhielt, daß niemand wenigstens an die Scheibe
klopfte, um dem Oberportier zu zeigen, daß er beobachtet werde und nicht
nach seinem Gutdünken mit Karl verfahren dürfe.
Aber bald hatte Karl auch
keine Hoffnung mehr vom Vestibul aus Hilfe zu bekommen, denn der
Oberportier griff an eine Schnur und über den Scheiben der halben
Portiersloge zogen sich im Fluge bis in die letzte Höhe schwarze Vorhänge
zusammen. Auch in diesem Teil der Portierloge waren ja Menschen, aber alle
in voller Arbeit und ohne Ohr und Auge für alles, was nicht mit ihrer
Arbeit zusammenhieng. Außerdem waren sie ganz vom Oberportier abhängig,
und hätten statt Karl zu helfen, lieber geholfen alles zu verbergen, was
auch dem Oberportier einfallen sollte zu tun. Da waren z. B. sechs
Unterportiere bei sechs Telephonen. Die Anordnung war wie man gleich
bemerkte, so getroffen, daß immer einer bloß Gespräche aufnahm, während
sein Nachbar, nach den vom ersten empfangenen Notizen die Aufträge
telephonisch weiterleitete. Es waren dies jene neuesten Telephone, für
die keine Telephonzellen nötig waren, denn das Glockenläuten war nicht
lauter als ein Zirpen, man konnte in das Telephon mit Flüstern
hineinsprechen und doch kamen die Worte dank besonderer elektrischer Verstärkungen
mit Donnerstimme an ihrem Ziele an. Deshalb hörte man die drei Sprecher
an ihren Telephonen kaum und hätte glauben können, sie beobachteten
murmelnd irgend einen Vorgang in der Telephonmuschel, während die drei
andern wie betäubt von dem auf sie herandringenden, für die Umgebung im
übrigen unhörbaren Lärm die Köpfe auf das Papier sinken ließen, das
zu beschreiben ihre Aufgabe war. Wieder stand auch hier neben jedem der
drei Sprecher ein Junge zur Hilfeleistung; diese drei Jungen taten nichts
anderes als abwechselnd den Kopf horchend zu ihrem Herrn strecken und dann
eilig als würden sie gestochen in riesigen gelben Büchern – die
umschlagenden Blättermassen überrauschten bei weitem jedes Geräusch der
Telephone – die Telephonnummern herauszusuchen.
Karl konnte sich tatsächlich
nicht enthalten, alles das genau zu verfolgen, trotzdem der Oberportier,
der sich gesetzt hatte, ihn in einer Art Umklammerung vor sich hinhielt.
"Es ist meine Pflicht", sagte der Oberportier und schüttelte
Karl, als wolle er nur erreichen, daß dieser ihm sein Gesicht zuwende,
"das was der Oberkellner aus welchen Gründen immer versäumt hat, im
Namen der Hoteldirektion wenigstens ein wenig nachzuholen. So tritt hier
immer jeder für den andern ein. Ohne das wäre ein so großer Betrieb
undenkbar. Du willst vielleicht sagen, daß ich nicht Dein unmittelbarer
Vorgesetzter bin, nun desto schöner ist es von mir, daß ich mich dieser
sonst verlassenen Sache annehme. Im übrigen bin ich in gewissem Sinne als
Oberportier über alle gesetzt, denn mir unterstehn doch alle Tore des
Hotels, also dieses Haupttor, die drei Mittel- und die zehn Nebentore, von
den unzähligen Türchen und türlosen Ausgängen gar nicht zu reden. Natürlich
haben mir alle in Betracht kommenden Bedienungsmannschaften unbedingt zu
gehorchen. Gegenüber diesen großen Ehren habe ich natürlich anderseits
vor der Hoteldirektion die Verpflichtung niemanden herauszulassen, der nur
im geringsten verdächtig ist. Gerade Du aber kommst mir, weil es mir so
beliebt sogar stark verdächtig vor. " Und vor Freude darüber hob er
die Hände und ließ sie wieder stark zurückschlagen, daß es klatschte
und wehtat. "Es ist möglich", fügte er hinzu und unterhielt
sich dabei königlich, "daß Du bei einem andern Ausgang unbemerkt
herausgekommen wärest, denn Du standst mir natürlich nicht dafür,
besondere Anweisungen Deinetwegen ergehen zu lassen. Aber da Du nun einmal
hier bist, will ich Dich genießen. Im übrigen habe ich nicht daran
gezweifelt, daß Du das Rendezvous, das wir uns beim Haupttor gegeben
hatten auch einhalten wirst, denn das ist eine Regel, daß der Freche und
Unfolgsame gerade dort und dann mit seinen Lastern aufhört, wo es ihm
schadet. Du wirst das an Dir selbst gewiß noch oft beobachten können.
"
"Glauben Sie
nicht", sagte Karl und atmete den eigentümlich dumpfen Geruch ein,
der vom Oberportier ausgieng und den er erst hier, wo er so lange in
seiner nächsten Nähe stand, bemerkte, "glauben Sie nicht",
sagte er, "daß ich vollständig in Ihrer Gewalt bin, ich kann ja
schreien. " "Und ich kann Dir den Mund stopfen", sagte der
Oberportier ebenso ruhig und schnell, wie er es wohl nötigenfalls auszuführen
gedachte. "Und meinst Du denn wirklich, wenn man Deinetwegen
hereinkommen sollte, es würde sich jemand finden der Dir Recht geben würde,
mir dem Oberportier gegenüber. Du siehst also wohl den Unsinn Deiner
Hoffnungen ein. Weißt Du, wie Du noch in der Uniform warst, da hast Du ja
tatsächlich noch etwas beachtenswert ausgesehn, aber in diesem Anzug, der
tatsächlich nur in Europa möglich ist. " Und er zerrte an den
verschiedensten Stellen des Anzugs, der jetzt allerdings, trotzdem er vor
fünf Monaten noch fast neu gewesen war, abgenützt, faltig, vor allem
aber fleckig war, was hauptsächlich auf die Rücksichtslosigkeit der
Liftjungen zurückzuführen war, die jeden Tag, um den Saalboden dem
allgemeinen Befehl gemäß, glatt und staubfrei zu erhalten, aus Faulheit
keine eigentliche Reinigung vornahmen, sondern mit irgendeinem Öl den
Boden sprengten und damit gleichzeitig alle Kleider auf den Kleiderständern
schändlich bespritzten. Nun konnte man seine Kleider aufheben, wo man
wollte, immer fand sich einer, der gerade seine Kleider nicht bei der Hand
hatte, dagegen die versteckten fremden Kleider mit Leichtigkeit fand und
sich ausborgte. Und womöglich war dieser eine gerade derjenige, der an
diesem Tage die Saalreinigung vorzunehmen hatte und der dann die Kleider
nicht nur mit dem Öl bespritzte, sondern vollständig von oben bis unten
begoß. Nur Renell hatte seine kostbaren Kleider an irgendeinem geheimen
Orte versteckt, von wo sie kaum jemals einer hervorgezogen hatte, zumal ja
auch niemand vielleicht aus Bosheit oder Geiz fremde Kleider sich
ausborgte, sondern aus bloßer Eile und Nachlässigkeit dort nahm, wo er
sie fand. Aber selbst auf Renells Kleid war mitten auf dem Rücken ein
kreisrunder rötlicher Ölfleck und in der Stadt hätte ein Kenner an
diesem Fleck selbst in diesem eleganten jungen Mann den Liftjungen
feststellen können.
Und Karl sagte sich bei
diesen Erinnerungen daß er auch als Liftjunge genug gelitten hatte und daß
doch alles vergebens gewesen war, denn nun war dieser Liftjungendienst
nicht wie er gehofft hatte, eine Vorstufe zu besserer Anstellung gewesen,
vielmehr war er jetzt noch tiefer herabgedrückt worden und sogar sehr
nahe an das Gefängnis geraten. Überdies wurde er jetzt noch vom
Oberportier festgehalten der wohl darüber nachdachte, wie er Karl noch
weiter beschämen könne. Und völlig daran vergessend, daß der
Oberportier durchaus nicht der Mann war, der sich vielleicht überzeugen
ließ, rief Karl, während er sich mit der gerade freien Hand mehrmals
gegen die Stirn schlug: "Und wenn ich Sie wirklich nicht gegrüßt
haben sollte, wie kann denn ein erwachsener Mensch wegen eines
unterlassenen Grußes so rachsüchtig werden! "
"Ich bin nicht rachsüchtig",
sagte der Oberportier, "ich will nur Deine Taschen durchsuchen. Ich
bin zwar überzeugt daß ich nichts finden werde, denn Du wirst wohl so
vorsichtig gewesen sein und Deinen Freund alles allmählich, jeden Tag
etwas, haben wegschleppen lassen. Aber durchsucht worden mußt Du sein.
" Und schon griff er in eine von Karls Rocktaschen mit solcher
Gewalt, daß die seitlichen Nähte platzten. "Da ist also schon
nichts", sagte er und überklaubte in seiner Hand den Inhalt dieser
Tasche, einen Reklamkalender des Hotels, ein Blatt mit einer Aufgabe aus
kaufmännischer Korrespondenz, einige Rock- und Hosenknöpfe, die
Visitkarte der Oberköchin, einen Polierstift für die Nägel, den ihm
einmal ein Gast beim Kofferpacken zugeworfen hatte, einen alten
Taschenspiegel, den ihm Rennel zum Dank für vielleicht zehn Vertretungen
im Dienste geschenkt hatte und noch paar Kleinigkeiten. "Das ist also
nichts", wiederholte der Oberportier und warf alles unter die Bank,
als sei es selbstverständlich, daß das Eigentum Karls, soweit es nicht
gestohlen war, unter die Bank gehöre. "Jetzt ist aber genug",
sagte sich Karl – sein Gesicht mußte glühend rot sein – und als der
Oberportier durch die Gier unvorsichtig gemacht, in Karls zweiter Tasche
herumgrub, fuhr Karl mit einem Ruck aus den Ärmeln heraus, stieß im
ersten noch unbeherrschten Sprung einen Unterportier ziemlich stark gegen
seinen Apparat, lief durch die schwüle Luft eigentlich langsamer als er
beabsichtigt hatte zur Tür, war aber glücklich draußen, ehe der
Oberportier in seinem schweren Mantel sich auch nur hatte erheben können.
Die Organisation des Wachdienstes mußte doch nicht so mustergültig sein,
es läutete zwar auf einigen Seiten, aber Gott weiß zu welchen Zwecken,
Hotelangestellte giengen zwar im Torgang in solcher Anzahl kreuz und quer,
daß man fast daran denken konnte, sie wollten in unauffälliger Weise den
Ausgang unmöglich machen, denn viel sonstigen Sinn konnte man in diesem
Hin- und Hergehn nicht erkennen – jedenfalls kam Karl bald ins Freie, mußte
aber noch das Hoteltrottoir entlang gehn, denn zur Straße konnte man
nicht gelangen, da eine ununterbrochene Reihe von Automobilen stockend
sich am Haupttor vorbeibewegte. Diese Automobile waren, um nur so bald als
möglich zu ihrer Herrschaft zu kommen, geradezu ineinandergefahren, jedes
wurde vom nachfolgenden vorwärtsgeschoben. Fußgänger, die es besonders
eilig hatten auf die Straße zu gelangen, stiegen zwar hie und da durch
die einzelnen Automobile hindurch, als sei dort ein öffentlicher
Durchgang und es war ihnen ganz gleichgültig, ob im Automobil nur der
Chauffeur und die Dienerschaft saß oder auch die vornehmsten Leute. Ein
solches Benehmen schien aber Karl doch übertrieben und man mußte sich
wohl in den Verhältnissen schon auskennen, um das zu wagen, wie leicht
konnte er an ein Automobil geraten, dessen Insassen das übelnahmen, ihn
hinunterwarfen und einen Skandal veranlaßten und nichts hatte er als ein
entlaufener, verdächtiger Hotelangestellter in Hemdärmeln mehr zu fürchten.
Schließlich konnte ja die Reihe der Automobile nicht in Ewigkeit so
fortgehn und er war auch, solange er sich ans Hotel hielt, eigentlich am
unverdächtigsten. Tatsächlich gelangte Karl endlich an eine Stelle wo
die Automobilreihe zwar nicht aufhörte, aber zur Straße hin abbog und
lockerer wurde. Gerade wollte er in den Verkehr der Straße schlüpfen, in
dem wohl noch viel verdächtiger aussehende Leute als er war, frei
herumliefen, da hörte er in der Nähe seinen Namen rufen. Er wandte sich
um und sah wie zwei ihm wohlbekannte Liftjungen aus einer niedrigen
kleinen Türöffnung, die wie der Eingang einer Gruft aussah, mit äußerster
Anstrengung eine Bahre herauszogen, auf der wie Karl nun erkannte,
wahrhaftig Robinson lag, Kopf, Gesicht und Arme mannigfaltig umbunden. Es
war häßlich anzusehn, wie er die Arme an die Augen führte, um mit dem
Verbande die Tränen abzuwischen, die er vor Schmerzen oder vor sonstigem
Leid oder gar vor Freude über das Wiedersehen mit Karl vergoß. "Roßmann",
rief er vorwurfsvoll, "warum läßt Du mich denn solange warten.
Schon eine Stunde verbringe ich damit, mich zu wehren, damit ich nicht früher
wegtransportiert werde ehe Du kommst. Diese Kerle" – und er gab dem
einen Liftjungen ein Kopfstück, als sei er durch die Verbände vor Schlägen
geschützt – "sind ja wahre Teufel. Ach Roßmann der Besuch bei Dir
ist mir teuer zu stehn gekommen. " "Was hat man Dir denn
gemacht?" sagte Karl und trat an die Bahre heran, welche die
Liftjungen um sich auszuruhn lachend niederstellten. "Du fragst
noch", seufzte Robinson, "und siehst wie ich ausschaue. Bedenke!
Ich bin ja höchstwahrscheinlich für mein ganzes Leben zum Krüppel
geschlagen. Ich habe fürchterliche Schmerzen von hier bis hier" –
und er zeigte zuerst auf den Kopf und dann auf die Zehen –. "Ich möchte
Dir wünschen, daß Du gesehen hättest wie ich aus der Nase geblutet
habe. Meine Weste ist ganz verdorben, die habe ich überhaupt dort
gelassen, meine Hosen sind zerfetzt, ich bin in Unterhosen" – und
er lüftete die Decke ein wenig und lud Karl ein unter sie zu schauen.
"Was wird nur aus mir werden! Ich werde zumindest einige Monate
liegen müssen und das will ich Dir gleich sagen, ich habe niemanden
andern als Dich der mich pflegen könnte, Delamarche ist ja viel zu
ungeduldig. Roßmann, Roßmannchen! " Und Robinson streckte die Hand
nach dem ein wenig zurücktretenden Karl aus, um ihn durch Streicheln für
sich zu gewinnen. "Warum habe ich Dich nur besuchen müssen! "
wiederholte er mehrere Male, um Karl die Mitschuld nicht vergessen zu
lassen, die dieser an seinem Unglück hatte. Nun erkannte zwar Karl
sofort, daß das Klagen Robinsons nicht von seinen Wunden, sondern von dem
ungeheueren Katzenjammer stammte, in dem er sich befand, da er in schwerer
Trunkenheit kaum eingeschlafen, gleich geweckt und zu seiner Überraschung
blutig geboxt worden war und sich in der wachen Welt gar nicht mehr
zurechtfinden konnte. Die Bedeutungslosigkeit der Wunden war schon an den
unförmlichen aus alten Fetzen bestehenden Verbänden zu sehn, mit denen
ihn die Liftjungen offenbar zum Spaß ganz und gar umwickelt hatten. Und
auch die zwei Liftjungen an den Enden der Bahre prusteten vor Lachen von
Zeit zu Zeit. Nun war aber hier nicht der Ort Robinson zur Besinnung zu
bringen, denn stürmend eilten hier die Passanten ohne sich um die Gruppe
an der Bahre zu kümmern vorbei, öfters sprangen Leute mit richtigem
Turnerschwung über Robinson hinweg, der mit Karls Geld bezahlte Chauffeur
rief "Vorwärts, vorwärts", die Liftjungen hoben mit letzter
Kraft die Bahre auf, Robinson erfaßte Karls Hand und sagte schmeichelnd
"Nun komm, so komm doch", war nicht Karl in dem Aufzug in dem er
sich befand im Dunkel des Automobils noch am besten aufgehoben? und so
setzte er sich neben Robinson, der den Kopf an ihn lehnte, die zurückbleibenden
Liftjungen schüttelten ihm, als ihrem gewesenen Kollegen durch das
Coupeefenster herzlich die Hand und das Automobil drehte sich mit scharfer
Wendung zur Straße hin, es schien als müsse unbedingt ein Unglück
geschehn, aber gleich nahm der alles umfassende Verkehr auch die
schnurgerade Fahrt dieses Automobils ruhig in sich auf.
Es mußte wohl eine
entlegene Vorstadtstraße sein, in der das Automobil haltmachte, denn
ringsum herrschte Stille, am Trottoirrand hockten Kinder und spielten, ein
Mann mit einer Menge alter Kleider über den Schultern rief beobachtend zu
den Fenstern der Häuser empor, in seiner Müdigkeit fühlte sich Karl
unbehaglich als er aus dem Automobil auf den Asphalt trat, den die
Vormittagssonne warm und hell beschien. "Wohnst Du wirklich
hier?" rief er ins Automobil hinein. Robinson der während der ganzen
Fahrt friedlich geschlafen hatte brummte irgendeine undeutliche Bejahung
und schien darauf zu warten, daß Karl ihn hinaustragen werde. "Dann
habe ich hier also nichts mehr zu tun. Leb wohl", sagte Karl und
machte sich daran, die ein wenig sich senkende Straße abwärts zu gehn.
"Aber Karl, was fällt Dir denn ein?" rief Robinson und stand
schon vor lauter Sorge ziemlich aufrecht, nur mit noch etwas unruhigen
Knien, im Wagen. "Ich muß doch gehn", sagte Karl, der der
raschen Gesundung Robinsons zugesehn hatte. "In Hemdärmeln?"
fragte dieser. "Ich werde mir schon noch einen Rock verdienen",
antwortete Karl, nickte Robinson zuversichtlich zu, grüßte mit erhobener
Hand und wäre nun wirklich fortgegangen, wenn nicht der Chauffeur gerufen
hätte: "Noch einen kleinen Augenblick Geduld mein Herr. " Es
zeigte sich unangenehmer Weise, daß der Chauffeur noch Ansprüche auf
eine nachträgliche Bezahlung stellte, denn die Wartezeit vor dem Hotel
war noch nicht bezahlt. "Nun ja", rief aus dem Automobil
Robinson in Bestätigung der Richtigkeit dieser Forderung, "ich habe
ja dort so lange auf Dich warten müssen. Etwas mußt Du ihm noch
geben." "Ja freilich", sagte der Chauffeur. "Ja wenn
ich nur noch etwas hätte", sagte Karl und griff in die Hosentaschen,
trotzdem er wußte daß es nutzlos war. "Ich kann mich nur an Sie
halten", sagte der Chauffeur und stellte sich breitbeinig auf,
"von dem kranken Mann dort kann ich nichts verlangen. " Vom Tor
her näherte sich ein junger Bursch mit zerfressener Nase und hörte aus
einer Entfernung von paar Schritten zu. Gerade machte durch die Straße
ein Polizeimann die Runde, faßte mit gesenktem Gesicht den hemdärmligen
Menschen ins Auge und blieb stehn. Robinson, der den Polizeimann auch
bemerkt hatte, machte die Dummheit, aus dem andern Fenster ihm zuzurufen:
"Es ist nichts, es ist nichts", als ob man einen Polizeimann wie
eine Fliege verscheuchen könnte. Die Kinder, welche den Polizeimann
beobachtet hatten, wurden nun durch sein Stillstehn auch auf Karl und den
Chauffeur aufmerksam und liefen im Trab herbei. Im Tor gegenüber stand
eine alte Frau und sah starr herüber.
"Roßmann",
rief da eine Stimme aus der Höhe. Es war Delamarche, der das vom Balkon
des letzten Stockwerks rief. Er selbst war nur schon recht undeutlich
gegen den weißlich blauen Himmel zu sehn, hatte offenbar einen Schlafrock
an und beobachtete mit einem Operngucker die Straße. Neben ihm war ein
roter Sonnenschirm aufgespannt unter dem eine Frau zu sitzen schien.
"Halloh", rief er mit größter Anstrengung um sich verständlich
zu machen, "ist Robinson auch da?" "Ja", antwortete
Karl, von einem zweiten viel lautern"Ja" Robinsons aus dem Wagen
kräftig unterstützt. "Halloh", rief es zurück, "ich
komme gleich. " Robinson beugte sich aus dem Wagen. "Das ist ein
Mann", sagte er und dieses Lob Delamarches war an Karl gerichtet, an
den Chauffeur, an den Polizeimann und an jeden, der es hören wollte. Oben
auf dem Balkon, den man aus Zerstreutheit noch ansah, trotzdem ihn
Delamarche schon verlassen hatte, erhob sich nun unter dem Sonnenschirm
tatsächlich eine starke Frau in rotem Kleid, nahm den Operngucker von der
Brüstung und sah durch ihn auf die Leute hinunter, die nur allmählich
die Blicke von ihr wendeten. Karl sah in Erwartung des Delamarche in das
Haustor und weiterhin in den Hof, den eine fast ununterbrochene Reihe von
Geschäftsdienern durchquerte, von denen jeder eine kleine, aber offenbar
sehr schwere Kiste auf der Achsel trug. Der Chauffeur war zu seinem Wagen
getreten und putzte um die Zeit auszunützen, mit einem Fetzen die
Wagenlaternen. Robinson befühlte seine Gliedmaßen, schien erstaunt über
die geringen Schmerzen zu sein, die er trotz größter Aufmerksamkeit fühlen
konnte und begann vorsichtig mit tief geneigtem Gesicht einen der dicken
Verbände am Bein zu lösen. Der Polizeimann hielt sein schwarzes Stöckchen
quer vor sich und wartete still mit der großen Geduld, die Polizeileute
haben müssen, ob sie im gewöhnlichen Dienst oder auf der Lauer sind. Der
Bursche mit der zerfressenen Nase setzte sich auf einen Torstein und
streckte die Beine von sich. Die Kinder näherten sich Karl allmählich
mit kleinen Schritten, denn dieser schien ihnen, trotzdem er sie nicht
beachtete, wegen seiner blauen Hemdärmel der wichtigste von allen zu
sein.
An der Länge der Zeit,
die bis zur Ankunft Delamarches vergieng, konnte man die große Höhe
dieses Hauses ermessen. Und Delamarche kam sogar sehr eilig mit nur flüchtig
zugezogenem Schlafrock. "Also da seid Ihr! " rief er, erfreut
und streng zugleich. Bei seinen großen Schritten enthüllte sich stets für
einen Augenblick seine färbige Unterkleidung. Karl begriff nicht ganz,
warum Delamarche hier in der Stadt, in der riesigen Mietskaserne, auf der
offenen Straße so bequem angezogen herumgieng, als sei er in seiner
Privatvilla. Ebenso wie Robinson hatte auch Delamarche sich sehr verändert.
Sein dunkles, glatt rasiertes, peinlich reines, von roh ausgearbeiteten
Muskeln gebildetes Gesicht sah stolz und respekteinflößend aus. Der
grelle Schein seiner jetzt immer etwas zusammengezogenen Augen überraschte.
Sein violetter Schlafrock war zwar alt, fleckig und für ihn zu groß,
aber aus diesem häßlichen Kleidungsstück bauschte sich oben eine mächtige
dunkle Kravatte aus schwerer Seide. "Nun?" fragte er alle
insgesammt. Der Polizeimann trat ein wenig näher und lehnte sich an den
Motorkasten des Automobils. Karl gab eine kleine Erklärung.
"Robinson ist ein wenig marod, aber wenn er sich Mühe gibt, wird er
schon die Treppen hinaufgehn können; der Chauffeur hier will noch eine
Nachzahlung zum Fahrtgeld, das ich schon bezahlt habe. Und jetzt gehe ich.
Guten Tag. " "Du gehst nicht", sagte Delamarche. "Ich
habe es ihm auch schon gesagt", meldete sich Robinson aus dem Wagen.
"Ich gehe doch", sagte Karl und machte ein paar Schritte. Aber
Delamarche war schon hinter ihm und schob ihn mit Gewalt zurück.
"Ich sage, Du bleibst", rief er. "Aber laßt mich
doch", sagte Karl und machte sich bereit, wenn es nötig sein sollte,
mit den Fäusten sich die Freiheit zu verschaffen, so wenig Aussicht auf
Erfolg gegenüber einem Mann wie Delamarche auch war. Aber da stand doch
der Polizeimann, da war der Chauffeur, hie und da giengen Arbeitergruppen
durch die sonst freilich ruhige Straße, würde man es denn dulden daß
ihm von Delamarche ein Unrecht geschehe? In einem Zimmer hätte er mit ihm
nicht allein sein wollen, aber hier? Delamarche zahlte jetzt ruhig dem
Chauffeur, der unter vielen Verbeugungen den unverdient großen Betrag
einsteckte und aus Dankbarkeit zu Robinson gieng und mit diesem offenbar
darüber sprach, wie er am besten herausbefördert werden könnte. Karl
sah sich unbeobachtet, vielleicht duldete Delamarche ein stillschweigendes
Fortgehn leichter, wenn Streit vermieden werden konnte, war es natürlich
am besten und so gieng Karl einfach in die Fahrbahn hinein um möglichst
rasch wegzukommen. Die Kinder strömten zu Delamarche um ihn auf Karls
Flucht aufmerksam zu machen, aber er mußte selbst gar nicht eingreifen,
denn der Polizeimann sagte mit vorgestrecktem Stabe "halt! "
"Wie heißt
Du", fragte er, schob den Stab unter den Arm und zog langsam ein Buch
hervor. Karl sah ihn jetzt zum ersten Mal genauer an, es war ein kräftiger
Mann, hatte aber schon fast ganz weißes Haar. "Karl Roßmann",
sagte er. "Roßmann", wiederholte der Polizeimann, zweifellos
nur, weil er ein ruhiger und gründlicher Mensch war, aber Karl, der hier
eigentlich zum ersten Mal mit amerikanischen Behörden zu tun bekam, sah
schon in dieser Wiederholung das Aussprechen eines gewissen Verdachtes.
Und tatsächlich konnte seine Sache nicht gut stehn, denn selbst Robinson,
der doch so sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt war, bat aus dem
Wagen heraus mit stummen lebhaften Handbewegungen den Delamarche, er möge
Karl doch helfen. Aber Delamarche wehrte ihn mit hastigem Kopfschütteln
ab und sah untätig zu, die Hände in seinen übergroßen Taschen. Der
Bursche auf dem Türstein erklärte einer Frau, die jetzt erst aus dem
Tore trat, den ganzen Sachverhalt von allem Anfang an. Die Kinder standen
in einem Halbkreis hinter Karl und sahen still zum Polizeimann hinauf
"Zeig Deine
Ausweispapiere", sagte der Polizeimann. Das war wohl nur eine
formelle Frage, denn wenn man keinen Rock hat, wird man auch nicht viel
Ausweispapiere bei sich haben. Karl schwieg deshalb auch, um lieber auf
die nächste Frage ausführlich zu antworten und so den Mangel der
Ausweispapiere möglichst zu vertuschen. Aber die nächste Frage war:
"Du hast also keine Ausweispapiere?" und Karl mußte nun
antworten "Bei mir nicht." "Das ist aber schlimm",
sagte der Polizeimann, sah nachdenklich im Kreise umher und klopfte mit
zwei Fingern auf den Deckel seines Buches. "Hast Du irgend einen
Verdienst?" fragte der Polizeimann schließlich. "Ich war
Liftjunge", sagte Karl. "Du warst Liftjunge, bist es also nicht
mehr und wovon lebst Du denn jetzt?" "Jetzt werde ich mir eine
neue Arbeit suchen. " "Ja bist Du denn jetzt entlassen
worden?" "Ja vor einer Stunde." "Plötzlich?"
"Ja", sagte Karl und hob wie zur Entschuldigung die Hand. Die
ganze Geschichte konnte er hier nicht erzählen und wenn es auch möglich
gewesen wäre, so schien es doch ganz aussichtslos ein drohendes Unrecht
durch Erzählung eines erlittenen Unrechtes abzuwehren. Und wenn er sein
Recht nicht von der Güte der Oberköchin und von der Einsicht des
Oberkellners erhalten hatte, von der Gesellschaft hier auf der Straße
hatte er es gewiß nicht zu erwarten.
"Und ohne Rock bist
Du entlassen worden?" fragte der Polizeimann. "Nun ja",
sagte Karl, also auch in Amerika gehörte es zur Art der Behörden, das
was sie sahen noch eigens zu fragen. (Wie hatte sein Vater bei der
Beschaffung des Reisepasses über die nutzlose Fragerei der Behörden sich
ärgern müssen.) Karl hatte große Lust, wegzulaufen, sich irgendwo zu
verstecken und keine Fragen mehr anhören zu müssen. Und nun stellte gar
der Polizeimann jene Frage, vor der sich Karl am meisten gefürchtet und
in deren unruhiger Voraussicht er sich bisher wahrscheinlich
unvorsichtiger benommen hatte, als es sonst geschehen wäre: "In
welchem Hotel warst Du denn angestellt?" Er senkte den Kopf und
antwortete nicht, auf diese Frage wollte er unbedingt nicht antworten. Es
durfte nicht geschehn, daß er von einem Polizeimann escortiert wieder ins
Hotel occidental zurückkäme, daß dort Verhöre stattfanden, zu denen
seine Freunde und Feinde beigezogen würden, daß die Oberköchin ihre
schon sehr schwach gewordene gute Meinung über Karl gänzlich aufgab, da
sie ihn, den sie in der Pension Brenner vermutete, von einem Polizeimann
aufgegriffen, in Hemdärmeln, ohne ihre Visitkarte zurückgekehrt fand, während
der Oberkellner vielleicht nur voll Verständnis nicken, der Oberportier
dagegen von der Hand Gottes sprechen würde, die den Lumpen endlich
gefunden habe.
"Er war im Hotel
occidental angestellt", sagte Delamarche und trat an die Seite des
Polizeimanns. "Nein", rief Karl und stampfte mit dem Fuße auf,
"es ist nicht wahr. " Delamarche sah ihn mit spöttisch
zugespitztem Munde an, als könne er noch ganz andere Dinge verraten.
Unter die Kinder brachte die unerwartete Aufregung Karls große Bewegung
und sie zogen zu Delamarche hin, um lieber von dort aus Karl genau
anzusehn. Robinson hatte den Kopf völlig aus dem Wagen gesteckt und
verhielt sich vor Spannung ganz ruhig; hie und da ein Augenzwinkern war
seine einzige Bewegung. Der Bursche im Tor schlug in die Hände vor Vergnügen,
die Frau neben ihm gab ihm einen Stoß mit dem Elbogen, damit er ruhig
sei. Die Gepäckträger hatten gerade Frühstückspause und erschienen sämtlich
mit großen Töpfen schwarzen Kaffees, in dem sie mit Stangenbroden herumrührten.
Einige setzten sich auf den Trottoirrand, alle schlürften den Kaffee sehr
laut.
"Sie kennen wohl den
Jungen", fragte der Polizeimann den Delamarche. "Besser als mir
lieb ist", sagte dieser. "Ich habe ihm zu seiner Zeit viel Gutes
getan, er aber hat sich dafür sehr schlecht bedankt, was Sie wohl, selbst
nach dem ganz kurzen Verhör das Sie mit ihm angestellt haben, leicht
begreifen werden." "Ja", sagte der Polizeimann, "es
scheint ein verstockter Junge zu sein. " "Das ist er",
sagte Delamarche, "aber es ist das noch nicht seine schlechteste
Eigenschaft." "So?" sagte der Polizeimann. "Ja",
sagte Delamarche, der nun im Reden war und dabei mit den Händen in den
Taschen seinen ganzen Mantel in schwingende Bewegung brachte, "das
ist ein feiner Hecht. Ich und mein Freund dort im Wagen, wir haben ihn zufällig
im Elend aufgegriffen, er hatte damals keine Ahnung von amerikanischen
Verhältnissen, er kam gerade aus Europa, wo man ihn auch nicht hatte
brauchen können, nun wir schleppten ihn mit uns, ließen ihn mit uns
leben, erklärten ihm alles, wollten ihm einen Posten verschaffen, dachten
trotz aller Anzeichen, die dagegen sprachen, noch einen brauchbaren
Menschen aus ihm zu machen, da verschwand er einmal in der Nacht, war
einfach weg und das unter Begleitumständen, die ich lieber verschweigen
will. War es so oder nicht" fragte Delamarche schließlich und zupfte
Karl am Hemdärmel. "Zurück ihr Kinder", rief der Polizeimann,
denn diese hatten sich soweit vorgedrängt, daß Delamarche fast über
eines gestolpert wäre. Inzwischen waren auch die Gepäckträger, die
bisher die Interessantheit dieses Verhörs unterschätzt hatten,
aufmerksam geworden und hatten sich in dichtem Ring hinter Karl
versammelt, der nun auch nicht einen Schritt hätte zurücktreten können
und überdies unaufhörlich in den Ohren das Durcheinander der Stimmen
dieser Gepäckträger hatte, die in einem gänzlich unverständlichen
vielleicht mit slavischen Worten untermischten Englisch mehr polterten als
redeten.
"Danke für die
Auskunft", sagte der Polizeimann und salutierte vor Delamarche.
"Jedenfalls werde ich ihn mitnehmen und dem Hotel occidental zurückgeben
lassen. " Aber Delamarche sagte: "Dürfte ich die Bitte stellen,
mir den Jungen vorläufig zu überlassen, ich hätte einiges mit ihm in
Ordnung zu bringen. Ich verpflichte mich, ihn dann selbst ins Hotel zurückzuführen.
" "Das kann ich nicht tun", sagte der Polizeimann.
Delamarche sagte: "Hier ist meine Visitkarte" und reichte ihm
ein Kärtchen. Der Polizeimann sah es anerkennend an, sagte aber
verbindlich lächelnd: "Nein es ist vergeblich. "
So sehr sich Karl bisher
vor Delamarche gehütet hatte, jetzt sah er in ihm die einzig mögliche
Rettung. Es war zwar verdächtig, wie sich dieser beim Polizeimann um Karl
bewarb, aber jedenfalls würde sich Delamarche leichter als der
Polizeimann bewegen lassen, ihn nicht ins Hotel zurückzuführen. Und
selbst wenn Karl an der Hand des Delamarche ins Hotel zurückkam, so war
es viel weniger schlimm, als wenn es in Begleitung des Polizeimannes
geschah. Vorläufig aber durfte natürlich Karl nicht zu erkennen geben,
daß er tatsächlich zu Delamarche wollte, sonst war alles verdorben. Und
unruhig sah er auf die Hand des Polizeimanns, die sich jeden Augenblick
erheben konnte, um ihn zu fassen.
"Ich müßte doch
wenigstens erfahren, warum er plötzlich entlassen worden ist", sagte
schließlich der Polizeimann, während Delamarche mit verdrießlichem
Gesicht beiseite sah und die Visitkarte zwischen den Fingerspitzen zerdrückte.
"Aber er ist doch gar nicht entlassen", rief Robinson zu
allgemeiner Überraschung und beugte sich auf den Chauffeur gestützt möglichst
weit aus dem Wagen. "Im Gegenteil, er hat ja dort einen guten Posten.
Im Schlafsaal ist er der oberste und kann hineinführen, wen er will. Nur
ist er riesig beschäftigt und wenn man etwas von ihm haben will, muß man
lange warten. Immerfort steckt er beim Oberkellner, bei der Oberköchin
und ist Vertrauensperson. Entlassen ist er auf keinen Fall. Ich weiß
nicht, warum er das gesagt hat. Wie kann er denn entlassen sein? Ich habe
mich im Hotel schwer verletzt und da hat er den Auftrag bekommen, mich
nachhause zu schaffen und weil er gerade ohne Rock war, ist er eben ohne
Rock mitgefahren. Ich konnte nicht noch warten, bis er den Rock holt.
" "Nun also", sagte Delamarche mit ausgebreiteten Armen, in
einem Ton als werfe er dem Polizeimann Mangel an Menschenkenntnis vor und
diese seine zwei Worte schienen in die Unbestimmtheit der Aussage
Robinsons eine widerspruchslose Klarheit zu bringen.
"Ist das aber auch
wahr?" fragte der Polizeimann schon schwächer. "Und wenn es
wahr ist, warum gibt der Junge vor entlassen zu sein?" "Du
sollst antworten", sagte Delamarche. Karl sah den Polizeimann an, der
hier zwischen fremden nur auf sich selbst bedachten Leuten Ordnung
schaffen sollte und etwas von seinen allgemeinen Sorgen gieng auch auf
Karl über. Er wollte nicht lügen und hielt die Hände fest verschlungen
auf dem Rücken.
Im Tore erschien ein
Aufseher und klatschte in die Hände zum Zeichen, daß die Gepäckträger
wieder an ihre Arbeit gehen sollten. Sie schütteten den Bodensatz aus
ihren Kaffeetöpfen und zogen verstummend mit schwankenden Schritten ins
Haus. "So kommen wir zu keinem Ende", sagte der Polizeimann und
wollte Karl am Arm fassen. Karl wich noch unwillkürlich ein wenig zurück,
fühlte den freien Raum, der sich ihm infolge des Abmarsches der Gepäckträger
eröffnet hatte, wandte sich um und setzte sich unter einigen großen
Anfangssprüngen in Lauf. Die Kinder brachen in einen einzigen Schrei aus
und liefen mit ausgestreckten Ärmchen paar Schritte mit. "Haltet
ihn! " rief der Polizeimann die lange, fast leere Gasse hinab und
lief unter gleichmäßigem Ausstoßen dieses Rufes in geräuschlosem große
Kraft und Übung verratendem Lauf hinter Karl her. Es war ein Glück für
Karl, daß die Verfolgung in einem Arbeiterviertel stattfand. Die Arbeiter
halten es nicht mit den Behörden. Karl lief mitten in der Fahrbahn, weil
er dort die wenigsten Hindernisse hatte, und sah nun hie und da auf dem
Trottoir rand Arbeiter stehen bleiben und ihn ruhig beobachten, während
der Polizeimann ihnen sein "Haltet ihn! " zurief und in seinem
Lauf, er hielt sich kluger Weise auf dem glatten Trottoir, unaufhörlich
den Stab gegen Karl hin ausstreckte. Karl hatte wenig Hoffnung und verlor
sie fast ganz, als der Polizeimann nun, da sie sich Quergassen näherten,
die gewiß auch Polizeipatrouillen enthielten, geradezu betäubende Pfiffe
ausstieß. Karls Vorteil war lediglich seine leichte Kleidung, er flog
oder besser stürzte die sich immer mehr senkende Straße herab, nur
machte er zerstreut infolge seiner Verschlafenheit oft zu hohe;
zeitraubende und nutzlose Sprünge. Außerdem aber hatte der Polizeimann
sein Ziel ohne nachdenken zu müssen, immer vor Augen, für Karl dagegen
war der Lauf doch eigentlich Nebensache, er mußte nachdenken, unter
verschiedenen Möglichkeiten auswählen, immer neu sich entschließen.
Sein etwas verzweifelter Plan war vorläufig die Quergassen zu vermeiden,
da man nicht wissen konnte was in ihnen steckte, vielleicht würde er da
geradeweg in eine Wachstube hineinlaufen; er wollte sich solange es nur
gieng an diese weithin übersichtliche Straße halten, die erst tief unten
in eine Brücke auslief, die kaum begonnen in Wasser- und Sonnendunst
verschwand. Gerade wollte er sich nach diesem Entschluß zu schnellerem
Lauf zusammennehmen, um die erste Quergasse besonders eilig zu passieren,
da sah er nicht allzuweit vor sich einen Polizeimann lauernd an die dunkle
Mauer eines im Schatten liegenden Hauses gedrückt, bereit im richtigen
Augenblick auf Karl loszuspringen. Jetzt blieb keine Hilfe, als die
Quergasse und als er gar aus dieser Gasse ganz harmlos beim Namen gerufen
wurde – es schien ihm zwar zuerst eine Täuschung zu sein, denn ein
Sausen hatte er schon die ganze Zeit lang in den Ohren, zögerte er nicht
mehr länger und bog, um die Polizeileute möglichst zu überraschen, auf
einem Fuß sich schwenkend rechtwinklig in diese Gasse ein.
Kaum war er zwei Sprünge
weit gekommen – daran, daß man seinen Namen gerufen hatte hatte er
schon wieder vergessen, nun pfiff auch der zweite Polizeimann, man merkte
seine unverbrauchte Kraft, ferne Passanten in dieser Quergasse schienen
eine raschere Gangart anzunehmen – da griff aus einer kleinen Haustüre
eine Hand nach Karl und zog ihn mit den Worten "Still sein" in
einen dunklen Flur. Es war 'Delamarche, ganz außer Athem, mit erhitzten
Wangen, seine Haare klebten ihm rings um den Kopf. Den Schlafrock trug er
unter dem Arm und war nur mit Hemd und Unterhose bekleidet. Die Türe,
welche nicht das eigentliche Haustor war, sondern nur einen unscheinbaren
Nebeneingang bildete, hatte er gleich geschlossen und versperrt.
"Einen Augenblick", sagte er dann, lehnte sich mit
hochgehaltenem Kopf an die Wand und atmete schwer. Karl lag fast in seinem
Arm und drückte halb besinnungslos das Gesicht an seine Brust. "Da
laufen die Herren", sagte Delamarche und streckte den Finger
aufhorchend gegen die Tür. Wirklich liefen jetzt die zwei Polizeileute
vorbei, ihr Laufen klang in der leeren Gasse, wie wenn Stahl gegen Stein
geschlagen wird. "Du bist aber ordentlich hergenommen", sagte
Delamarche zu Karl, der noch immer an seinem Athem würgte und kein Wort
herausbringen konnte. Delamarche setzte ihn vorsichtig auf den Boden,
kniete neben ihm nieder, strich ihm mehrmals über die Stirn und
beobachtete ihn. "Jetzt geht es schon", sagte endlich Karl und
stand mühsam auf. "Dann also los", sagte Delamarche, der seinen
Schlafrock wieder angezogen hatte und schob Karl, der noch vor Schwäche
den Kopf gesenkt hielt, vor sich her. Von Zeit zu Zeit schüttelte er
Karl, um ihn frischer zu machen. "Du willst müde sein?" sagte
er. "Du konntest doch im Freien laufen wie ein Pferd, ich aber mußte
hier durch die verfluchten Gänge und Höfe schleichen. Glücklicher Weise
bin ich aber auch ein Läufer. " Vor Stolz gab er Karl einen weit
ausgeholten Schlag auf den Rücken. "Von Zeit zu Zeit ist ein solches
Wettrennen mit der Polizei eine gute Übung. " "Ich war schon müde,
wie ich zu laufen anfieng", sagte Karl. "Für schlechtes Laufen
gibt es keine Entschuldigung", sagte Delamarche. "Wenn ich nicht
wäre, hätten sie Dich schon längst gefaßt." "Ich glaube
auch", sagte Karl. "Ich bin Ihnen sehr verpflichtet. "
"Kein Zweifel", sagte Delamarche.
Sie giengen durch einen
langen schmalen Flurgang, der mit dunklen glatten Steinen gepflastert war.
Hie und da öffnete sich rechts oder links ein Treppenaufgang oder man
erhielt einen Durchblick in einen andern größern Flur. Erwachsene waren
kaum zu sehn, nur Kinder spielten auf den leeren Treppen. An einem Geländer
stand ein kleines Mädchen und weinte, daß ihr vor Tränen das ganze
Gesicht glänzte. Kaum hatte sie Delamarche bemerkt als sie mit offenem
Mund nach Luft schnappend die Treppe hinauflief und sich erst hoch oben
beruhigte, als sie nach häufigem Umdrehn sich überzeugt hatte, daß ihr
niemand folge oder folgen wolle. "Die habe ich vor einem Augenblick
niedergerannt", sagte Delamarche lachend und drohte ihr mit der
Faust, worauf sie schreiend weiter hinauflief.
Auch die Höfe, durch die
sie kamen, waren fast gänzlich verlassen. Nur hie und da schob ein Geschäftsdiener
einen zweirädrigen Karren vor sich her, eine Frau füllte an der Pumpe
eine Kanne mit Wasser, ein Briefträger durchquerte mit ruhigen Schritten
den ganzen Hof, ein alter Mann mit weißem Schnauzbart saß mit übergeschlagenen
Beinen vor einer Glastür und rauchte eine Pfeife, vor einem
Speditionsgeschäft wurden Kisten abgeladen, die unbeschäftigten Pferde
drehten gleichmütig die Köpfe, ein Mann in einem Arbeitsmantel überwachte
mit einem Papier in der Hand die ganze Arbeit, in einem Bureau war das
Fenster geöffnet und ein Angestellter, der an seinem Schreibpult saß,
hatte sich von ihm abgewendet und sah nachdenklich hinaus, wo gerade Karl
und Delamarche vorübergiengen.
"Eine ruhigere
Gegend kann man sich gar nicht wünschen", sagte Delamarche. "Am
Abend ist paar Stunden lang großer Lärm, aber während des Tages geht es
hier musterhaft zu. " Karl nickte, ihm schien die Ruhe zu groß zu
sein. "Ich könnte gar nicht anderswo wohnen", sagte Delamarche,
"denn Brunelda verträgt absolut keinen Lärm. Kennst Du Brunelda?
Nun Du wirst sie ja sehn. Jedenfalls empfehle ich Dir, Dich möglichst
still aufzuführen. "
Als sie zu der Treppe
kamen, die zur Wohnung des Delamarche führte, war das Automobil bereits
weggefahren und der Bursche mit der zerfressenen Nase meldete, ohne über
Karls Wiedererscheinen irgendwie zu staunen, er habe Robinson die Treppe
hinaufgetragen. Delamarche nickte ihm bloß zu, als sei er sein Diener,
der eine selbstverständliche Pflicht erfüllt habe und zog Karl, der ein
wenig zögerte und auf die sonnige Straße sah, mit sich die Treppe
hinauf. "Wir sind gleich oben", sagte Delamarche einigemale während
des Treppensteigens, aber seine Voraussage wollte sich nicht erfüllen,
immer wieder setzte sich an eine Treppe eine neue in nur unmerklich veränderter
Richtung an. Einmal blieb Karl sogar stehn, nicht eigentlich vor Müdigkeit,
aber vor Wehrlosigkeit gegenüber dieser Treppenlänge. "Die Wohnung
liegt ja sehr hoch", sagte Delamarche, als sie weitergiengen,
"aber auch das hat seine Vorteile. Man geht sehr selten aus, den
ganzen Tag ist man im Schlafrock, wir haben es sehr gemütlich. Natürlich
kommen in diese Höhe auch keine Besuche herauf." "Woher sollten
denn die Besuche kommen", dachte Karl.
Endlich erschien auf
einem Treppenabsatz Robinson vor einer geschlossenen Wohnungstür und nun
waren sie angelangt; die Treppe war noch nicht einmal zu Ende sondern führte
im Halbdunkel weiter, ohne daß irgendetwas auf ihren baldigen Abschluß
hinzudeuten schien. "Ich habe es mir ja gedacht", sagte Robinson
leise, als bedrückten ihn noch Schmerzen, "Delamarche bringt ihn! Roßmann,
was wärest Du ohne Delamarche! " Robinson stand in Unterkleidung da
und suchte sich nur so weit als es möglich war in die kleine Bettdecke
einzuwickeln, die man ihm aus dem Hotel occidental mitgegeben hatte, es
war nicht einzusehn, warum er nicht in die Wohnung gieng statt hier vor möglicherweise
vorüberkommenden Leuten sich lächerlich zu machen. "Schläft
sie?" fragte Delamarche. "Ich glaube nicht", sagte
Robinson, "aber ich habe doch lieber gewartet, bis Du kommst. "
"Zuerst müssen wir schauen ob sie schläft", sagte Delamarche
und beugte sich zum Schlüsselloch. Nachdem er lange unter
verschiedenartigen Kopfdrehungen hindurchgeschaut hatte, erhob er sich und
sagte: "Man sieht sie nicht genau, das Rouleau ist heruntergelassen.
Sie sitzt auf dem Kanapee, vielleicht schläft sie." "Ist sie
denn krank?" fragte Karl, denn Delamarche stand da, als bitte er um
Rat. Nun aber fragte er in scharfem Tone zurück: "Krank?"
"Er kennt sie ja nicht", sagte Robinson entschuldigend.
Ein paar Türen weiter
waren zwei Frauen auf den Korridor getreten, sie wischten die Hände an
ihren Schürzen rein, sahen auf Delamarche und Robinson und schienen sich
über sie zu unterhalten. Aus einer Tür sprang noch ein ganz junges Mädchen
mit glänzendem blondem Haar und schmiegte sich zwischen die zwei Frauen,
indem es sich in ihre Arme einhängte.
"Das sind widerliche
Weiber", sagte Delamarche leise, aber offenbar nur aus Rücksicht auf
die schlafende Brunelda, "nächstens werde ich sie bei der Polizei
anzeigen und werde für Jahre Ruhe von ihnen haben. Schau nicht hin",
zischte er dann Karl an, der nichts Böses daran gefunden hatte, die
Frauen anzuschaun, wenn man nun schon einmal auf dem Gang auf das Erwachen
Bruneldas warten mußte. Und ärgerlich schüttelte er den Kopf, als habe
er von Delamarche keine Ermahnungen anzunehmen, und wollte, um dies noch
deutlicher zu zeigen, auf die Frauen zugehn, da hielt ihn aber Robinson
mit den Worten "Roßmann, hüte Dich" am Ärmel zurück und
Delamarche, schon durch Karl gereizt, wurde über ein lautes Auflachen des
Mädchens so wütend, daß er mit großem Anlauf Arme und Beine werfend
auf die Frauen zueilte, die jede in ihre Tür wie weggeweht verschwanden.
"So muß ich hier öfters die Gänge reinigen", sagte
Delamarche, als er mit langsamen Schritten zurückkehrte; da erinnerte er
sich an Karls Widerstand und sagte: "Von Dir aber erwarte ich ein
ganz anderes Benehmen, sonst könntest Du mit mir schlechte Erfahrungen
machen. "
Da rief aus dem Zimmer
eine fragende Stimme in sanftem müdem Tonfall: "Delamarche?"
"Ja", antwortete Delamarche und sah freundlich die Tür an,
"können wir eintreten?" "0 ja", hieß es und
Delamarche öffnete, nachdem er noch die zwei hinter ihm Wartenden mit
einem Blick gestreift hatte, langsam die Tür.
Man trat in vollständiges
Dunkel ein. Der Vorhang der Balkontüre – ein Fenster war nicht
vorhanden – war bis zum Boden herabgelassen und wenig durchscheinend, außerdem
aber trug die Überfüllung des Zimmers mit Möbeln und herumhängenden
Kleidern viel zur Verdunkelung des Zimmers bei. Die Luft war dumpf und man
roch geradezu den Staub, der sich hier in Winkeln, die offenbar für jede
Hand unzugänglich waren angesammelt hatte. Das erste was Karl beim
Eintritt bemerkte, waren drei Kästen, die knapp hintereinander
aufgestellt waren.
Auf dem Kanapee lag die
Frau, die früher vom Balkon heruntergeschaut hatte. Ihr rotes Kleid hatte
sich unten ein wenig verzogen und hieng in einem großen Zipfel bis auf
den Boden, man sah ihre Beine fast bis zu den Knien, sie trug dicke weiße
Wollstrümpfe, Schuhe hatte sie keine. "Das ist eine Hitze,
Delamarche", sagte sie, wendete das Gesicht von der Wand, hielt ihre
Hand lässig in Schwebe gegen Delamarche hin, der sie ergriff und küßte.
Karl sah nur ihr Doppelkinn an, das bei der Wendung des Kopfes auch
mitrollte. "Soll ich den Vorhang vielleicht hinaufziehn lassen?"
fragte Delamarche. "Nur das nicht", sagte sie mit geschlossenen
Augen und wie verzweifelt, "dann wird es ja noch ärger. " Karl
war zum Fußende des Kanapees getreten um die Frau genauer anzusehn, er
wunderte sich über ihre Klagen, denn die Hitze war gar nicht außerordentlich.
"Warte, ich werde es Dir ein wenig bequemer machen", sagte
Delamarche ängstlich, öffnete oben am Hals paar Knöpfe und zog dort das
Kleid auseinander, so daß der Hals und der Ansatz der Brust frei wurde
und ein zarter gelblicher Spitzensaum des Hemdes erschien. "Wer ist
das", sagte die Frau plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Karl,
"warum starrt er mich so an?" "Du fängst bald an Dich nützlich
zu machen", sagte Delamarche und schob Karl beiseite während er die
Frau mit den Worten beruhigte: "Es ist nur der Junge, den ich zu
Deiner Bedienung mitgebracht habe. " "Aber ich will doch
niemanden haben", rief sie, "warum bringst Du mir fremde Leute
in die Wohnung. " "Aber die ganze Zeit wünschst Du Dir doch
eine Bedienung", sagte Delamarche und kniete nieder; auf dem Kanapee
war trotz seiner großen Breite neben Brunelda nicht der geringste Platz.
"Ach Delamarche", sagte sie, "Du verstehst mich nicht und
verstehst mich nicht. " "Dann versteh ich Dich also wirklich
nicht", sagte Delamarche und nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände.
"Aber es ist ja nichts geschehn, wenn Du willst geht er
augenblicklich fort. " "Wenn er schon einmal hier ist, soll er
bleiben", sagte sie nun wieder und Karl war ihr in seiner Müdigkeit
für diese vielleicht gar nicht freundlich gemeinten Worte so dankbar, daß
er immer in undeutlichen Gedanken an diese endlose Treppe, die er nun
vielleicht gleich wieder hätte abwärtssteigen müssen, über den auf
seiner Decke friedlich schlafenden Robinson hinwegtrat und trotz alles ärgerlichen
Händefuchtelns des Delamarche sagte: "Ich danke Ihnen jedenfalls dafür,
daß Sie mich ein wenig noch hier lassen wollen. Ich habe wohl schon
vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen, dabei genug gearbeitet und
verschiedene Aufregungen gehabt. Ich bin schrecklich müde. Ich weiß gar
nicht recht, wo ich bin. Wenn ich aber ein paar Stunden geschlafen habe können
Sie mich ohne jede sonstige Rücksichtnahme fortschicken und ich werde
gerne gehn. " "Du kannst überhaupt hier bleiben", sagte
die Frau und fügte ironisch hinzu: "Platz haben wir ja in Überfluß,
wie Du siehst. " "Du mußt also fortgehn", sagte
Delamarche, "wir können Dich nicht brauchen. " "Nein, er
soll bleiben", sagte die Frau nun wieder im Ernste. Und Delamarche
sagte zu Karl wie in Ausführung dieses Wunsches: "Also leg Dich
schon irgendwo hin. " "Er kann sich auf die Vorhänge legen,
aber er muß sich die Stiefel ausziehn, damit er nichts zerreißt. "
Delamarche zeigte Karl den Platz, den sie meinte. Zwischen der Türe und
den drei Schränken war ein großer Haufen von verschiedenartigsten
Fenstervorhängen hingeworfen. Wenn man alle regelmäßig
zusammengefaltet, die schweren zu unterst, und weiter hinauf die leichtern
gelegt und schließlich die verschiedenen in den Haufen gesteckten Bretter
und Holzringe herausgezogen hätte, so wäre es ein erträgliches Lager
geworden, so war es nur eine schaukelnde und gleitende Masse, auf die sich
aber Karl trotzdem augenblicklich legte, denn zu besondern
Schlafvorbereitungen war er zu müde und mußte sich auch mit Rücksicht
auf seine Gastgeber hüten, viel Umstände zu machen.
Er war schon fast im
eigentlichen Schlafe, da hörte er einen lauten Schrei, erhob sich und sah
die Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die Arme weit ausbreiten und
Delamarche, der vor ihr kniete, umschlingen. Karl, dem der Anblick
peinlich war, lehnte sich wieder zurück und versenkte sich in die Vorhänge
zur Fortsetzung des Schlafes. Daß er hier auch nicht zwei Tage aushalten
würde, schien ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es sich zuerst gründlich
auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und richtig
entschließen zu können.
Aber Brunelda hatte schon
Karls vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen, die sie schon einmal
erschreckt hatten, bemerkt und rief: "Delamarche, ich halte es vor
Hitze nicht aus, ich brenne, ich muß mich ausziehn, ich muß baden,
schick die zwei aus dem Zimmer, wohin Du willst, auf den Gang, auf den
Balkon, nur daß ich sie nicht mehr sehe. Man ist in seiner eigenen
Wohnung und immerfort gestört. Wenn ich mit Dir allein wäre, Delamarche.
Ach Gott, sie sind noch immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich
da in Gegenwart einer Dame in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser
fremde Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich
wieder gelegt hat um mich zu täuschen. Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie
sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust, wenn ich jetzt umkomme,
ist es ihretwegen. "
"Sofort sind sie
draußen, zieh Dich nur schon aus", sagte Delamarche, gieng zu
Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf die Brust
setzte. Gleichzeitig rief er Karl zu: "Roßmann, aufstehn! Ihr müßt
beide auf den Balkon! Und wehe Euch wenn Ihr früher hereinkommt, ehe man
Euch ruft! Und jetzt flink, Robinson" – dabei schüttelte er
Robinson stärker – "und Du Roßmann, gib Acht, daß ich nicht auch
über Dich komme" – dabei klatschte er laut zweimal in die Hände.
"Wie lang das dauert! " rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte
beim Sitzen die Beine weit auseinandergestellt, um ihrem übermäßig
dicken Körper mehr Raum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung,
unter vielem Schnaufen und häufigem Ausruhn, konnte sie sich soweit bücken
um ihre Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig
herunterzuziehn, gänzlich ausziehn konnte sie sie nicht, das mußte
Delamarche besorgen auf den sie nun ungeduldig wartete.
Ganz stumpf vor Müdigkeit
war Karl von dem Haufen heruntergekrochen und gieng langsam zur Balkontüre,
ein Stück Vorhangstoffes hatte sich ihm um den Fuß gewickelt und er
schleppte es gleichgültig mit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar,
als er an Brunelda vorübergieng: "Ich wünsche gute Nacht" und
wanderte dann an Delamarche vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein
wenig beiseite zog auf den Balkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson
wohl nicht minder schläfrig, denn er summte vor sich hin: "Immerfort
maltraitiert man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf
den Balkon. " Aber trotz dieser Versicherung gieng er ohne jeden
Widerstand heraus, wo er sich, da Karl schon in den Lehnstuhl gesunken
war, sofort auf den Steinboden legte.
Als Karl erwachte war es
schon Abend, die Sterne standen schon am Himmel, hinter den hohen Häusern
der gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor.
Erst nach einigem Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen
in der kühlen erfrischenden Luft wurde sich Karl dessen bewußt wo er
war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin,
alle Warnungen Thereses, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt,
saß hier ruhig auf dem Balkon des Delamarche und hatte hier gar den
halben Tag verschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche,
sein großer Feind. Auf dem Boden wand sich der faule Robinson und zog
Karl am Fuße, er schien ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn
er sagte: "Du hast einen Schlaf Roßmann! Das ist die sorglose
Jugend. Wie lange willst Du denn noch schlafen. Ich hätte Dich ja noch
schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig
und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte Dich steh ein wenig
auf, ich habe da unten im Sessel drin etwas zum Essen aufgehoben, ich möchte
es gern herausziehn. Du bekommst dann auch etwas." Und Karl, der
aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne aufzustehn, sich auf den Bauch
herüberwälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine
versilberte Schale hervorzog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitkarten
dient. Auf dieser Schale lag aber eine halbe ganz schwarze Wurst, einige dünne
Cigaretten, eine geöffnete aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende
Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem Ballen
gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot und eine
Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfum zu enthalten schien,
denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu
Karl hinauf. "Siehst Du Roßmann", sagte Robinson, während er
Sardine nach Sardine herunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an
einem Wolltuch reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen
hatte. "Siehst Du Roßmann, so muß man sich sein Essen aufheben,
wenn man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz bei Seite geschoben. Und
wenn man immerfort als Hund behandelt wird denkt man schließlich man ists
wirklich. Gut, daß Du da bist, Roßmann, ich kann wenigstens mit jemandem
reden. Im Haus spricht ja niemand mit mir. Wir sind verhaßt. Und alles
wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du –
" und er winkte Karl zu sich herab um ihm zuzuflüstern – "ich
habe sie einmal nackt gesehn. Oh!" – und in der Erinnerung an diese
Freude fieng er an, Karls Beine zu drücken und zu schlagen, bis Karl
ausrief: "Robinson Du bist ja verrückt", seine Hände packte
und zurückstieß.
"Du bist eben noch
ein Kind, Roßmann", sagte Robinson, zog einen Dolch, den er an einer
Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe ab und
zerschnitt die harte Wurst. "Du mußt noch viel zulernen. Bist aber
bei uns an der richtigen Quelle. Setz Dich doch. Willst Du nicht auch
etwas essen. Nun vielleicht bekommst Du Appetit, wenn Du mir zuschaust.
Trinken willst Du auch nicht Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig
bist Du gerade auch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit
wem man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich
sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muß ihr
nur etwas einfallen, einmal ist ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie
schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen,
einmal will sie es anziehn und da werde ich immer auf den Balkon
geschickt. Manchmal tut sie wirklich das was sie sagt, aber meistens liegt
sie nur so wie früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe
ich öfters den Vorhang so ein wenig weggezogen und durchgeschaut, aber
seitdem einmal Delamarche bei einer solchen Gelegenheit – ich weiß
genau daß er es nicht wollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat –
mir mit der Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen hat – siehst Du
den Striemen? – wage ich nicht mehr durchzuschauen. Und so liege ich
dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen außer dem Essen.
Vorgestern als ich da abend so allein gelegen bin, damals war ich noch in
meinen eleganten Kleidern die ich leider in Deinem Hotel verloren habe –
diese Hunde! reißen einem die teuern Kleider vom Leib! – als ich also
da so allein gelegen bin und durch das Geländer heruntergeschaut habe,
war mir alles so traurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig
ohne daß ich es gleich bemerkt habe, die Brunelda zu mir herausgekommen
in dem roten Kleid – das paßt ihr doch von allen am besten –, hat mir
ein wenig zugeschaut und hat endlich gesagt: Robinsonerl, warum weinst
Du? Dann hat sie ihr Kleid gehoben und mir mit dem Saum die Augen
abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn da nicht Delamarche
nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort wieder ins Zimmer hätte
hineingehn müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt sei die Reihe an
mir und habe durch den Vorhang gefragt ob ich schon ins Zimmer darf. Und
was meinst Du, hat die Brunelda gesagt? Nein! hat sie gesagt und
was fällt Dir ein? hat sie gesagt. "
"Warum bleibst Du
denn hier, wenn man Dich so behandelt?" fragte Karl.
"Verzeih, Roßmann,
Du fragst nicht sehr gescheit", antwortete Robinson. "Du wirst
schon auch noch hier bleiben und wenn man Dich noch ärger behandelt. Übrigens
behandelt man mich gar nicht so arg. "
"Nein", sagte
Karl, "ich gehe bestimmt weg und womöglich noch heute abend. Ich
bleibe nicht bei Euch. "
"Wie willst Du denn
z. B. das anstellen, heute abend wegzugehn" fragte Robinson, der das
Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte und sorgfältig in dem Öl der
Sardinenbüchse tränkte. "Wie willst Du weggehn, wenn Du nicht
einmal ins Zimmer hineingehn darfst. "
"Warum dürfen wir
denn nicht hineingehn?"
"Nun solange es
nicht geläutet hat dürfen wir nicht hineingehn", sagte Robinson,
der mit möglichst weit geöffnetem Mund das fette Brot verspeiste, während
er mit einer Hand das vom Brot herabtropfende Öl auffieng, um von Zeit zu
Zeit das noch übrige Brot in diese als Reservoir dienende hohle Hand zu
tauchen. "Es ist hier alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein
dünner Vorhang, man hat zwar nicht durchgesehn, aber am Abend hat man
doch die Schatten erkannt. Das war der Brunelda unangenehm und da habe ich
einen ihrer Teatermäntel zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten
Vorhanges hier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr. Dann
habe ich früher immer fragen dürfen, ob ich schon hineingehn darf und
man hat mir je nach den Umständen geantwortet ja oder
nein, aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt
und zu oft gefragt, Brunelda konnte das nicht ertragen – sie ist trotz
ihrer Dicke sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in
den Beinen fast immer – und so wurde bestimmt, daß ich nicht mehr
fragen darf, sondern daß, wenn ich hineingehn kann, auf die Tischglocke
gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten, daß es mich selbst aus dem
Schlaf weckt – ich habe einmal eine Katze zu meiner Unterhaltung hier
gehabt, die ist vor Schrecken über dieses Läuten weggelaufen und nicht
mehr zurückgekommen. Also geläutet hat es heute noch nicht – wenn es nämlich
läutet dann darf ich nicht nur, sondern muß hineingehn – und wenn es
einmal so lange nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern. "
"Ja", sagte
Karl, "aber was für Dich gilt, muß doch noch nicht für mich
gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich gefallen läßt.
"
"Aber", rief
Robinson, "warum sollte denn das nicht auch für Dich gelten?
Selbstverständlich gilt es auch für Dich. Warte hier nur ruhig mit mir,
bis es läutet. Dann kannst Du ja versuchen, ob Du wegkommst. "
"Warum gehst Du denn
eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb weil Delamarche Dein Freund
ist oder besser war? Ist denn das ein Leben? Wäre es da nicht in
Butterford besser, wohin Ihr zuerst wolltet? Oder gar in Kalifornien wo Du
Freunde hast. "
"Ja", sagte
Robinson, "das konnte niemand voraussehn." Und ehe er weitererzählte,
sagte er noch: "auf Dein Wohl, lieber Roßmann" und nahm einen
langen Zug aus der Parfumflasche. "Wir waren ja damals wie Du uns so
gemein hast sitzen lassen, sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir an den
ersten Tagen keine bekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er
hätte sie schon bekommen, sondern schickte nur immer mich auf Suche und
ich habe kein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aber es war schon
fast Abend, da hatte er nur ein Damenportemonnaie mitgebracht, es war zwar
sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es der Brunelda geschenkt, aber es
war fast nichts darin. Dann sagte er wir sollten in die Wohnungen betteln
gehn, bei dieser Gelegenheit kann man natürlich manches Brauchbare
finden, wir sind also betteln gegangen und ich habe, damit es besser
aussieht, vor den Wohnungstüren gesungen. Und wie schon Delamarche immer
Glück hat, sind wir nur vor der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr
reichen Wohnung im Parterre, und haben an der Tür der Köchin und dem
Diener etwas vorgesungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört,
eben Brunelda die Treppe hinauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt
und konnte die paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie
ausgesehn hat, Roßmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid und einen roten
Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach
Gott, ach Gott war sie schön. So ein Frauenzimmer! Nein sag mir nur wie
kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das Mädchen und der
Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben sie fast hinaufgetragen. Wir
sind rechts und links von der Tür gestanden und haben salutiert, das
macht man hier so. Sie ist ein wenig stehn geblieben, weil sie noch immer
nicht genug Atem hatte und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich
geschehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz bei Verstand und sie
war eben in der Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines
besondern Mieders, ich kann es Dir dann im Kasten zeigen, überall so fest
– kurz, ich habe sie ein bißchen hinten angerührt, aber ganz leicht
weißt Du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden, daß
ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine Berührung,
aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wie schlimm
das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeige
gegeben hätte und zwar eine solche Ohrfeige, daß ich sofort meine beiden
Hände für die Wange brauchte. "
"Was Ihr getrieben
habt", sagte Karl, von der Geschichte ganz gefangen genommen und
setzte sich auf den Boden. "Das war also Brunelda"
"Nun ja", sagte
Robinson, "das war Brunelda. "
"Sagtest Du nicht
einmal, daß sie eine Sängerin ist?" fragte Karl.
"Freilich ist sie
eine Sängerin und eine große Sängerin", antwortete Robinson, der
eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hie und da ein Stück,
das aus dem Mund gedrängt wurde mit den Fingern wieder zurückdrückte.
"Aber das wußten wir natürlich damals noch nicht, wir sahen nur daß
es eine reiche und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichts geschehn
und vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich
nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie den Delamarche
angesehn, der ihr wieder – wie er das schon trifft – gerade in die
Augen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: Komm mal auf
ein Weilchen herein und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung
gezeigt, wohin Delamarche ihr vorangehn sollte; Dann sind sie beide
hineingegangen und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Türe zugemacht.
Mich haben sie draußen vergessen und da habe ich gedacht es wird nicht
gar so lange dauern und habe mich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu
erwarten. Aber statt des Delamarche ist der Diener herausgekommen und hat
mir eine ganze Schüssel Suppe herausgebracht, eine Aufmerksamkeit des
Delamarche! sagte ich mir. Der Diener blieb noch während ich aß ein
Weilchen bei mir stehn und erzählte mir Einiges über Brunelda und da
habe ich gesehn, was für eine Bedeutung der Besuch bei Brunelda für uns
haben konnte. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte ein großes
Vermögen und war vollständig selbstständig. Ihr früherer Mann ein
Cacaofabrikant liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm nicht
das geringste hören. Er kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant
wie zu einer Hochzeit angezogen – das ist Wort für Wort wahr, ich kenne
ihn selbst – aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung nicht
Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte einigemal
schon gefragt, und immer hatte ihm Brunelda das was sie gerade bei der
Hand hatte ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre große gefüllte Wärmeflasche
und mit der hatte sie ihm einen Vorderzahn ausgeschlagen. Ja, Roßmann da
schaust Du! "
"Woher kennst Du den
Mann?" fragte Karl.
"Er kommt manchmal
auch herauf", sagte Robinson.
"Herauf? " Karl
schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.
"Du kannst ruhig
staunen", fuhr Robinson fort, "selbst ich habe gestaunt, wie mir
das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zuhause
war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen lassen und
immer eine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer etwas sehr
Teueres und Feines für Brunelda zurückgelassen und dem Diener streng
verboten zu sagen von wem es ist. Aber einmal als er etwas – wie der
Diener sagte und ich glaub es – geradezu Unbezahlbares aus Porzellan
mitgebracht hatte, muß Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort
auf den Boden geworfen, ist darauf herumgetreten, hat es angespuckt und
noch einiges andere damit gemacht, so daß es der Diener vor Ekel kaum
heraustragen konnte. "
"Was hat ihr denn
der Mann getan?" fragte Karl.
"Das weiß ich
eigentlich nicht", sagte Robinson. "Ich glaube aber, nichts
besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon
manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort an
der Straßenecke, wenn ich komme, so muß ich ihm Neuigkeiten erzählen,
kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe Stunde und geht dann wieder
weg. Es war für mich ein guter Nebenverdienst, denn er bezahlt die
Nachrichten sehr vornehm, aber seit Delamarche davon erfahren hat, muß
ich ihm alles abliefern und so geh ich seltener hin. "
"Aber was will der
Mann haben?" fragte Karl, "was will er denn nur haben? Er hört
doch, sie will ihn nicht. "
"Ja", seufzte
Robinson, zündete sich eine Cigarette an und blies unter großen
Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zu
entschließen und sagte: "Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er möchte
viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte, wie
wir. "
Karl stand auf, lehnte
sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter. Der Mond war schon
sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber noch nicht. Die am
Tag so leere Gasse war besonders vor den Haustoren gedrängt voll
Menschen, alle waren in langsamer schwerfälliger Bewegung, die Hemdärmel
der Männer, die hellen Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel
ab, alle waren ohne Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsherum waren nun
insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien je
nach der Größe des Balkons um einen kleinen Tisch herum oder bloß auf
Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem
Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße zwischen den
Geländerstangen hinausgestreckt und lasen Zeitungen, die fast bis auf den
Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm aber unter starken
Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schooß voll Näharbeit
und erübrigten nur hie und da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder
für die Straße, eine blonde schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte
immerfort, verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück,
das sie gerade flickte, selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden es
die Kinder einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel. Im Innern
vieler Zimmer waren Grammophone aufgestellt und bliesen Gesang oder
Orchestralmusik hervor, man kümmerte sich nicht besonders um diese Musik,
nur hie und da gab der Familienvater einen Wink und irgendjemand eilte ins
Zimmer hinein, um eine neue Platte einzulegen. An manchen Fenstern sah man
vollständig bewegungslose Liebespaare, an einem Fenster Karl gegenüber
stand ein solches Paar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen
gelegt und drückte mit der Hand ihre Brust.
"Kennst Du jemanden
von den Leuten hier nebenan" fragte Karl Robinson, der nun auch
aufgestanden war und weil es ihn fröstelte außer der Bettdecke auch noch
die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.
"Fast niemanden. Das
ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung", sagte Robinson und zog
Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, "sonst hätte
ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Die Brunelda hat ja
wegen des Delamarche alles was sie hatte verkauft und ist mit allen ihren
Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm
ganz widmen kann und damit sie niemand stört, übrigens war das auch der
Wunsch des Delamarche. "
"Und die
Dienerschaft hat sie entlassen?" fragte Karl.
"Ganz richtig",
sagte Robinson. "Wo sollte man auch die Dienerschaft hier
unterbringen? Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat
Delamarche bei der Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus
dem Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Mann
draußen war. Natürlich haben die andern Diener sich mit ihm vereinigt
und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamarche herausgekommen (ich war
damals nicht Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern
beisammen) und hat gefragt: Was wollt ihr? Der älteste Diener,
ein gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: Sie haben mit uns nichts zu
reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau. Wie Du wahrscheinlich
merkst haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist ohne sich um sie
zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch nicht so
schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküßt und liebster
Delamarche genannt. Und schick doch schon diese Affen weg, hat
sie endlich gesagt. Affen – das sollten die Diener sein, stell Dir die
Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat die Brunelda die Hand des
Delamarche zu ihrer Geldtasche hingezogen die sie am Gürtel trug,
Delamarche hat hineingegriffen und also angefangen die Diener auszuzahlen,
die Brunelda hat sich nur dadurch an der Auszahlung beteiligt, daß sie
mit der offenen Geldtasche im Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche mußte
oft hineingreifen, denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen und ohne
die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er: Da Ihr also mit mir
nicht reden wollt, sage ich Euch nur im Namen Bruneldas Packt Euch,
aber sofort. So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige
Processe, Delamarche mußte sogar einmal zum Gericht, aber davon weiß ich
nichts genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche
zur Brunelda gesagt: Jetzt hast Du also keine Dienerschaft? Sie
hat gesagt: Aber da ist ja Robinson. Daraufhin hat Delamarche
gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: Also
gut, Du wirst unser Diener sein. Und Brunelda hat mir dann auf die
Wange geklopft, wenn sich die Gelegenheit findet, Roßmann, laß Dir auch
einmal von ihr auf die Wangen klopfen, Du wirst staunen, wie schön das
ist. "
"Du bist also der
Diener des Delamarche geworden?" sagte Karl zusammenfassend.
Robinson hörte das
Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: "Ich bin Diener, aber
das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, Du selbst wußtest es nicht,
trotzdem Du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja gesehn, wie
ich in der Nacht bei Euch im Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinen
hatte ich an, gehn Diener so angezogen? Nur ist eben die Sache die, daß
ich nicht oft weggehn darf, ich muß immer bei der Hand sein, in der
Wirtschaft ist eben immer etwas zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für
die viele Arbeit. Wie Du vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele
Sachen im Zimmer herumstehn, was wir eben bei dem großen Auszug nicht
verkaufen konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es
wegschenken können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk Dir nur,
welche Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe heraufzutragen.
"
"Robinson, Du hast
das alles heraufgetragen? " rief Karl.
"Wer denn
sonst" sagte Robinson. "Es war noch ein Hilfsarbeiter da, ein
faules Luder, ich habe die meiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda
ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben angeordnet, wohin die
Sachen zu legen sind, und ich bin immerfort hin und hergelaufen. Es hat
zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr? aber Du weißt ja gar nicht
wie viel Sachen hier im Zimmer sind, alle Kästen sind voll und hinter den
Kästen ist alles vollgestopft bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar
Leute für den Transport aufgenommen hätte, wäre ja alles bald fertig
gewesen, aber Brunelda wollte es niemandem außer mir anvertrauen. Das war
ja sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit für mein ganzes
Leben verdorben und was habe ich denn sonst gehabt, als meine Gesundheit.
Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge sticht es mich hier und hier und
hier. Glaubst Du, diese Jungen im Hotel, diese Grasfrösche – was sind
sie denn sonst? – hätten mich jemals besiegen können, wenn ich gesund
wäre. Aber was mir auch fehlen sollte, dem Delamarche und der Brunelda
sage ich kein Wort, ich werde arbeiten, solange es gehn wird und bis es
nicht mehr' gehn wird, werde ich mich hinlegen und sterben und dann erst,
zu spät, werden sie sehn, daß ich krank gewesen bin und trotzdem
immerfort und immerfort weitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu
Tode gearbeitet habe. Ach Roßmann", sagte er schließlich und
trocknete die Augen an Karls Hemdärmel. Nach einem Weilchen sagte er:
"Ist Dir denn nicht kalt, Du stehst da so im Hemd. "
"Geh Robinson",
sagte Karl, "immerfort weinst Du. Ich glaube nicht, daß Du so krank
bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil Du immerfort da auf dem Balkon
liegst, hast Du Dir so verschiedenes ausgedacht. Du hast vielleicht
manchmal einen Stich in der Brust, das habe ich auch, das hat jeder. Wenn
alle Menschen wegen jeder Kleinigkeit so weinen wollten, wie Du, müßten
da die Leute auf allen Balkonen weinen. "
"Ich weiß es
besser", sagte Robinson und wischte nun die Augen mit dem Zipfel
seiner Decke. "Der Student der nebenan bei der Vermieterin wohnt die
auch für uns kochte, hat mir letzthin als ich das Eßgeschirr zurückbrachte
gesagt: Hören Sie einmal Robinson, sind Sie nicht krank? Mir ist
verboten mit den Leuten zu reden und so habe ich nur das Geschirr
hingelegt und wollte weggehn. Da ist er zu mir gegangen und hat gesagt:
Hören Sie Mann, treiben Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind
krank. Ja also ich bitte, was soll ich denn machen, habe ich
gefragt. Das ist Ihre Sache, hat er gesagt und hat sich umgedreht.
Die andern dort bei Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überall Feinde
und so bin ich lieber weggegangen. "
"Also Leuten, die
Dich zum Narren halten, glaubst Du, und Leuten, die es mit Dir gut meinen,
glaubst Du nicht. "
"Aber ich muß doch
wissen, wie mir ist", fuhr Robinson auf, kehrte aber gleich wieder
zum Weinen zurück.
"Du weißt eben
nicht, was Dir fehlt, Du solltest irgend eine ordentliche Arbeit für Dich
suchen, statt hier den Diener des Delamarche zu machen. Denn soweit ich
nach Deinen Erzählungen und nach dem, was ich selbst gesehen habe,
urteilen kann, ist das hier kein Dienst, sondern eine Sklaverei. Das kann
kein Mensch ertragen, das glaube ich Dir. Du aber denkst, weil Du der
Freund des Delamarche bist, darfst Du ihn nicht verlassen. Das ist falsch,
wenn er nicht einsieht, was für ein elendes Leben Du führst, so hast Du
ihm gegenüber nicht die geringsten Verpflichtungen mehr. "
"Du glaubst also
wirklich, Roßmann, daß ich mich wieder erholen werde, wenn ich das
Dienen hier aufgebe. "
"Gewiß", sagte
Karl.
"Gewiß?"
fragte nochmals Robinson.
"Ganz gewiß",
sagte Karl lächelnd.
"Dann könnte ich ja
gleich anfangen, mich zu erholen", sagte Robinson und sah Karl an.
"Wieso denn?"
fragte dieser.
"Nun weil Du doch
meine Arbeit hier übernehmen sollst", antwortete Robinson.
"Wer hat Dir denn
das gesagt?" fragte Karl.
"Das ist doch ein
alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen gesprochen. Es hat
damit angefangen, daß Brunelda mich ausgezankt hat, weil ich die Wohnung
nicht genug sauber halte. Natürlich habe ich versprochen, daß ich alles
gleich in Ordnung bringen werde. Nun ist das aber sehr schwer. Ich kann z.
B. in meinem Zustand nicht überall hinkriechen, um den Staub
wegzuwischen, man kann sich schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren,
wie erst dort zwischen den Möbeln und den Vorräten. Und wenn man alles
genau reinigen will, muß man doch auch die Möbel von ihrem Platz
wegschieben und das soll ich allein machen? Außerdem müßte das alles
ganz leise geschehn, weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verläßt
nicht gestört werden darf. Ich habe also zwar versprochen, daß ich alles
rein machen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich nicht. Als
Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt, daß das nicht so
weiter geht und daß man noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen.
Ich will nicht, Delamarche, hat sie gesagt, daß Du mir einmal
Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt. Selbst
kann ich mich nicht anstrengen, das siehst Du doch ein und Robinson genügt
nicht, am Anfang war er so frisch und hat sich überall umgesehn, aber
jetzt ist er immerfort müde und sitzt meist in einem Winkel. Aber ein
Zimmer mit soviel Gegenständen wie das unsrige, hält sich nicht selbst
in Ordnung. Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe,
denn eine beliebige Person kann man natürlich nicht in einen solchen
Haushalt aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man paßt uns ja von allen
Seiten auf. Weil ich aber Dein guter Freund bin und von Renell gehört
habe, wie Du Dich im Hotel plagen mußt, habe ich Dich in Vorschlag
gebracht. Delamarche war gleich einverstanden, trotzdem Du damals gegen
ihn Dich so keck benommen hast, und ich habe mich natürlich sehr gefreut,
daß ich Dir so nützlich sein konnte. Für Dich ist nämlich diese
Stellung wie geschaffen, Du bist jung, stark und geschickt, während ich
nichts mehr wert bin. Nur will ich Dir sagen, daß Du noch keineswegs
aufgenommen bist, wenn Du Brunelda nicht gefällst, können wir Dich nicht
brauchen. Also strenge Dich nur an, daß Du ihr angenehm bist, für das übrige
werde ich schon sorgen. "
"Und was wirst Du
machen, wenn ich hier Diener sein werde" fragte Karl, er fühlte sich
so frei, der erste Schrecken, den ihm die Mitteilungen Robinsons
verursacht hatten war vorüber. Delamarche hatte also keine schlimmern
Absichten mit ihm, als ihn zum Diener zu machen, – hätte er schlimmere
Absichten gehabt, dann hätte sie der plapperhafte Robinson gewiß
verraten – wenn es aber so stand, dann getraute sich Karl noch heute
Nacht den Abschied durchzuführen. Man kann niemanden zwingen einen Posten
anzunehmen. Und während Karl früher genug Sorgen gehabt hatte, ob er
nach seiner Entlassung aus dem Hotel genügend bald, um vor Hunger geschützt
zu sein, einen passenden und womöglich nicht unansehnlichern Posten
bekommen werde, schien ihm jetzt im Vergleich zu dem ihm hier zugedachten
Posten, der ihm widerlich war, jeder andere Posten gut genug und selbst
die stellungslose Not hätte er diesem Posten vorgezogen. Robinson das
aber begreiflich zu machen, versuchte er gar nicht, besonders da Robinson
jetzt in jedem Urteil durch die Hoffnung völlig befangen war, von Karl
entlastet zu werden.
"Ich werde
also", sagte Robinson und begleitete die Rede mit behaglichen
Handbewegungen – die Elbogen hatte er auf das Geländer aufgestützt –
"zunächst Dir alles erklären und die Vorräte zeigen. Du bist
gebildet und hast sicher eine schöne Schrift, Du könntest also gleich
ein Verzeichnis aller der Sachen machen, die wir da haben. Das hat sich
Brunelda schon längst gewünscht. Wenn morgen Vormittag schönes Wetter
ist, werden wir Brunelda bitten, daß sie sich auf den Balkon setzt und
inzwischen werden wir ruhig und ohne sie zu stören im Zimmer arbeiten können.
Denn darauf, Roßmann, mußt Du vor allem Acht geben. Nur nicht Brunelda
stören. Sie hört alles, wahrscheinlich hat sie als Sängerin so
empfindliche Ohren. Du rollst z. B. das Faß mit Schnaps, das hinter den Kästen
steht, heraus, es macht ja Lärm, weil es schwer ist und dort überall
verschiedene Sachen herumliegen so daß man es nicht mit einemmal
durchrollen kann. Brunelda liegt z. B. ruhig auf dem Kanapee und fängt
Fliegen, die sie überhaupt sehr belästigen. Du glaubst also, sie kümmert
sich um Dich nicht und rollst Dein Faß weiter. Sie liegt noch immer
ruhig. Aber in einem Augenblick, wo Du es gar nicht erwartest und wo Du am
wenigsten Lärm machst, setzt sie sich plötzlich aufrecht, schlägt mit
beiden Händen auf das Kanapee, daß man sie vor Staub nicht sieht –
seit wir hier sind habe ich das Kanapee nicht ausgeklopft, ich kann ja
nicht, sie liegt doch immerfort darauf – und fängt schrecklich zu
schreien an, wie ein Mann, und schreit so stundenlang. Das Singen haben
ihr die Nachbarn verboten, das Schreien aber kann ihr niemand verbieten,
sie muß schreien, übrigens geschieht es ja jetzt nur selten, ich und
Delamarche sind sehr vorsichtig geworden. Es hat ihr ja auch sehr
geschadet. Einmal ist sie ohnmächtig geworden und ich habe – Delamarche
war gerade weg – den Studenten von nebenan holen müssen, der hat sie
aus einer großen Flasche mit einer Flüssigkeit bespritzt, es hat auch
geholfen, aber diese Flüssigkeit hat einen unerträglichen Geruch gehabt,
noch jetzt wenn man die Nase zum Kanapee hält, riecht man es. Der Student
ist sicher unser Feind, wie alle hier, Du mußt Dich auch vor allen in
acht nehmen und Dich mit keinem einlassen. "
"Du Robinson",
sagte Karl, "das ist aber ein schwerer Dienst. Da hast Du mich für
einen schönen Posten empfohlen."
"Mach Dir keine
Sorgen", sagte Robinson und schüttelte mit geschlossenen Augen den
Kopf um alle möglichen Sorgen Karls abzuwehren, "der Posten hat auch
Vorteile wie sie Dir kein anderer Posten bieten kann. Du bist immerfort in
der Nähe einer Dame wie Brunelda ist, Du schläfst manchmal mit ihr im
gleichen Zimmer, das bringt schon, wie Du Dir denken kannst, verschiedene
Annehmlichkeiten mit sich. Du wirst reichlich bezahlt werden, Geld ist in
Menge da, ich habe als Freund des Delamarche nichts bekommen, nur wenn ich
ausgegangen bin, hat mir Brunelda immer etwas mitgegeben, aber Du wirst
natürlich bezahlt werden, wie ein anderer Diener. Du bist ja auch nichts
anderes. Das Wichtigste für Dich aber ist, daß ich Dir den Posten sehr
erleichtern werde. Zunächst werde ich natürlich nichts machen, damit ich
mich erhole, aber wie ich nur ein wenig erholt bin, kannst Du auf mich
rechnen. Die eigentliche Bedienung Bruneldas behalte ich überhaupt für
mich, also das Frisieren und Anziehn, soweit es nicht Delamarche besorgt.
Du wirst Dich nur um das Aufräumen des Zimmers, um Besorgungen und die
schwereren häuslichen Arbeiten zu kümmern haben. "
"Nein Robinson", sagte Karl,
"das alles verlockt mich nicht. "
"Mach keine Dummheiten Roßmann",
sagte Robinson ganz nahe an Karls Gesicht, "verscherze Dir nicht
diese schöne Gelegenheit. Wo bekommst Du denn gleich einen Posten? Wer
kennt Dich? Wen kennst Du? Wir, zwei Männer, die schon viel erlebt haben
und große Erfahrung besitzen, sind wochenlang herumgelaufen, ohne Arbeit
zu bekommen. Es ist nicht leicht, es ist sogar verzweifelt schwer. "
Karl nickte und wunderte
sich, wie vernünftig Robinson auch sprechen konnte. Für ihn hatten diese
Ratschläge allerdings keine Geltung, er durfte hier nicht bleiben, in der
großen Stadt würde sich wohl ein Plätzchen noch für ihn finden, die
ganze Nacht über, das wußte er, waren alle Gasthäuser überfüllt, man
brauchte Bedienung für die Gäste, darin hatte er nun schon Übung, er würde
sich schon rasch und unauffällig in irgend einen Betrieb einfügen.
Gerade im gegenüberliegenden Hause war unten ein kleines Gasthaus
untergebracht, aus dem eine rauschende Musik hervordrang. Der Haupteingang
war nur mit einem großen gelben Vorhang verdeckt, der manchmal von einem
Luftzug bewegt mächtig in die Gasse hinaus flatterte. Sonst war es in der
Gasse freilich viel stiller geworden. Die meisten Balkone waren finster,
nur in der Ferne fand sich noch hier oder dort ein einzelnes Licht, aber
kaum faßte man es für ein Weilchen ins Auge, erhoben sich dort die
Leute, und während sie in die Wohnung zurückdrängten griff ein Mann an
die Glühlampe und drehte, als letzter auf dem Balkon zurückbleibend nach
einem kurzen Blick auf die Gasse das Licht aus.
"Nun beginnt ja
schon die Nacht", sagte sich Karl, "bleibe ich noch länger
hier, gehöre ich schon zu ihnen. " Er drehte sich um, um den Vorhang
vor der Wohnungstür wegzuziehn. "Was willst Du?" sagte Robinson
und stellte sich zwischen Karl und den Vorhang. "Weg will ich",
sagte Karl, "laß mich, laß mich! " "Du willst sie doch
nicht stören", rief Robinson, "was fällt Dir denn nur ein.
" Und er legte Karl die Arme um den Hals, hieng sich mit seiner
ganzen Last an ihn, umklammerte mit den Beinen Karls Beine und zog ihn so
im Augenblick auf die Erde nieder. Aber Karl hatte unter den Liftjungen
ein wenig raufen gelernt, und so stieß er Robinson die Faust unter das
Kinn, aber schwach und voll Schonung. Der gab Karl noch rasch und ganz rücksichtslos
mit dem Knie einen vollen Stoß in den Bauch, fing dann aber, beide Hände
am Kinn, so laut zu heulen an, daß von dem benachbarten Balkon ein Mann
unter wildem Händeklatschen "Ruhe" befahl. Karl lag noch ein
wenig still, um den Schmerz, den ihm der Stoß Robinsons verursacht hatte,
zu verwinden. Er wendete nur das Gesicht zum Vorhang hin, der ruhig und
schwer vor dem offenbar dunklen Zimmer hieng. Es schien ja niemand mehr im
Zimmer zu sein, vielleicht war Delamarche mit Brunelda ausgegangen und
Karl hatte schon völlige Freiheit. Robinson, der sich wirklich wie ein Wächterhund
benahm, war ja endgiltig abgeschüttelt.
Da ertönten aus der
Ferne von der Gasse her stoßweise Trommeln und Trompeten. Einzelne Rufe
vieler Leute sammelten sich bald zu einem allgemeinen Schreien. Karl
drehte den Kopf und sah wie sich alle Balkone von neuem belebten. Langsam
erhob er sich, er konnte sich nicht ganz aufrichten und mußte sich schwer
gegen das Geländer drücken. Unten auf den Trottoiren marschierten junge
Burschen mit großen Schritten, ausgestreckten Armen, die Mützen in der
erhobenen Hand, die Gesichter zurückgewendet. Die Fahrbahn blieb noch
frei. Einzelne schwenkten auf hohen Stangen Lampione, die von einem
gelblichen Rauch umhüllt waren. Gerade traten die Trommler und Trompeter
in breiten Reihen ans Licht und Karl staunte über ihre Menge, da hörte
er hinter sich Stimmen, drehte sich um und sah den Delamarche den schweren
Vorhang heben und dann aus dem Zimmerdunkel Brunelda treten, im roten
Kleid, mit einem Spitzenüberwurf um die Schultern, einem dunklen Häubchen
über dem wahrscheinlich unfrisierten und bloß aufgehäuften Haar dessen
Enden hie und da hervorsahen. In der Hand hielt sie einen kleinen
ausgespannten Fächer, bewegte ihn aber nicht sondern drückte ihn eng an
sich.
Karl schob sich am Geländer
entlang zur Seite um den beiden Platz zu machen. Gewiß würde ihn niemand
zum Hierbleiben zwingen, und wenn es auch Delamarche versuchen sollte,
Brunelda würde ihn auf seine Bitte sofort entlassen. Sie konnte ihn ja
gar nicht leiden, seine Augen erschreckten sie. Aber als er einen Schritt
zur Tür hin machte, hatte sie es doch bemerkt und sagte: "Wohin denn
Kleiner?" Karl stockte vor den strengen Blicken des Delamarche und
Brunelda zog ihn zu sich. "Willst Du Dir denn nicht den Aufzug unten
ansehn?" sagte sie und schob ihn vor sich an das Geländer. "Weißt
Du, um was es sich handelt?" hörte sie Karl hinter sich sagen und
machte ohne Erfolg eine unwillkürliche Bewegung, um sich ihrem Druck zu
entziehn. Traurig sah er auf die Gasse hinunter, als sei dort der Grund
seiner Traurigkeit.
Delamarche stand zuerst
mit gekreuzten Armen hinter Brunelda, dann lief er ins Zimmer und brachte
Brunelda den Operngucker. Unten war hinter den Musikanten der Hauptteil
des Aufzuges erschienen. Auf den Schultern eines riesenhaften Mannes saß
ein Herr, von dem man in dieser Höhe nichts anderes sah, als seine matt
schimmernde Glatze, über der er seinen Zylinderhut ständig grüßend
hoch erhoben hielt. Rings um ihn wurden offenbar Holztafeln getragen, die
vom Balkon aus gesehen ganz weiß erschienen; die Anordnung war derartig
getroffen, daß diese Plakate von allen Seiten sich förmlich an den Herrn
anlehnten, der aus ihrer Mitte hoch hervorragte. Da alles im Gange war,
lockerte sich diese Mauer von Plakaten immerfort und ordnete sich auch
immerfort von neuem. Im weitern Umkreis war um den Herrn die ganze Breite
der Gasse, wenn auch, soweit man im Dunkel schätzen konnte, auf eine
unbedeutende Länge hin, von Anhängern des Herrn angefüllt, die sämtlich
in die Hände klatschten und wahrscheinlich den Namen des Herrn, einen
ganz kurzen, aber unverständlichen Namen, in einem getragenen Gesange
verkündeten. Einzelne, die geschickt in der Menge verteilt waren, hatten
Automobillaternen mit äußerst starkem Licht, das sie die Häuser auf
beiden Seiten der Straße langsam auf- und abwärts führten. In Karls Höhe
störte das Licht nicht mehr, aber auf den untern Balkonen sah man die
Leute, die davon bestrichen wurden, eiligst die Hände an die Augen führen.
Delamarche erkundigte
sich auf die Bitte Bruneldas bei den Leuten auf dem Nachbarbalkon, was die
Veranstaltung zu bedeuten habe. Karl war ein wenig neugierig, ob und wie
man ihm antworten würde. Und tatsächlich mußte Delamarche dreimal
fragen, ohne eine Antwort zu bekommen. Er beugte sich schon gefährlich über
das Geländer, Brunelda stampfte vor Ärger über die Nachbarn leicht auf,
Karl fühlte ihr Knie. Endlich kam doch irgendeine Antwort, aber
gleichzeitig fingen auf diesem Balkon, der gedrängt voll Menschen war,
alle laut zu lachen an. Daraufhin schrie Delamarche etwas hinüber, so
laut, daß, wenn nicht augenblicklich in der ganzen Gasse viel Lärm
gewesen wäre, alles ringsherum erstaunt hätte aufhorchen müssen.
Jedenfalls hatte es die Wirkung, daß das Lachen unnatürlich bald sich
legte.
"Es wird morgen ein
Richter in unserem Bezirk gewählt und der, den sie unten tragen, ist ein
Kandidat", sagte Delamarche, vollkommen ruhig zu Brunelda zurückkehrend.
"Nein! " rief er dann und klopfte liebkosend Brunelda auf den Rücken,
"wir wissen schon gar nicht mehr, was in der Welt vorgeht. "
"Delamarche",
sagte Brunelda, auf das Benehmen der Nachbarn zurückkommend, "wie
gern wollte ich übersiedeln, wenn es nicht so anstrengend wäre. Ich darf
es mir aber leider nicht zutrauen. " Und unter großen Seufzern,
unruhig und zerstreut, nestelte sie an Karls Hemd, der möglichst unauffällig
immer wieder diese kleinen fetten Händchen wegzuschieben suchte, was ihm
auch leicht gelang, denn Brunelda dachte nicht an ihn, sie war mit ganz
anderen Gedanken beschäftigt.
Aber auch Karl vergaß
bald Brunelda und duldete die Last ihrer Arme auf seinen Achseln, denn die
Vorgänge auf der Straße nahmen ihn sehr in Anspruch. Auf Anordnung einer
kleinen Gruppe gestikulierender Männer, die knapp vor dem Kandidaten
marschierten und deren Unterhaltungen eine besondere Bedeutung haben mußten,
denn von allen Seiten sah man lauschende Gesichter sich ihnen zuneigen,
wurde unerwarteterweise vor dem Gasthaus Halt gemacht. Einer dieser maßgebenden
Männer machte mit erhobener Hand ein Zeichen, das sowohl der Menge als
auch dem Kandidaten galt. Die Menge verstummte und der Kandidat, der sich
auf den Schultern seines Trägers mehrmals aufzustellen suchte und
mehrmals in den Sitz zurückfiel, hielt eine kleine Rede, während welcher
er seinen Zylinder in Windeseile hin- und herfahren ließ. Man sah das
ganz deutlich, denn während seiner Rede waren alle Automobillaternen auf
ihn gerichtet worden, so daß er in der Mitte eines hellen Sternes sich
befand.
Nun erkannte man aber
auch schon das Interesse, welches die ganze Straße an der Angelegenheit
nahm. Auf den Balkonen, die von Parteigängern des Kandidaten besetzt
waren, fiel man mit in das Singen seines Namens ein und ließ die weit über
das Geländer vorgestreckten Hände maschinenmäßig klatschen. Auf den übrigen
Balkonen, die sogar in der Mehrzahl waren, erhob sich ein starker
Gegengesang, der allerdings keine einheitliche Wirkung hatte, da es sich
um die Anhänger verschiedener Kandidaten handelte. Dagegen verbanden sich
weiterhin alle Feinde des anwesenden Kandidaten zu einem allgemeinen
Pfeifen und sogar Grammophone wurden vielfach wieder in Gang gesetzt.
Zwischen den einzelnen Balkonen wurden politische Streitigkeiten mit einer
durch die nächtliche Stunde verstärkten Erregung ausgetragen. Die
meisten waren schon in Nachtkleidern und hatten nur Überröcke
umgeworfen, die Frauen hüllten sich in große dunkle Tücher, die
unbeachteten Kinder kletterten beängstigend auf den Einfassungen der
Balkone umher und kamen in immer größerer Zahl aus den dunklen Zimmern,
in denen sie schon geschlafen hatten, hervor. Hie und da wurden einzelne
unkenntliche Gegenstände von besonders Erhitzten in der Richtung ihrer
Gegner geschleudert, manchmal gelangten sie an ihr Ziel, meist aber fielen
sie auf die Straße herab, wo sie oft ein Wutgeheul hervorriefen. Wurde
den führenden Männern unten der Lärm zu arg, so erhielten die Trommler
und Trompeter den Auftrag, einzugreifen, und ihr schmetterndes, mit ganzer
Kraft ausgeführtes, nicht endenwollendes Signal unterdrückte alle
menschlichen Stimmen bis zu den Dächern der Häuser hinauf. Und immer,
ganz plötzlich – man glaubte es kaum – hörten sie auf, worauf die
hiefür offenbar eingeübte Menge auf der Straße in die für einen
Augenblick eingetretene allgemeine Stille ihren Parteigesang emporbrüllte
– man sah im Lichte der Automobillaternen den Mund jedes Einzelnen weit
geöffnet – bis dann die inzwischen zur Besinnung gekommenen Gegner
zehnmal so stark wie früher aus allen Balkonen und Fenstern hervorschrien
und die Partei unten nach ihrem kurzen Sieg zu einem für diese Höhe
wenigstens gänzlichen Verstummen brachten.
"Wie gefällt es
dir, Kleiner?" fragte Brunelda, die sich eng hinter Karl hin- und
herdrehte, um mit dem Gucker möglichst alles zu übersehen. Karl
antwortete nur durch Kopfnicken. Nebenbei bemerkte er, wie Robinson dem
Delamarche eifrig verschiedene Mitteilungen offenbar über Karls Verhalten
machte, denen aber Delamarche keine Bedeutung beizumessen schien, denn er
suchte Robinson mit der Linken, mit der Rechten hatte er Brunelda umfaßt,
immerfort beiseite zu schieben. "Willst du nicht durch den Gucker
schauen?" fragte Brunelda und klopfte auf Karls Brust, um zu zeigen,
daß sie ihn meine.
"Ich sehe
genug", sagte Karl.
"Versuch es
doch", sagte sie, "du wirst besser sehen. "
"Ich habe gute
Augen", antwortete Karl, "ich sehe alles. " Er empfand es
nicht als Liebenswürdigkeit, sondern als Störung, als sie den Gucker
seinen Augen näherte und tatsächlich sagte sie nun nichts als das eine
Wort du! melodisch, aber drohend. Und schon hatte Karl den Gucker
an seinen Augen und sah nun tatsächlich nichts.
"Ich sehe ja
nichts", sagte er und wollte den Gucker loswerden, aber den Gucker
hielt sie fest und den auf ihrer Brust eingebetteten Kopf konnte er weder
zurück noch seitwärts schieben.
"Jetzt siehst du
aber schon", sagte sie und drehte an der Schraube des Guckers.
"Nein, ich sehe noch
immer nichts", sagte Karl und dachte daran, daß er Robinson ohne
seinen Willen nun tatsächlich entlastet habe, denn Bruneldas unerträgliche
Launen wurden nun an ihm ausgelassen.
"Wann wirst du denn
endlich sehen?" sagte sie und drehte – Karl hatte nun sein ganzes
Gesicht in ihrem schweren Atem – weiter an der Schraube.
"Jetzt?" fragte sie.
"Nein, nein, nein!
" rief Karl, trotzdem er nun tatsächlich, wenn auch nur sehr
undeutlich, alles unterscheiden konnte. Aber gerade hatte Brunelda irgend
etwas mit Delamarche zu tun, sie hielt den Gucker nur lose vor Karls
Gesicht und Karl konnte, ohne daß sie es besonders beachtete, unter dem
Gucker hinweg auf die Straße sehen. Später bestand sie auch nicht mehr
auf ihrem Willen und benützte den Gucker für sich.
Aus dem Gasthaus unten
war ein Kellner getreten und auf der Türschwelle hin und her eilend nahm
er die Bestellungen der Führer entgegen. Man sah, wie er sich streckte,
um das Innere des Lokals zu übersehen und möglichst viel Bedienung
herbeizurufen. Während dieser offenbar einem großen Freitrinken
dienenden Vorbereitungen ließ der Kandidat nicht vom Reden ab. Sein Träger,
der riesige nur ihm dienende Mann, machte immer nach einigen Sätzen eine
kleine Drehung, um die Rede allen Teilen der Menge zukommen zu lassen. Der
Kandidat hielt sich meist ganz zusammengekrümmt und versuchte mit
ruckweisen Bewegungen der einen freien Hand und des Zylinders in der
andern seinen Worten möglichste Eindringlichkeit zu geben. Manchmal aber,
in fast regelmäßigen Zwischenräumen durchfuhr es ihn, er erhob sich mit
ausgebreiteten Armen, er redete nicht mehr eine Gruppe, sondern die
Gesamtheit an, er sprach zu den Bewohnern der Häuser bis zu den höchsten
Stockwerken hinauf, und doch war es vollkommen klar, daß ihn schon in den
untersten Stockwerken niemand hören konnte, ja daß ihm auch, wenn die Möglichkeit
gewesen wäre, niemand hätte zuhören wollen, denn jedes Fenster und
jeder Balkon war doch zumindest von einem schreienden Redner besetzt.
Inzwischen brachten einige Kellner aus dem Gasthaus ein mit gefüllten
leuchtenden Gläsern besetztes Brett, im Umfang eines Billards, hervor.
Die Führer organisierten die Verteilung, die in Form eines Vorbeimarsches
an der Gasthaustür erfolgte. Aber trotzdem die Gläser auf dem Brett
immer wieder nachgefüllt wurden, genügten sie für die Menge nicht, und
zwei Reihen von Schankburschen mußten rechts und links vom Brett
durchschlüpfen und die Menge weiterhin versorgen. Der Kandidat hatte natürlich
mit Reden aufgehört und benützte die Pause, um sich neu zu kräftigen.
Abseits von der Menge und dem grellen Licht trug ihn sein Träger langsam
hin und her und nur einige seiner nächsten Anhänger begleiteten ihn dort
und sprachen zu ihm hinauf.
"Sieh mal den
Kleinen", sagte Brunelda, "er vergißt vor lauter Schauen, wo er
ist." Und sie überraschte Karl und drehte mit beiden Händen sein
Gesicht sich zu, so daß sie ihm in die Augen sah. Es dauerte aber nur
einen Augenblick, denn Karl schüttelte gleich ihre Hände ab, und ärgerlich
darüber, daß man ihn nicht ein Weilchen lang in Ruhe ließ und
gleichzeitig voll Lust auf die Straße zu gehen und alles von der Nähe
anzusehen, suchte er sich nun mit aller Kraft vom Druck Bruneldas zu
befreien und sagte:
"Bitte, lassen Sie
mich weg. "
"Du wirst bei uns
bleiben", sagte Delamarche, ohne den Blick von der Straße zu wenden,
und streckte nur eine Hand aus, um Karl am Weggehen zu verhindern.
"Laß nur",
sagte Brunelda und wehrte die Hand des Delamarche ab, "er bleibt ja
schon. " Und sie drückte Karl noch fester ans Geländer, er hätte
mit ihr raufen müssen, um sich von ihr zu befreien. Und wenn ihm das auch
gelungen wäre, was hätte er damit erreicht. Links von ihm stand
Delamarche, rechts hatte sich nun Robinson aufgestellt, er war in einer
regelrechten Gefangenschaft.
"Sei froh, daß man
dich nicht hinauswirft", sagte Robinson und beklopfte Karl mit der
Hand, die er unter Bruneldas Arm durchgezogen hatte.
"Hinauswirft"
sagte Delamarche. "Einen entlaufenen Dieb wirft man nicht hinaus, den
übergibt man der Polizei. Und das kann ihm gleich morgen früh geschehen,
wenn er nicht ganz ruhig ist. "
Von diesem Augenblick an
hatte Karl an dem Schauspiel unten keine Freude mehr. Nur gezwungen, weil
er Bruneldas wegen sich nicht aufrichten konnte, beugte er sich ein wenig
über das Geländer. Voll eigener Sorgen, mit zerstreuten Blicken sah er
die Leute unten an, die in Gruppen von etwa zwanzig Mann vor die Gasthaustüre
traten, die Gläser ergriffen, sich umdrehten und diese Gläser in der
Richtung gegen den jetzt mit sich beschäftigten Kandidaten schwenkten,
einen Parteigruß ausriefen, die Gläser leerten und sie, jedenfalls dröhnend,
in dieser Höhe aber unhörbar, auf das Brett wieder niedersetzten, um
einer neuen vor Ungeduld lärmenden Gruppe Platz zu machen. Über Auftrag
der Führer war die Kapelle, die bisher im Gasthaus gespielt hatte, auf
die Gasse getreten, ihre großen Blasinstrumente strahlten aus der dunklen
Menge, aber ihr Spiel verging fast im allgemeinen Lärm. Die Straße war
nun wenigstens auf der Seite, wo sich das Gasthaus befand, weithin mit
Menschen angefüllt. Von oben, von wo Karl am Morgen im Automobil gekommen
war, strömten sie herab, von unten, von der Brücke her liefen sie
herauf, und selbst die Leute in den Häusern hatten der Verlockung nicht
widerstehen können, in diese Angelegenheit mit eigenen Händen
einzugreifen, auf den Balkonen und in den Fenstern waren fast nur Frauen
und Kinder zurückgeblieben, während die Männer unten aus den Haustoren
drängten. Nun aber hatte die Musik und die Bewirtung den Zweck erreicht,
die Versammlung war genügend groß, ein von zwei Automobillaternen
flankierter Führer winkte der Musik ab, stieß einen starken Pfiff aus
und nun sah man den ein wenig abgeirrten Träger mit dem Kandidaten durch
einen von Anhängern gebahnten Weg eiligst herbeikommen.
Kaum war er bei der
Gasthaustüre, begann der Kandidat im Schein der nun im engen Kreis um ihn
gehaltenen Automobillaternen seine neue Rede. Aber nun war alles viel
schwieriger als früher, der Träger hatte nicht die geringste
Bewegungsfreiheit mehr, das Gedränge war zu groß. Die nächsten Anhänger,
die früher mit allen möglichen Mitteln die Wirkung der Reden des
Kandidaten zu verstärken versucht hatten, hatten nun Mühe, sich in
seiner Nähe zu erhalten, wohl zwanzig hielten sich mit aller Anstrengung
am Träger fest. Aber selbst dieser starke Mann konnte keinen Schritt nach
seinem Willen mehr machen, an eine Einflußnahme auf die Menge durch
bestimmte Wendungen oder durch passendes Vorrücken oder Zurückweichen
war nicht mehr zu denken. Die Menge flutete ohne Plan, einer lag am
andern, keiner stand mehr aufrecht, die Gegner schienen sich durch neues
Publikum sehr vermehrt zu haben, der Träger hatte sich lange in der Nähe
der Gasthaustüre gehalten, nun aber ließ er sich scheinbar ohne
Widerstand die Gasse auf und abwärts treiben, der Kandidat redete
immerfort, aber es war nicht mehr ganz klar, ob er sein Programm
auseinanderlegte oder um Hilfe rief, wenn nicht alles täuschte, hatte
sich auch ein Gegenkandidat eingefunden, oder gar mehrere, denn hie und da
sah man in irgendeinem plötzlich aufflammenden Licht einen von der Menge
emporgehobenen Mann mit bleichem Gesicht und geballten Fäusten eine von
vielstimmigen Rufen begrüßte Rede halten.
"Was geschieht denn
da?" fragte Karl und wandte sich in atemloser Verwirrung an seine Wächter.
"Wie es den Kleinen
aufregt", sagte Brunelda zu Delamarche und faßte Karl am Kinn, um
seinen Kopf an sich zu ziehen. Aber das hatte Karl nicht wollen und er schüttelte
sich, durch die Vorgänge auf der Straße förmlich rücksichtsloser
gemacht, so stark, daß Brunelda ihn nicht nur losließ, sondern zurückwich
und ihn gänzlich freigab. "Jetzt hast du genug gesehen", sagte
sie, offenbar durch Karls Benehmen böse gemacht, "geh ins Zimmer,
bette auf und bereite alles für die Nacht vor. " Sie streckte die
Hand nach dem Zimmer aus. Das war ja die Richtung, die Karl schon seit
einigen Stunden nehmen wollte, er widersprach mit keinem Wort. Da hörte
man von der Gasse her das Krachen von vielem zersplitternden Glas. Karl
konnte sich nicht bezwingen und sprang noch rasch zum Geländer, um flüchtig
noch einmal hinunterzuschauen. Ein Anschlag der Gegner und vielleicht ein
entscheidender war geglückt, die Automobillaternen der Anhänger, die mit
ihrem starken Licht wenigstens die Hauptvorgänge vor der gesamten Öffentlichkeit
geschehen ließen und dadurch alles in gewissen Grenzen gehalten hatten,
waren sämtlich und gleichzeitig zerschmettert worden, den Kandidaten und
seinen Träger umfing nun die gemeinsame unsichere Beleuchtung, die in
ihrer plötzlichen Ausbreitung wie völlige Finsternis wirkte. Auch nicht
beiläufig hätte man jetzt angeben können, wo sich der Kandidat befand,
und das Täuschende des Dunkels wurde noch vermehrt durch einen gerade
einsetzenden, breiten, einheitlichen Gesang, der von unten, von der Brücke
her sich näherte.
"Habe ich dir nicht
gesagt, was du jetzt zu tun hast", sagte Brunelda, "beeile dich.
Ich bin müde", fügte sie hinzu und streckte dann die Arme in die Höhe,
so daß sich ihre Brust noch viel mehr wölbte als gewöhnlich.
Delamarche, der sie noch immer umfaßt hielt, zog sie mit sich in eine
Ecke des Balkons. Robinson ging ihnen nach, um die Überbleibsel seines
Essens, die noch dort lagen, beiseite zu schieben.
Diese günstige
Gelegenheit mußte Karl ausnützen, jetzt war keine Zeit
hinunterzuschauen, von den Vorgängen auf der Straße würde er unten noch
genug sehen und mehr als von hier oben. In zwei Sprüngen eilte er durch
das rötlich beleuchtete Zimmer, aber die Tür war verschlossen und der
Schlüssel abgezogen. Der mußte jetzt gefunden werden, aber wer wollte in
dieser Unordnung einen Schlüssel finden und gar in der kurzen kostbaren
Zeit, die Karl zur Verfügung stand. Jetzt hätte er schon eigentlich auf
der Treppe sein, hätte laufen und laufen sollen. Und nun suchte er den
Schlüssel! Suchte ihn in allen zugänglichen Schubladen, stöberte auf
dem Tisch herum, wo verschiedenes Eßgeschirr, Servietten und irgendeine
angefangene Stickerei herumlagen, wurde durch einen Lehnstuhl angelockt,
auf dem ein ganz verfitzter Haufen alter Kleidungsstücke sich befand, in
denen der Schlüssel sich möglicherweise befinden aber niemals
aufgefunden werden konnte, und warf sich schließlich auf das tatsächlich
übelriechende Kanapee, um in allen Ecken und Falten nach dem Schlüssel
zu tasten. Dann ließ er vom Suchen ab und stockte in der Mitte des
Zimmers. Gewiß hatte Brunelda den Schlüssel an ihrem Gürtel befestigt,
sagte er sich, dort hingen ja so viele Sachen, alles Suchen war umsonst.
Und blindlings ergriff
Karl zwei Messer und bohrte sie zwischen die Türflügel, eines oben,
eines unten, um zwei voneinander entfernte Angriffspunkte zu erhalten.
Kaum hatte er an den Messern gezogen, brachen natürlich die Klingen
entzwei. Er hatte nichts anderes wollen, die Stümpfe, die er nun fester
einbohren konnte, würden desto besser halten. Und nun zog er mit aller
Kraft, die Arme weit ausgebreitet, die Beine weit auseinandergestemmt, stöhnend
und dabei genau auf die Tür aufpassend. Sie würde nicht auf die Dauer
widerstehen können, das erkannte er mit Freuden aus dem deutlich hörbaren
Sichlockern der Riegel, je langsamer es aber ging, desto richtiger war es,
aufspringen durfte ja das Schloß gar nicht, sonst würde man ja auf dem
Balkon aufmerksam werden, das Schloß mußte sich vielmehr ganz langsam
von einander lösen und darauf arbeitete Karl mit größter Vorsicht hin,
die Augen immer mehr dem Schlosse nähernd.
"Seht einmal",
hörte er da die Stimme des Delamarche. Alle drei standen im Zimmer, der
Vorhang war hinter ihnen schon zugezogen, Karl mußte ihr Kommen überhört
haben, die Hände sanken ihm bei dem Anblick von den Messern herab. Aber
er hatte gar nicht Zeit, irgendein Wort zur Erklärung oder Entschuldigung
zu sagen, denn in einem weit über die augenblickliche Gelegenheit
hinausgehenden Wutanfall sprang Delamarche – sein gelöstes
Schlafrockseil beschrieb eine große Figur in der Luft – auf Karl los.
Karl wich noch im letzten Augenblick dem Angriff aus, er hätte die Messer
aus der Tür ziehen und zur Verteidigung benützen können, aber das tat
er nicht, dagegen griff er sich bückend und aufspringend nach dem breiten
Schlafrockkragen des Delamarche, schlug ihn in die Höhe, zog ihn dann
noch weiter hinauf – der Schlafrock war ja für Delamarche viel zu groß
– und hielt nun glücklich den Delamarche beim Kopf, der allzusehr überrascht,
zuerst blind mit den Händen fuchtelte und erst nach einem Weilchen, aber
noch nicht mit ganzer Wirkung mit den Fäusten auf Karls Rücken schlug,
der sich, um sein Gesicht zu schützen, an die Brust des Delamarche
geworfen hatte. Die Faustschläge ertrug Karl, wenn er sich auch vor
Schmerzen wand und wenn auch die Schläge immer stärker wurden, aber wie
hätte er das nicht ertragen sollen, vor sich sah er ja den Sieg. Die Hände
am Kopf des Delamarche, die Daumen wohl gerade über seinen Augen führte
er ihn vor sich her gegen das ärgste Möbeldurcheinander hin und
versuchte überdies mit den Fußspitzen das Schlafrockseil um die Füße
des Delamarche zu schlingen und ihn auch so zu Fall zu bringen.
Da er sich aber ganz und
gar mit Delamarche beschäftigen mußte, zumal er dessen Widerstand immer
mehr wachsen fühlte und immer sehniger dieser feindliche Körper sich ihm
entgegenstemmte, vergaß er tatsächlich, daß er nicht mit Delamarche
allein war. Aber nur allzubald wurde er daran erinnert, denn plötzlich
versagten seine Füße, die Robinson, der sich hinter ihm auf den Boden
geworfen hatte, schreiend auseinanderpreßte. Seufzend ließ Karl von
Delamarche ab, der noch einen Schritt zurückwich. Brunelda stand mit weit
auseinandergestellten Beinen und gebeugten Knien in aller ihrer Breite in
der Zimmermitte und verfolgte die Vorgänge mit leuchtenden Augen. Als
beteilige sie sich tatsächlich an dem Kampf, atmete sie tief, visierte
mit den Augen und ließ ihre Fäuste langsam vorrücken. Delamarche schlug
seinen Kragen nieder, hatte nun wieder freien Blick und nun gab es natürlich
keinen Kampf mehr, sondern bloß eine Bestrafung. Er faßte Karl vorn beim
Hemd, hob ihn fast vom Boden und schleuderte ihn, vor Verachtung sah er
ihn gar nicht an, so gewaltig gegen einen ein paar Schritte entfernten
Schrank, daß Karl im ersten Augenblick meinte, die stechenden Schmerzen
im Rücken und am Kopf, die ihm das Aufschlagen am Kasten verursachte,
stammten unmittelbar von der Hand des Delamarche. "Du Halunke",
hörte er den Delamarche in dem Dunkel, das vor seinen zitternden Augen
entstand, noch laut ausrufen. Und in der ersten Erschöpfung, in der er
vor dem Kasten zusammensank, klangen ihm die Worte "Warte nur"
noch schwach in den Ohren nach.
Als er zur Besinnung kam,
war es um ihn ganz finster, es mochte noch spät in der Nacht sein, vom
Balkon her drang unter dem Vorhang ein leichter Schimmer des Mondlichts in
das Zimmer. Man hörte die ruhigen Atemzüge der drei Schläfer, die bei
weitem lautesten stammten von Brunelda, sie schnaufte im Schlaf, wie sie
es bisweilen beim Reden tat; es war aber nicht leicht festzustellen, in
welcher Richtung die einzelnen Schläfer sich befanden, das ganze Zimmer
war von dem Rauschen ihres Atems voll. Erst nachdem er seine Umgebung ein
wenig geprüft hatte, dachte Karl an sich und da erschrak er sehr, denn
wenn er sich auch ganz krumm und steif von Schmerzen fühlte, so hatte er
doch nicht daran gedacht, daß er eine schwere blutige Verletzung erlitten
haben könnte. Nun aber hatte er eine Last auf dem Kopf und das ganze
Gesicht, der Hals, die Brust unter dem Hemd waren feucht wie von Blut. Er
mußte ans Licht, um seinen Zustand genau festzustellen, vielleicht hatte
man ihn zum Krüppel geschlagen, dann würde ihn Delamarche wohl gerne
entlassen, aber was sollte er dann anfangen, dann gab es wirklich keine
Aussichten mehr für ihn. Der Bursche mit der zerfressenen Nase im Torweg
fiel ihm ein und er legte einen Augenblick lang das Gesicht in seine Hände.
Unwillkürlich wendete er
sich dann der Tür zu und tastete sich auf allen Vieren hin. Bald erfühlte
er mit den Fingerspitzen einen Stiefel und weiterhin ein Bein. Das war
Robinson, wer schlief sonst in Stiefeln? Man hatte ihm befohlen, sich quer
vor die Tür zu legen, um Karl an der Flucht zu hindern. Aber kannte man
denn Karls Zustand nicht? Vorläufig wollte er gar nicht entfliehen, er
wollte nur ans Licht kommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so mußte
er auf den Balkon.
Den Eßtisch fand er an
einer offenbar ganz anderen Stelle wie am Abend, das Kanapee, dem sich
Karl natürlich sehr vorsichtig näherte, war überraschenderweise leer,
dagegen stieß er in der Zimmermitte aufhochgeschichtete, wenn auch stark
gepreßte Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte
er, es sei nur ein kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem
Sofa gefunden hatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem
Staunen bemerkte er beim Weiterkriechen, daß da eine ganze Wagenladung
solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich für die Nacht aus den Kästen
herausgenommen hatte, wo sie während des Tages aufbewahrt wurden. Er
umkroch den Haufen und erkannte bald, daß das Ganze eine Art Bettlager
darstellte, auf dem hoch oben, wie er sich durch vorsichtigstes Tasten überzeugte,
Delamarche und Brunelda ruhten.
Jetzt wußte er also, wo
alle schliefen und beeilte sich nun auf den Balkon zu kommen. Es war eine
ganz andere Welt, in der er sich nun, außerhalb des Vorhangs, schnell
erhob. In der frischen Nachtluft, im vollen Schein des Mondes ging er
einigemal auf dem Balkon auf und ab. Er sah auf die Straße, sie war ganz
still, aus dem Gasthaus klang noch die Musik, aber nur gedämpft hervor,
vor der Tür kehrte ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend
innerhalb des wüsten allgemeinen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten
von tausend anderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können, hörte
man nun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
Das Rücken eines Tisches
auf dem Nachbarbalkon machte Karl aufmerksam, dort saß ja jemand und
studierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinen Spitzbart, an dem er
beim Lesen, das er mit raschen Lippenbewegungen begleitete, ständig
drehte. Er saß, das Gesicht Karl zugewendet, an einem kleinen mit Büchern
bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen,
zwischen zwei große Bücher geklemmt und war nun von ihrem grellen Licht
ganz überleuchtet.
"Guten Abend",
sagte Karl, da er bemerkt zu haben glaubte, daß der junge Mann zu ihm herübergeschaut
hätte.
Aber das mußte wohl ein
Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien ihn überhaupt noch nicht
bemerkt zu haben, legte die Hand über die Augen, um das Licht abzublenden
und festzustellen, wer da plötzlich grüßte, und hob dann, da er noch
immer nichts sah, die Glühlampe hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon
ein wenig zu beleuchten.
"Guten Abend",
sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf herüber und fügte
dann hinzu: "und was weiter?"
"Ich störe
Sie?" fragte Karl.
"Gewiß, gewiß",
sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an ihren früheren Ort.
Mit diesen Worten war
allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Karl verließ trotzdem die
Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten war, nicht. Stumm sah er zu,
wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter wendete, hie und da in
einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas
nachschlug und öfters Notizen in ein Heft eintrug, wobei er immer überraschend
tief das Gesicht zu dem Hefte senkte.
Ob dieser Mann vielleicht
ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er studierte. Nicht viel
anders – jetzt war es schon lange her – war Karl zu Hause am Tisch der
Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrieben, während der Vater
die Zeitung las oder Bucheintragungen und Korrespondenzen für einen
Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäftigt war und
hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen,
hatte Karl nur das Heft und das Schreibzeug auf den Tisch gelegt, während
er die nötigen Bücher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet
hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in
jenes Zimmer gekommen! Schon als kleines Kind hatte Karl immer gerne
zugesehen, wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel
absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es jetzt mit Karl soweit
gekommen war, daß er fremde Türen mit Messern aufzubrechen suchte.
Und welchen Zweck hatte
sein ganzes Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen; wenn es darauf
angekommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer
geworden. Er erinnerte sich daran, daß er zu Hause einmal einen Monat
lang krank gewesen war – welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich
nachher wieder in dem unterbrochenen Lernen zurechtzufinden. Und nun hatte
er außer dem Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange
kein Buch gelesen.
"Sie, junger
Mann", hörte sich Karl plötzlich angesprochen, "könnten Sie
sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört mich
schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich
verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können. Wollen Sie denn
etwas von mir? "
"Sie
studieren?" fragte Karl.
"Ja, ja", sagte
der Mann und benutzte dieses für das Lernen verlorene Weilchen, um unter
seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten.
"Dann will ich Sie
nicht stören", sagte Karl, "ich gehe überhaupt schon ins
Zimmer zurück. Gute Nacht. "
Der Mann gab nicht einmal
eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlusse hatte er sich nach
Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren gemacht und stützte die
Stirn schwer in die rechte Hand.
Da erinnerte sich Karl
knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich herausgekommen war, er wußte
ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was lastete nur so auf seinem
Kopf?Er griff hinauf und staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er
im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer
feuchter turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hie und da hängenden
Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bruneldas
gerissen und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Karl um den Kopf gewickelt.
Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewußtlosigkeit
das viele Wasser das Gesicht herab und unter das Hemd geronnen und hatte
Karl einen solchen Schrecken eingejagt.
"Sie sind wohl noch
immer da?" fragte der Mann und blinzelte herüber.
"Jetzt gehe ich aber
schon wirklich", sagte Karl, "ich wollte hier nur etwas
anschauen, im Zimmer ist es ganz finster."
"Wer sind Sie
denn?" sagte der Mann, legte den Federhalter in das vor ihm geöffnete
Buch und trat an das Geländer. "Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zu
den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen?
Drehen Sie doch Ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann. "
Karl tat dies, zog aber,
ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester zu, damit man im
Innern nichts merken konnte. "Verzeihen Sie", sagte er dann im
Flüsterton, "daß ich so leise rede. Wenn mich die drinnen hören,
habe ich wieder einen Krawall. "
"Wieder?"
fragte der Mann.
"Ja", sagte
Karl, "ich habe ja erst abend einen großen Streit mit ihnen gehabt.
Ich muß da noch eine fürchterliche Beule haben. " Und er tastete
hinten seinen Kopf ab.
"Was war denn das für
ein Streit?" fragte der Mann und fügte, da Karl nicht gleich
antwortete, hinzu: "Mir können Sie ruhig alles anvertrauen, was Sie
gegen diese Herrschaften auf dem Herzen haben. Ich hasse sie nämlich alle
drei und ganz besonders Ihre Madame. Es sollte mich übrigens wundern,
wenn man Sie nicht schon gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef
Mendel und bin Student. "
"Ja", sagte
Karl, "erzählt hat man mir schon von Ihnen, aber nichts Schlimmes.
Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht wahr?"
"Das stimmt",
sagte der Student und lachte, "riecht das Kanapee noch danach?"
"O ja", sagte
Karl.
"Das freut mich
aber", sagte der Student und fuhr mit der Hand durchs Haar. "Und
warum macht man Ihnen Beulen?"
"Es war ein
Streit", sagte Karl im Nachdenken darüber, wie er es dem Studenten
erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und sagte: "Störe ich
Sie denn nicht?"
"Erstens",
sagte der Student, "haben Sie mich schon gestört und ich bin leider
so nervös, daß ich lange Zeit brauche, um mich wieder hineinzufinden.
Seit Sie da Ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen haben, komme ich
mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber mache ich um drei Uhr
immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig. Es interessiert mich auch.
"
"Es ist ganz
einfach", sagte Karl, "Delamarche will, daß ich bei ihm Diener
werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends
weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür abgesperrt, ich
wollte sie aufbrechen und dann kam es zu der Rauferei. Ich bin unglücklich,
daß ich noch hier bin. "
"Haben Sie denn eine
andere Stellung? " fragte der Student.
"Nein", sagte
Karl, "aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier fort wäre.
"
"Hören Sie
einmal", sagte der Student, "daran liegt Ihnen nichts?" Und
beide schwiegen ein Weilchen.
"Warum wollen Sie
denn bei den Leuten nicht bleiben?" fragte dann der Student.
"Delamarche ist ein
schlechter Mensch", sagte Karl, "ich kenne ihn schon von früher
her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh, als ich
nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Diener bei ihm werden?"
"Wenn alle Diener
bei der Auswahl ihrer Herrschaften so heikel sein wollten wie Sie! "
sagte der Student und schien zu lächeln. "Sehen Sie, ich bin während
des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer, eher schon Laufbursche im
Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist zweifellos ein Schurke, aber das läßt
mich ganz ruhig, wütend bin ich nur, daß ich so elend bezahlt werde.
Nehmen Sie sich also an mir ein Beispiel. "
"Wie?" sagte
Karl, "Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht studieren
Sie?"
"Ja", sagte der
Student, "es geht nicht anders. Ich habe schon alles mögliche
versucht, aber diese Lebensweise ist noch die beste. Vor Jahren war ich
nur Student, bei Tag und Nacht wissen Sie, nur bin ich dabei fast
verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle geschlafen und wagte
mich in meinem damaligen Anzug nicht in die Hörsäle. Aber das ist vorüber.
"
"Aber wann schlafen
Sie? " fragte Karl und sah den Studenten verwundert an.
"Ja, schlafen!"
sagte der Student, "schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium
fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee. " Und er wandte
sich um, zog unter seinem Studiertisch eine große Flasche hervor, goß
aus ihr schwarzen Kaffee in ein Täßchen und schüttete ihn in sich
hinein, so wie man Medizinen eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem
Geschmack zu spüren.
"Eine feine Sache,
der schwarze Kaffee", sagte der Student, "schade, daß Sie so
weit sind, daß ich Ihnen nicht ein wenig hinüberreichen kann. "
"Mir schmeckt
schwarzer Kaffee nicht", sagte Karl.
"Mir auch
nicht", sagte der Student und lachte. "Aber was wollte ich ohne
ihn anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly keinen
Augenblick behalten. Ich sage immer Montly, trotzdem der natürlich keine
Ahnung hat, daß ich auf der Welt bin. Ganz genau weiß ich nicht, wie ich
mich im Geschäft benehmen würde, wenn ich nicht dort im Pult eine gleich
große Flasche wie diese immer vorbereitet hätte, denn ich habe noch nie
gewagt, mit dem Kaffeetrinken auszusetzen, aber vertrauen Sie nur, ich würde
bald hinter dem Pulte liegen und schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen
mich dort den schwarzen Kaffee, was ein blödsinniger Witz ist und
mir gewiß in meinem Vorwärtskommen schon geschadet hat. "
"Und wann werden Sie
mit Ihrem Studium fertig werden?" fragte Karl.
"Es geht
langsam", sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er verließ das Geländer
und setzte sich wieder an den Tisch; die Ellbogen auf das offene Buch
aufgestützt, mit den Händen durch seine Haare fahrend sagte er dann:
"Es kann noch ein bis zwei Jahre dauern. "
"Ich wollte auch
studieren", sagte Karl, als gebe ihm dieser Umstand ein Anrecht auf
ein noch größeres Vertrauen, als es der jetzt verstummende Student ihm
gegenüber schon bewiesen hatte.
"So", sagte der
Student und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche schon wieder las
oder nur zerstreut hineinstarrte, "seien Sie froh, daß Sie das
Studium aufgegeben haben. Ich selbst studiere schon seit Jahren eigentlich
nur aus Konsequenz. Befriedigung habe ich wenig davon und
Zukunftsaussichten noch weniger. Was für Aussichten wollte ich denn
haben! Amerika ist voll von Schwindeldoktoren. "
"Ich wollte
Ingenieur werden", sagte Karl noch eilig zu dem scheinbar schon gänzlich
unaufmerksamen Studenten hinüber.
"Und jetzt sollen
Sie Diener bei diesen Leuten werden", sagte der Student und sah flüchtig
auf, "das schmerzt Sie natürlich. "
Diese Schlußfolgerung
des Studenten war allerdings ein Mißverständnis, aber vielleicht konnte
es Karl beim Studenten nutzen. Er fragte deshalb: "Könnte ich nicht
vielleicht auch eine Stelle im Warenhaus bekommen? "
Diese Frage riß den
Studenten völlig von seinem Buche los; der Gedanke, daß er Karl bei
seiner Postenbewerbung behilflich sein könnte, kam ihm gar nicht.
"Versuchen Sie es", sagte er, "oder versuchen Sie es lieber
nicht. Daß ich meinen Posten bei Montly bekommen habe, ist der bisher größte
Erfolg meines Lebens gewesen. Wenn ich zwischen dem Studium und meinem
Posten zu wählen hätte, würde ich natürlich den Posten wählen. Meine
Anstrengung geht nur darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl
nicht eintreten zu lassen. "
"So schwer ist es,
dort einen Posten zu bekommen", sagte Karl mehr für sich.
"Ach was denken Sie
denn", sagte der Student, "es ist leichter, hier Bezirksrichter
zu werden als Türöffner bei Montly. "
Karl schwieg. Dieser
Student, der doch so viel erfahrener war als er, der den Delamarche aus
irgendwelchen Karl noch unbekannten Gründen haßte, der dagegen Karl gewiß
nichts Schlechtes wünschte, fand für Karl kein Wort der Aufmunterung,
den Delamarche zu verlassen. Und dabei kannte er noch gar nicht die
Gefahr, die Karl von der Polizei drohte und vor der er nur bei Delamarche
halbwegs geschützt war.
"Sie haben doch am
Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn man die Verhältnisse
nicht kennen würde, sollte man doch denken, dieser Kandidat, er heißt
Lobter, werde doch irgendwelche Aussichten haben oder er komme doch
wenigstens in Betracht, nicht"
"Ich verstehe von
Politik nichts", sagte Karl.
"Das ist ein
Fehler", sagte der Student. "Aber abgesehen davon haben Sie doch
Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feinde gehabt,
das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun bedenken Sie, der Mann
hat meiner Meinung nach nicht die geringsten Aussichten, gewählt zu
werden. Ich weiß zufällig alles über ihn, es wohnt da bei uns einer,
der ihn kennt. Er ist kein unfähiger Mensch und seinen politischen
Ansichten und seiner politischen Vergangenheit nach wäre gerade er der
passende Richter für den Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, daß er
gewählt werden könnte, er wird so prachtvoll durchfallen, als man
durchfallen kann, er wird für die Wahlkampagne seine paar Dollars
hinausgeworfen haben, das wird alles sein. "
Karl und der Student
sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der Student nickte lächelnd
und drückte mit einer Hand die müden Augen.
"Nun, werden Sie
noch nicht schlafen gehen?" fragte er dann, "ich muß ja auch
wieder studieren. Sehen Sie, wieviel ich noch durchzuarbeiten habe. "
Und er blätterte ein halbes Buch rasch durch, um Karl einen Begriff von
der Arbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.
"Dann also gute
Nacht", sagte Karl und verbeugte sich.
"Kommen Sie doch
einmal zu uns herüber", sagte der Student, der schon wieder an
seinem Tisch saß, "natürlich nur wenn Sie Lust haben. Sie werden
hier immer große Gesellschaft finden. Von neun bis zehn Uhr abends habe
ich auch für Sie Zeit. "
"Sie raten mir also,
bei Delamarche zu bleiben?" fragte Karl.
"Unbedingt",
sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es schien,
als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme gesprochen,
die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch in Karls Ohren nach.
Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick auf den Studenten, der
jetzt ganz unbeweglich, von der großen Finsternis umgeben, in seinem
Lichtschein saß, und schlüpfte ins Zimmer. Die vereinten Atemzüge der
drei Schläfer empfingen ihn. Er suchte die Wand entlang das Kanapee, und
als er es gefunden hatte, streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es
sein gewohntes Lager. Da ihm der Student, der den Delamarche und die
hiesigen Verhältnisse genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war,
geraten hatte, hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So
hohe Ziele wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zu
Hause gelungen wäre, das Studium zu Ende zu führen, und wenn es zu Hause
kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, daß er es hier im
fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem er
etwas leisten und für seine Leistungen anerkannt werden könnte, war gewiß
größer, wenn er vorläufig die Dienerstelle bei Delamarche annahm und
aus dieser Sicherheit heraus die günstige Gelegenheit abwartete. Es
schienen sich ja in dieser Straße viele Büros mittleren und unteren
Ranges zu befinden, die vielleicht im Falle des Bedarfes bei der Auswahl
ihres Personals nicht gar zu wählerisch waren. Er wollte ja gern, wenn es
sein mußte, Geschäftsdiener werden, aber schließlich war es ja gar
nicht ausgeschlossen, daß er auch für reine Büroarbeit aufgenommen
werden konnte und einstmals als Bürobeamter an seinem Schreibtisch sitzen
und ohne Sorgen ein Weilchen lang aus dem offenen Fenster schauen würde
wie jener Beamte, den er heute früh beim Durchmarsch durch die Höfe
gesehen hatte. Beruhigend fiel ihm ein, als er die Augen schloß, daß er
doch jung war und daß Delamarche ihn doch einmal freigeben würde; dieser
Haushalt sah ja wirklich nicht danach aus, als sei er für die Ewigkeit
gemacht. Wenn aber Karl einmal einen solchen Posten in einem Büro hätte,
dann wollte er sich mit nichts anderem beschäftigen als mit seinen Büroarbeiten
und nicht die Kräfte zersplittern wie der Student. Wenn es nötig sein
sollte, wollte er auch die Nacht fürs Büro verwenden, was man ja im
Beginn bei seiner geringen kaufmännischen Vorbildung sowieso von ihm
verlangen würde. Er wollte nur an das Interesse des Geschäftes denken,
dem er zu dienen hätte, und allen Arbeiten sich unterziehen, selbst
solchen, die andere Bürobeamte als ihrer nicht würdig zurückweisen würden.
Die guten Vorsätze drängten sich in seinem Kopf, als stehe sein künftiger
Chef vor dem Kanapee und lese sie von seinem Gesicht ab.
In solchen Gedanken
schlief Karl ein und nur im ersten Halbschlaf störte ihn noch ein
gewaltiges Seufzen Bruneldas, die scheinbar von schweren Träumen geplagt
sich auf ihrem Lager wälzte.
"Auf! Auf! " rief Robinson, kaum daß Karl früh
die Augen öffnete. Der Türvorhang war noch nicht weggezogen, aber man
merkte an dem durch die Lücken einfallenden gleichmäßigen Sonnenlicht,
wie spät am Vormittag es schon war. Robinson lief eilfertig mit besorgten
Blicken hin und her, bald trug er ein Handtuch, bald einen Wasserkübel,
bald Wäsche-und Kleidungsstücke und immer wenn er an Karl vorüberkam,
suchte er ihn durch Kopfnicken zum Aufstehn aufzumuntern und zeigte durch
Hochheben dessen was er gerade in der Hand hielt, wie er sich heute noch
zum letzten mal für Karl plage, der natürlich am ersten Morgen von den
Einzelheiten des Dienstes nichts verstehen konnte.
Aber bald sah Karl, wen Robinson eigentlich bediente.
In einem durch zwei Kästen vom übrigen Zimmer abgetrennten Raum, den
Karl bisher noch nicht gesehen hatte, fand eine große Waschung statt. Man
sah den Kopf Bruneldas, den freien Hals – das Haar war gerade ins
Gesicht geschlagen – und den Ansatz ihres Nackens über den Kasten ragen
und die hie und da gehobene Hand des Delamarche hielt einen weit
herumspritzenden Badeschwamm, mit dem Brunelda gewaschen und gerieben
wurde. Man hörte die kurzen Befehle des Delamarche die er dem Robinson
erteilte, der nicht durch den jetzt verstellten eigentlichen Zugang des
Raumes die Dinge reichte, sondern auf eine kleine Lücke zwischen einem
Kasten und einer spanischen Wand angewiesen war, wobei er überdies bei
jeder Handreichung den Arm weit ausstrecken und das Gesicht abgewendet
halten mußte. "Das Handtuch! Das Handtuch", rief Delamarche.
Und kaum erschrak Robinson, der gerade unter dem Tisch etwas anderes
suchte, über diesen Auftrag und zog den Kopf unter dem Tisch hervor, hieß
es schon: "Wo bleibt das Wasser, zum Teufel", und über dem
Kasten erschien hochgereckt das wütende Gesicht des Delamarche. Alles was
man sonst nach Karls Meinung zum Waschen und Anziehn nur einmal brauchte,
wurde hier in jeder möglichen Reihenfolge viele Male verlangt und
gebracht. Auf einem kleinen elektrischen Ofen stand immer ein Kübel mit
Wasser zum Wärmen und immer wieder trug Robinson die schwere Last
zwischen den weit auseinandergestellten Beinen zum Waschraum hin. Bei der
Fülle seiner Arbeit war es zu verstehn, wenn er sich nicht immer genau an
die Befehle hielt und einmal, als wieder ein Handtuch verlangt wurde
einfach ein Hemd von der großen Schlafstätte in der Zimmermitte nahm und
in einem großen Knäuel über die Kästen hinüberwarf.
Aber auch Delamarche hatte schwere Arbeit und war
vielleicht nur deshalb gegen Robinson so gereizt – in seiner Gereiztheit
übersah er Karl glattwegs – weil er selbst Brunelda nicht zufrieden
stellen konnte. "Ach", schrie sie auf und selbst der sonst
unbeteiligte Karl zuckte zusammen, "wie Du mir weh tust! Geh weg! Ich
wasch mich lieber selbst, statt so zu leiden! Jetzt kann ich schon wieder
den Arm nicht heben. Mir ist ganz übel wie Du mich drückst. Auf dem Rücken
muß ich lauter blaue Flecke haben. Natürlich, Du wirst es mir nicht
sagen. Warte, ich werde mich von Robinson anschauen lassen oder von
unserem Kleinen. Nein, ich tu es ja nicht, aber sei nur ein wenig zarter.
Nimm Rücksicht, Delamarche, aber das kann ich jeden Morgen wiederholen,
Du nimmst und nimmst keine Rücksicht. Robinson", rief sie dann plötzlich
und schwenkte ein Spitzenhöschen über ihrem Kopf, "komm mir zur
Hilfe, schau wie ich leide, diese Tortur nennt er Waschen, dieser
Delamarche. Robinson, Robinson, wo bleibst Du, hast auch Du kein
Herz?" Karl machte schweigend dem Robinson ein Zeichen mit dem
Finger, daß er doch hingehen möge, aber Robinson schüttelte mit
gesenkten Augen überlegen den Kopf, er wußte es besser. "Was fällt
Dir ein?" sagte Robinson zu Karls Ohr gebeugt, "das ist nicht so
gemeint. Nur einmal bin ich hingegangen und nicht wieder. Sie haben mich
damals beide gepackt und in die Wanne getaucht, daß ich fast ertrunken wäre.
Und tagelang hat mir die Brunelda vorgeworfen, daß ich schamlos bin und
immer wieder hat sie gesagt: Jetzt warst Du aber schon lange nicht im
Bad bei mir oder wann wirst Du mich denn wieder im Bade anschauen
kommen? Erst bis ich ihr einigemal auf den Knien abgebeten habe, hat
sie aufgehört. Das werde ich nicht vergessen. " Und während
Robinson das erzählte, rief Brunelda immer wieder: "Robinson!
Robinson! Wo bleibt denn dieser Robinson! "
Trotzdem aber niemand ihr zur Hilfe kam und nicht
einmal eine Antwort erfolgte – Robinson hatte sich zu Karl gesetzt und
beide sahen schweigend zu den Kästen hin, über denen hie und da die Köpfe
Bruneldas oder Delamarches erschienen – trotzdem hörte Brunelda nicht
auf laut über Delamarche Klage zu führen. "Aber Delamarche",
rief sie, "jetzt spüre ich ja wieder gar nicht, daß Du mich wäschst.
Wo hast Du den Schwamm Also greif doch zu! Wenn ich mich nur bücken, wenn
ich mich nur bewegen könnte! Ich wollte Dir schon zeigen, wie man wäscht.
Wo sind die Mädchenzeiten, als ich dort drüben auf dem Gut der Eltern
jeden Morgen im Kolorado schwamm, die beweglichste von allen meinen
Freundinnen. Und jetzt! Wann wirst Du denn lernen mich zu waschen,
Delamarche, Du schwenkst den Schwamm herum, strengst Dich an und ich spür
nichts. Wenn ich sagte, daß Du mich nicht wund drücken sollst, so meinte
ich doch nicht, daß ich da stehen und mich erkälten will. Daß ich aus
der Wanne spring und weglaufe so wie ich bin. "
Aber dann führte sie diese Drohung nicht aus – was
sie ja auch an und für sich gar nicht imstande gewesen wäre –
Delamarche schien sie aus Furcht sie könnte sich erkälten, erfaßt und
in die Wanne gedrückt zu haben, denn mächtig klatschte es ins Wasser.
"Das kannst Du Delamarche", sagte Brunelda
ein wenig leiser, "schmeicheln und immer wieder schmeicheln wenn Du
etwas schlecht gemacht hast. " Dann war es ein Weilchen still.
"Jetzt küßt er sie", sagte Robinson und hob die Augenbrauen.
"Was kommt jetzt für eine Arbeit?" fragte
Karl. Da er sich nun einmal entschlossen hatte, hier zu bleiben, wollte er
auch gleich seinen Dienst versehn. Er ließ Robinson, der nicht antwortete
allein auf dem Kanapee und begann das große von der Last der Schläfer während
der langen Nacht noch immer zusammengepreßte Lager auseinanderzuwerfen,
um dann jedes einzelne Stück dieser Masse ordentlich zusammenzulegen, was
wohl schon seit Wochen nicht geschehen war.
"Schau nach, Delamarche", sagte da Brunelda,
"ich glaube, sie zerwerfen unser Bett. An alles muß man denken,
niemals hat man Ruhe. Du mußt gegen die zwei strenger sein, sie machen
sonst, was sie wollen. " "Das ist gewiß der Kleine mit seinem
verdammten Diensteifer", rief Delamarche und wollte wahrscheinlich
aus dem Waschraum hervorstürzen, Karl warf schon alles aus der Hand, aber
glücklicherweise sagte Brunelda: "Nicht weggehn Delamarche, nicht
weggehn. Ach, wie ist das Wasser heiß, man wird so müde. Bleib bei mir
Delamarche." Erst jetzt merkte Karl eigentlich, wie der Wasserdampf
hinter den Kästen unaufhörlich emporstieg. Robinson legte erschrocken
die Hand an die Wange, als habe Karl etwas Schlimmes angerichtet.
"Alles in dem gleichen Zustand lassen, in dem es war", erklang
die Stimme des Delamarche, "wißt Ihr denn nicht, daß Brunelda nach
dem Bade immer noch eine Stunde ruht? Elende Mißwirtschaft! Wartet bis
ich über Euch komme. Robinson, Du träumst wahrscheinlich schon wieder.
Dich, Dich allein mache ich für alles verantwortlich was geschieht. Du
hast den Jungen im Zaum zu halten, hier wird nicht nach seinem Kopf
gewirtschaftet. Wenn man etwas will kann man nichts von Euch bekommen,
wenn nichts zu tun ist, seid Ihr fleißig. Verkriecht Euch irgendwohin und
wartet, bis man Euch braucht. "
Aber gleich war alles vergessen, denn Brunelda flüsterte
ganz müde, als werde sie von dem heißen Wasser überflutet: "Das
Parfüm! Bringt das Parfüm! " "Das Parfüm! " schrie
Delamarche. "Rührt Euch. "Ja aber wo war das Parfum? Karl sah
Robinson an, Robinson sah Karl an. Karl merkte, daß er hier alles allein
in die Hand nehmen müsse, Robinson hatte keine Ahnung wo das Parfüm war,
er legte sich einfach auf den Boden, fuhr immerfort mit beiden Armen unter
dem Kanapee herum, beförderte aber nichts anderes als Knäuel von Staub
und Frauenhaaren heraus. Karl eilte zuerst zum Waschtisch, der gleich bei
der Türe stand, aber in seinen Schubladen fanden sich nur alte englische
Romane, Zeitschriften und Noten vor und alles war so überfüllt, daß man
die Schubladen nicht schließen konnte, wenn man sie einmal aufgemacht
hatte. "Das Parfüm", seufzte unterdessen Brunelda. "Wie
lange das dauert! Ob ich heute noch mein Parfum bekomme! " Bei dieser
Ungeduld Bruneldas durfte natürlich Karl nirgends gründlich suchen, er
mußte sich auf den oberflächlichen ersten Eindruck verlassen. Im
Waschkasten war die Flasche nicht, auf dem Waschkasten standen überhaupt
nur alte Fläschchen mit Medizinen und Salben, alles andere war jedenfalls
schon in den Waschraum getragen worden. Vielleicht war die Flasche in der
Schublade des Eßtisches. Auf dem Weg zum Eßtisch aber – Karl dachte
nur an das Parfüm, sonst an nichts – stieß er heftig mit Robinson
zusammen, der das Suchen unter dem Kanapee endlich aufgegeben hatte und in
einer aufdämmernden Ahnung vom Standort des Parfüms wie blind Karl
entgegenlief. Man hörte deutlich das Zusammenschlagen der Köpfe, Karl
blieb stumm, Robinson hielt zwar im Lauf nicht ein, schrie aber um sich
den Schmerz zu erleichtern, andauernd und übertrieben laut.
"Statt das Parfum zu suchen, kämpfen sie",
sagte Brunelda. "Ich werde krank von dieser Wirtschaft, Delamarche,
und werde ganz gewiß in Deinen Armen sterben. Ich muß das Parfüm
haben", rief sie dann sich aufraffend, "ich muß es unbedingt
haben. Ich gehe nicht früher aus der Wanne ehe man es mir bringt und müßte
ich hier bis Abend bleiben." Und sie schlug mit der Faust ins Wasser,
man hörte es aufspritzen.
Aber auch in der Schublade des Eßtisches war das Parfüm
nicht, zwar waren dort ausschließlich Toilettengegenstände Bruneldas wie
alte Puderquasten, Schminktöpfchen, Haarbürsten, Löckchen und viele
verfitzte und zusammengeklebte Kleinigkeiten, aber das Parfum war dort
nicht. Und auch Robinson, der noch immer schreiend in einer Ecke von etwa
hundert dort aufgehäuften Schachteln und Kassetten, eine nach der andern
öffnete und durchkramte, wobei immer die Hälfte des Inhalts, meist Nähzeug
und Briefschaften, auf den Boden fiel und dort liegen blieb, konnte nichts
finden, wie er zeitweise Karl durch Kopfschütteln und Achselzucken
anzeigte.
Da sprang Delamarche in Unterkleidung aus dem Waschraum
hervor, während man Brunelda krampfhaft weinen hörte. Karl und Robinson
ließen vom Suchen ab und sahen den Delamarche an, der ganz und gar durchnäßt,
auch vom Gesicht und von den Haaren rann ihm das Wasser, ausrief:
"Jetzt also fangt gefälligst zu suchen an. " "Hier! "
befahl er zuerst Karl zu suchen und dann "dort! " dem Robinson.
Karl suchte wirklich und überprüfte auch noch die Plätze, zu denen
Robinson schon kommandiert worden war, aber er fand ebensowenig das
Parfum, wie Robinson, der eifriger, als er suchte, seitlich nach
Delamarche ausschaute, der soweit der Raum reichte stampfend im Zimmer
auf- und abgieng und gewiß am liebsten sowohl Karl wie Robinson durchgeprügelt
hätte.
"Delamarche", rief Brunelda, "komm mich
doch wenigstens abtrocknen. Die zwei finden ja das Parfum doch nicht und
bringen nur alles in Unordnung. Sie sollen sofort mit dem Suchen aufhören.
Aber gleich! Und alles aus der Hand legen! Und nichts mehr anrühren! Sie
möchten wohl aus der Wohnung einen Stall machen. Nimm sie beim Kragen
Delamarche, wenn sie nicht aufhören! Aber sie arbeiten ja noch immer,
gerade ist eine Schachtel gefallen. Sie sollen sie nicht mehr aufheben,
alles liegen lassen und aus dem Zimmer heraus! Riegel hinter ihnen die Tür
zu und komm zu mir. Ich liege ja schon viel zu lange im Wasser, die Beine
habe ich schon ganz kalt. "
"Gleich Brunelda gleich", rief Delamarche und
eilte mit Karl und Robinson zur Tür. Ehe er sie aber entließ, gab er
ihnen den Auftrag das Frühstück zu holen und womöglich von jemandem ein
gutes Parfüm für Brunelda auszuborgen.
"Das ist eine Unordnung und ein Schmutz bei
Euch", sagte Karl draußen auf dem Gang, "gleich wie wir mit dem
Frühstück zurückkommen, müssen wir zu ordnen anfangen."
"Wenn ich nur nicht so leidend wäre", sagte
Robinson. "Und diese Behandlung! " Gewiß kränkte sich Robinson
darüber, daß Brunelda zwischen ihm, der sie doch schon monatelang
bediente und Karl, der erst gestern eingetreten war, nicht den geringsten
Unterschied machte. Aber er verdiente es nicht besser und Karl sagte:
"Du mußt Dich ein wenig zusammennehmen. " Um ihn aber nicht gänzlich
seiner Verzweiflung zu überlassen, fügte er hinzu: "Es wird ja nur
eine einmalige Arbeit sein. Ich werde Dir hinter den Kästen ein Lager
machen, und wenn nur einmal alles ein wenig geordnet ist, wirst Du dort
den ganzen Tag liegen können, Dich um gar nichts kümmern müssen und
sehr bald gesund werden. "
"Jetzt siehst Du es also selbst ein wie es mit mir
steht", sagte Robinson und wandte das Gesicht von Karl ab, um mit
sich und seinem Leid allein zu sein. "Aber werden sie mich denn
jemals ruhig liegen lassen? "
"Wenn Du willst, werde ich darüber selbst mit
Delamarche und Brunelda reden. "
"Nimmt denn Brunelda irgend eine Rücksicht?"
rief Robinson aus und stieß, ohne daß er Karl darauf vorbereitet hätte,
mit der Faust eine Tür auf, zu der sie eben gekommen waren.
Sie traten in eine Küche ein, von deren Herd, der
reparaturbedürftig schien, geradezu schwarze Wölkchen aufstiegen. Vor
der Herdtüre kniete eine der Frauen, die Karl gestern auf dem Korridor
gesehen hatte und legte mit den bloßen Händen große Kohlenstücke in
das Feuer, das sie nach allen Richtungen hin prüfte. Dabei seufzte sie in
ihrer für eine alte Frau unbequemen knieenden Stellung.
"Natürlich, da kommt auch noch diese Plage",
sagte sie beim Anblick Robinsons, erhob sich mühselig, die Hand auf der
Kohlenkiste, und schloß die Herdtüre, deren Griff sie mit ihrer Schürze
umwickelt hatte. "Jetzt um vier Uhr nachmittags" – Karl
staunte die Küchenuhr an – "müßt ihr noch frühstücken? Bande!
"
"Setzt Euch", sagte sie dann, "und
wartet bis ich für Euch Zeit habe. "
Robinson zog Karl auf ein Bänkchen in der Nähe der Türe
nieder und flüsterte ihm zu: "Wir müssen ihr folgen. Wir sind nämlich
von ihr abhängig. Wir haben unser Zimmer von ihr gemietet und sie kann
uns natürlich jeden Augenblick kündigen. Aber wir können doch nicht die
Wohnung wechseln, wie sollen wir denn wieder alle die Sachen wegschaffen
und vor allem ist doch Brunelda nicht transportabel. "
"Und hier auf dem Gang ist kein anderes Zimmer zu
bekommen?" fragte Karl.
"Es nimmt uns ja niemand auf", antwortete
Robinson, "im ganzen Haus nimmt uns niemand auf. "
So saßen sie still auf ihrem Bänkchen und warteten.
Die Frau lief immerfort zwischen zwei Tischen, einem Waschbottich und dem
Herd hin und her. Aus ihren Ausrufen erfuhr man, daß ihre Tochter unwohl
war und sie deshalb alle Arbeit, nämlich die Bedienung und Verpflegung
von dreißig Mietern allein besorgen mußte. Nun war noch überdies der
Ofen schadhaft, das Essen wollte nicht fertig werden, in zwei riesigen Töpfen
wurde eine dicke Suppe gekocht und wie oft die Frau auch sie mit Schöpflöffeln
untersuchte und aus der Höhe herabfließen ließ, die Suppe wollte nicht
gelingen, es mußte wohl das schlechte Feuer daran schuld sein und so
setzte sie sich vor der Herdtüre fast auf den Boden und arbeitete mit dem
Schürhaken in der glühenden Kohle herum. Der Rauch von dem die Küche
erfüllt war, reizte sie zum Husten der sich manchmal so verstärkte, daß
sie nach einem Stuhl griff und minutenlang nichts anderes tat als hustete.
Öfters machte sie die Bemerkung, daß sie das Frühstück heute überhaupt
nicht mehr liefern werde, weil sie dazu weder Zeit noch Lust habe. Da Karl
und Robinson einerseits den Befehl hatten, das Frühstück zu holen,
andererseits aber keine Möglichkeit es zu erzwingen, antworteten sie auf
solche Bemerkungen nicht, sondern blieben still sitzen wie zuvor.
Ringsherum auf Sesseln und Fußbänkchen, auf und unter
den Tischen, ja selbst auf der Erde in einen Winkel zusammengedrängt
stand noch das ungewaschene Frühstücksgeschirr der Mieter. Da waren Kännchen
in denen sich noch ein wenig Kaffee oder Milch vorfinden würde, auf
manchen Tellerchen gab es noch Überbleibsel von Butter, aus einer
umgefallenen großen Blechbüchse war Cakes weit herausgerollt. Es war
schon möglich aus dem allen ein Frühstück zusammenzustellen, an dem
Brunelda, wenn sie seinen Ursprung nicht erfuhr, nicht das geringste hätte
aussetzen können. Als Karl das bedachte und ein Blick auf die Uhr ihm
zeigte, daß sie nun schon eine halbe Stunde hier warteten und Brunelda
vielleicht wütete und Delamarche gegen die Dienerschaft aufhetzte, rief
gerade die Frau aus einem Husten heraus – während dessen sie Karl
anstarrte –: "Ihr könnt hier schon sitzen, aber das Frühstück
bekommt ihr nicht. Dagegen bekommt ihr in zwei Stunden das Nachtmahl.
"
"Komm Robinson", sagte Karl, "wir werden
uns das Frühstück selbst zusammenstellen. " "Wie? " rief
die Frau mit geneigtem Kopf. "Seien Sie doch bitte vernünftig",
sagte Karl, "warum wollen Sie uns denn das Frühstück nicht geben?
Nun warten wir schon eine halbe Stunde, das ist lang genug. Man bezahlt
Ihnen doch alles und gewiß zahlen wir bessere Preise als alle andern. Daß
wir so spät frühstücken ist gewiß für Sie lästig, aber wir sind Ihre
Mieter, haben die Gewohnheit spät zu frühstücken und Sie müssen sich
eben auch ein wenig für uns einrichten. Heute wird es Ihnen natürlich
wegen der Krankheit Ihres Fräulein Tochter besonders schwer, aber dafür
sind wir wieder bereit uns das Frühstück hier aus den Überbleibseln
zusammenzustellen, wenn es nicht anders geht und Sie uns kein frisches
Essen geben. "
Aber die Frau wollte sich mit niemanden in eine
freundschaftliche Aussprache einlassen, für diese Mieter schienen ihr
auch noch die Überbleibsel des allgemeinen Frühstücks zu gut; aber
andererseits hatte sie die Zudringlichkeit der zwei Diener schon satt,
packte deshalb eine Tasse und stieß sie Robinson gegen den Leib, der erst
nach einem Weilchen mit wehleidigem Gesicht begriff, daß er die Tasse
halten sollte, um das Essen, das die Frau aussuchen wollte in Empfang zu
nehmen. Sie belud nun die Tasse in größter Eile zwar mit einer Menge von
Dingen, aber das Ganze sah eher wie ein Haufen schmutzigen Geschirrs,
nicht wie ein eben zu servierendes Frühstück aus. Noch während die Frau
sie hinausdrängte und sie gebückt als fürchteten sie Schimpfwörter
oder Stöße zur Türe eilten, nahm Karl die Tasse Robinson aus den Händen,
denn bei Robinson schien sie ihm nicht genug sicher.
Auf dem Gang setzte sich Karl, nachdem sie weit genug
von der Tür der Vermieterin waren, mit der Tasse auf den Boden, um vor
allem die Tasse zu reinigen, die zusammengehörigen Dinge zu sammeln, also
die Milch zusammenzugießen, die verschiedenen Butterüberbleibsel auf
einen Teller zu kratzen, dann alle Anzeichen des Gebrauches zu beseitigen,
also die Messer und Löffel zu reinigen, die angebissenen Brötchen
geradezuschneiden und so dem ganzen ein besseres Ansehen zu geben.
Robinson hielt diese Arbeit für unnötig und behauptete, das Frühstück
hätte schon oft noch viel ärger ausgesehn, aber Karl ließ sich durch
ihn nicht abhalten und war noch froh, daß sich Robinson mit seinen
schmutzigen Fingern an der Arbeit nicht beteiligen wollte. Um ihn in Ruhe
zu halten, hatte ihm Karl gleich, allerdings ein für alle mal, wie er ihm
dabei sagte, einige Cakes und den dicken Bodensatz eines früher mit
Chokolade gefüllten Töpfchens zugewiesen.
Als sie vor ihre Wohnung kamen und Robinson ohne
weiters die Hand an die Klinke legte, hielt ihn Karl zurück, da es doch
nicht sicher war, ob sie eintreten durften. "Aber ja", sagte
Robinson, "jetzt frisiert er sie ja nur. " Und tatsächlich saß
in dem noch immer ungelüfteten und verhängten Zimmer Brunelda mit weit
auseinandergestellten Beinen im Lehnstuhl und Delamarche, der hinter ihr
stand, kämmte mit tief herabgebeugtem Gesicht ihr kurzes wahrscheinlich
sehr verfitztes Haar. Brunelda trug wieder ein ganz loses Kleid, diesmal
aber von blaßrosa Farbe, es war vielleicht ein wenig kürzer als das
gestrige, wenigstens sah man die weißen grob gestrickten Strümpfe fast
bis zum Knie. Ungeduldig über die lange Dauer des Kämmens, fuhr Brunelda
mit der dicken roten Zunge zwischen den Lippen hin und her, manchmal riß
sie sich sogar mit dem Ausruf "Aber Delamarche! " gänzlich von
Delamarche los, der mit erhobenem Kamm ruhig wartete, bis sie den Kopf
wieder zurücklegte.
"Es hat lange gedauert", sagte Brunelda im
allgemeinen und zu Karl insbesondere sagte sie: "Du mußt ein wenig
flinker sein, wenn Du willst, daß man mit Dir zufrieden ist. An dem
faulen und gefräßigen Robinson darfst Du Dir kein Beispiel nehmen. Ihr
habt wohl schon inzwischen irgendwo gefrühstückt, ich sage Euch, nächstens
dulde ich das nicht."
Das war sehr ungerecht und Robinson schüttelte auch
den Kopf und bewegte, allerdings lautlos, die Lippen, Karl jedoch sah ein,
daß man auf die Herrschaft nur dadurch einwirken könne, daß man ihr
zweifellose Arbeit zeige. Er zog daher ein niedriges japanisches Tischchen
aus einem Winkel, überdeckte es mit einem Tuch und stellte die
mitgebrachten Sachen auf. Wer den Ursprung des Frühstücks gesehen hatte,
konnte mit dem Ganzen zufrieden sein, sonst aber war, wie sich Karl sagen
mußte, manches daran auszusetzen.
Glücklicherweise hatte Brunelda Hunger. Wohlgefällig
nickte sie Karl zu, während er alles vorbereitete und öfters hinderte
sie ihn, indem sie vorzeitig mit ihrer weichen fetten womöglich gleich
alles zerdrückenden Hand irgendeinen Bissen für sich hervorholte.
"Er hat es gut gemacht", sagte sie schmatzend und zog
Delamarche, der den Kamm in ihrem Haar für die spätere Arbeit stecken
ließ, neben sich auf einen Sessel nieder. Auch Delamarche wurde im
Anblick des Essens freundlich, beide waren sehr hungrig, ihre Hände
eilten kreuz und quer über das Tischchen. Karl erkannte, daß man hier um
zu befriedigen nur immer möglichst viel bringen mußte und in Erinnerung
daran, daß er in der Küche noch verschiedene brauchbare Eßware auf dem
Boden liegen gelassen hatte, sagte er: "Zum erstenmal habe ich nicht
gewußt, wie alles eingerichtet werden soll, nächstes Mal werde ich es
besser machen. " Aber noch während des Redens erinnerte er sich, zu
wem er sprach, er war zusehr von der Sache selbst befangen gewesen.
Brunelda nickte Delamarche befriedigt zu und reichte Karl zum Lohn eine
Handvoll Keks.
Fragmente:
Ausreise Bruneldas
Eines Morgens schob Karl
den Krankenwagen, in dem Brunelda saß, aus dem Haustor. Es war nicht mehr
so früh, wie er gehofft hatte. Sie waren übereingekommen, die
Auswanderung noch in der Nacht zu bewerkstelligen, um in den Gassen kein
Aufsehen zu erregen, das bei Tag unvermeidlich gewesen wäre, so
bescheiden auch Brunelda mit einem großen grauen Tuch sich bedecken
wollte. Aber der Transport über die Treppe hatte zu lange gedauert, trotz
der bereitwilligsten Mithilfe des Studenten, der viel schwächer als Karl
war, wie sich bei dieser Gelegenheit herausstellte. Brunelda hielt sich
sehr tapfer, seufzte kaum und suchte ihren Trägern die Arbeit auf alle
Weise zu erleichtern. Aber es gieng doch nicht anders, als daß man sie
auf jeder fünften Treppenstufe niedersetzte, um sich selbst und ihr die
Zeit zum notwendigsten Ausruhen zu gönnen. Es war ein kühler Morgen, auf
den Gängen wehte kalte Luft wie in Kellern, aber Karl und der Student
waren ganz in Schweiß und mußten während der Ruhepausen jeder ein
Zipfel von Bruneldas Tuch, das sie ihnen übri-gens freundlich reichte,
nehmen, um das Gesicht zu trocknen. So kam es, daß sie erst nach zwei
Stunden unten anlangten, wo schon vom Abend her das Wägelchen stand. Das
Hineinheben Bruneldas gab noch eine gewisse Arbeit, dann aber durfte man
das Ganze für gelungen ansehn, denn das Schieben des Wagens mußte dank
den hohen Rädern nicht schwer sein und es blieb nur die Befürchtung, daß
der Wagen unter Brunelda aus den Fugen gehen würde. Diese Gefahr mußte
man allerdings auf sich nehmen, man konnte nicht einen Ersatzwagen mitführen,
zu dessen Bereitstellung und Führung der Student halb im Scherz sich
angeboten hatte. Es erfolgte nun die Verabschiedung vom Studenten, die
sogar sehr herzlich war. Alle Nichtübereinstimmung zwischen Brunelda und
dem Studenten schien vergessen, er entschuldigte sich sogar wegen der
alten Beleidigung Bruneldas die er sich bei ihrer Krankheit hatte zu
schulden kommen lassen, aber Brunelda sagte, alles sei längst vergessen
und mehr als gutgemacht. Schließlich bat sie den Studenten, er möge zum
Andenken an sie einen Dollar freundlichst annehmen, den sie mühselig aus
ihren vielen Röcken hervorsuchte. Dieses Geschenk war bei Bruneldas
bekanntem Geiz sehr bedeutungsvoll, der Student hatte auch wirklich große
Freude davon und warf vor Freude die Münze hoch in die Luft. Dann
allerdings mußte er sie auf dem Boden suchen und Karl mußte ihm helfen,
schließlich fand sie auch Karl unter dem Wagen Bruneldas. Der Abschied
zwischen dem Studenten und Karl war natürlich viel einfacher, sie
reichten einander nur die Hand und sprachen die Überzeugung aus, daß sie
einander wohl noch einmal sehen würden und daß dann wenigstens einer von
ihnen – der Student behauptete es von Karl, Karl vom Studenten – etwas
Rühmenswertes erreicht haben würde, was bisher leider nicht der Fall
war. Dann faßte Karl mit gutem Mut den Griff des Wagens und schob ihn aus
dem Tor. Der Student sah ihnen solange nach, als sie noch zu sehen waren
und winkte mit einem Tuch. Karl nickte oft grüßend zurück, auch
Brunelda hätte sich gerne umgewendet, aber solche Bewegungen waren für
sie zu anstrengend. Um ihr doch noch einen letzten Abschied zu ermöglichen,
führte Karl am Ende der Straße den Wagen in einem Kreis herum, so daß
auch Brunelda den Studenten sehen konnte, der diese Gelegenheit ausnützte,
um mit dem Tuch besonders eifrig zu winken.
Dann aber sagte Karl,
jetzt dürften sie sich keinen Aufenthalt mehr gönnen, der Weg sei lang
und sie seien viel später ausgefahren, als es beabsichtigt war. Tatsächlich
sah man schon hie und da Fuhrwerke und, wenn auch sehr vereinzelt Leute,
die zur Arbeit giengen. Karl hatte mit seiner Bemerkung nichts weiter
sagen wollen, als was er wirklich gesagt hatte, Brunelda aber faßte es in
ihrem Zartgefühl anders auf und bedeckte sich ganz und gar mit ihrem
grauen Tuch. Karl wendete nichts dagegen ein; der mit einem grauen Tuch
bedeckte Handwagen war zwar sehr auffällig, aber unvergleichlich weniger
auffällig als die unbedeckte Brunelda gewesen wäre. Er fuhr sehr
vorsichtig; ehe er um eine Ecke bog, beobachtete er die nächste Straße,
ließ sogar wenn es nötig schien, den Wagen stehn und gieng allein paar
Schritte voraus, sah er irgend eine vielleicht unangenehme Begegnung
voraus, so wartete er, bis sie sich vermeiden ließ oder wählte sogar den
Weg durch eine ganz andere Straße. Selbst dann kam er, da er alle möglichen
Wege vorher genau studiert hatte, niemals in die Gefahr einen bedeutenden
Umweg zu machen. Allerdings erschienen Hindernisse, die zwar zu befürchten
gewesen waren, sich aber im einzelnen nicht hatten vorhersehn lassen. So
trat plötzlich in einer Straße, die leicht ansteigend, weit zu überblicken
und erfreulicherweise vollständig leer war, ein Vorteil, den Karl durch
besondere Eile auszunützen suchte, aus dem dunklen Winkel eines Haustors
ein Polizeimann und fragte Karl, was er denn in dem so sorgfältig
verdeckten Wagen führe. So streng er aber Karl angesehen hatte, so mußte
er doch lächeln, als er die Decke lüftete und das erhitzte ängstliche
Gesicht Bruneldas erblickte. "Wie?" sagte er. "Ich dachte
Du hättest hier zehn Kartoffelsäcke und jetzt ist es ein einziges
Frauenzimmer? Wohin fahrt Ihr denn? Wer seid Ihr?" Brunelda wagte gar
nicht den Polizeimann anzusehn, sondern blickte nur immer auf Karl mit dem
deutlichen Zweifel, daß selbst er sie nicht werde erretten können. Karl
hatte aber schon genug Erfahrungen mit Policisten, ihm schien das ganze
nicht sehr gefährlich. "Zeigen Sie doch Fräulein", sagte er,
"das Schriftstück, das Sie bekommen haben. " "Ach
ja", sagte Brunelda und begann in einer so hoffnungslosen Weise zu
suchen, daß sie wirklich verdächtig erscheinen mußte. "Das Fräulein",
sagte der Polizeimann mit zweifelloser Ironie, "wird das Schriftstück
nicht finden. " "Oja", sagte Karl ruhig, "sie hat es
bestimmt, sie hat es nur verlegt. " Er begann nun selbst zu suchen
und zog es tatsächlich hinter Bruneldas Rücken hervor. Der Polizeimann
sah es nur flüchtig an. "Das ist es also", sagte der
Polizeimann lächelnd, "so ein Fräulein ist das Fräulein? Und Sie,
Kleiner, besorgen die Vermittlung und den Transport? Wissen Sie wirklich
keine bessere Beschäftigung zu finden?" Karl zuckte bloß die
Achseln, das waren wieder die bekannten Einmischungen der Polizei.
"Na, glückliche Reise", sagte der Polizeimann, als er keine
Antwort bekam. In den Worten des Polizeimanns lag wahrscheinlich
Verachtung, dafür fuhr auch Karl ohne Gruß weiter, Verachtung der
Polizei war besser als ihre Aufmerksamkeit.
Kurz darauf hatte er eine
womöglich noch unangenehmere Begegnung. Es machte sich nämlich an ihn
ein Mann heran, der einen Wagen mit großen Milchkannen vor sich herschob
und äußerst gern erfahren hätte, was unter dem grauen Tuch auf Karls
Wagen lag. Es war nicht anzunehmen, daß er den gleichen Weg wie Karl
hatte, dennoch aber blieb er ihm zur Seite, so überraschende Wendungen
Karl auch machte. Zuerst begnügte er sich mit Ausrufen, wie z. B.
"Du mußt eine schwere Last haben" oder "Du hast schlecht
aufgeladen, oben wird etwas herausfallen. " Später aber fragte er
geradezu: "Was hast Du denn unter dem Tuch?" Karl sagte:
"Was kümmert’s Dich?" Aber da das den Mann noch neugieriger
machte, sagte Karl schließlich: "Es sind Äpfel. " "So
viel Äpfel", sagte der Mann staunend und hörte nicht auf, diesen
Ausruf zu wiederholen. "Das ist ja eine ganze Ernte", sagte er
dann. "Nun ja", sagte Karl. Aber sei es daß er Karl nicht
glaubte, sei es daß er ihn ärgern wollte, er gieng noch weiter, begann
– alles während der Fahrt – die Hand wie zum Scherz nach dem Tuch
auszustrecken und wagte es endlich sogar an dem Tuch zu zupfen. Was mußte
Brunelda leiden! Aus Rücksicht auf sie wollte sich Karl in keinen Streit
mit dem Mann einlassen und fuhr in das nächste offene Tor ein, als sei
dies sein Ziel gewesen. "Hier bin ich zuhause", sagte er,
"Dank für die Begleitung. " Der Mann blieb erstaunt vor dem Tor
stehn und sah Karl nach, der ruhig darangieng wenn es sein mußte den
ganzen ersten Hof zu durchqueren. Der Mann konnte nicht mehr zweifeln,
aber um seiner Bosheit ein letztes Mal zu genügen, ließ er seinen Wagen
stehn, lief Karl auf den Fußspitzen nach und riß so stark an dem Tuch,
daß er Bruneldas Gesicht fast entblößt hätte. "Damit Deine Äpfel
Luft bekommen", sagte er und lief zurück. Auch das nahm Karl noch
hin, da es ihn endgültig von dem Mann befreite. Er führte dann den Wagen
in einen Hofwinkel, wo einige große leere Kisten standen in deren Schutz
er unter dem Tuch Brunelda einige beruhigende Worte sagen wollte. Aber er
mußte lange auf sie einreden, denn sie war ganz in Tränen und flehte ihn
allen Ernstes an, hier hinter den Kisten den ganzen Tag zu bleiben und
erst in der Nacht weiterzufahren. Vielleicht hätte er allein sie gar
nicht davon überzeugen können, wie verfehlt das gewesen wäre, als aber
jemand am andern Ende des Kistenhaufens eine leere Kiste unter ungeheuerem
im leeren Hof wiederhallenden Lärm zu Boden warf, erschrak sie so, daß
sie ohne ein Wort mehr zu wagen, das Tuch über sich zog und
wahrscheinlich glückselig war, als Karl kurz entschlossen sofort zu
fahren begann.
Die Straßen wurden jetzt
zwar immer belebter, aber die Aufmerksamkeit, die der Wagen erregte, war
nicht so groß wie Karl befürchtet hatte. Vielleicht wäre es überhaupt
klüger gewesen, eine andere Zeit für den Transport zu wählen. Wenn eine
solche Fahrt wieder nötig werden sollte, wollte sich Karl getrauen sie in
der Mittagstunde auszuführen. Ohne schwerer belästigt worden zu sein,
bog er endlich in die schmale dunkle Gasse ein, in der das Unternehmen Nr.
25 sich befand. Vor der Tür stand der schielende Verwalter mit der Uhr in
der Hand. "Bist Du immer so unpünktlich?" fragte er. "Es
gab verschiedene Hindernisse", sagte Karl. "Die gibt es
bekanntlich immer", sagte der Verwalter. "Hier im Haus gelten
sie aber nicht. Merk Dir das!" Auf solche Reden hörte Karl kaum mehr
hin, jeder nützte seine Macht aus und beschimpfte den Niedrigen. War man
einmal daran gewöhnt, klang es nicht anders als das regelmäßige
Uhrenschlagen. Wohl aber erschreckte ihn, als er jetzt den Wagen in den
Flur schob, der Schmutz, der hier herrschte und den er allerdings erwartet
hatte. Es war, wenn man näher zusah, kein faßbarer Schmutz. Der
Steinboden des Flurs war fast rein gekehrt, die Malerei der Wände nicht
alt, die künstlichen Palmen nur wenig verstaubt, und doch war alles
fettig und abstoßend, es war, als wäre von allem ein schlechter Gebrauch
gemacht worden und als wäre keine Reinlichkeit mehr imstande, das wieder
gut zu machen. Karl dachte gern, wenn er irgendwohin kam, darüber nach,
was hier verbessert werden könne und welche Freude es sein müßte,
sofort einzugreifen, ohne Rücksicht auf die vielleicht endlose Arbeit die
es verursachen würde. Hier aber wußte er nicht, was zu tun wäre.
Langsam nahm er das Tuch von Brunelda ab. "Willkommen Fräulein",
sagte der Verwalter geziert, es war kein Zweifel, daß Brunelda einen
guten Eindruck auf ihn machte. Sobald Brunelda dies merkte, verstand sie
das, wie Karl befriedigt sah, gleich auszunützen. Alle Angst der letzten
Stunden verschwand. Sie
Karl sah an einer Straßenecke
ein Plakat mit folgender Aufschrift: "Auf dem Rennplatz in Clayton
wird heute von sechs Uhr früh bis Mitternacht Personal für das Teater in
Oklahama aufgenommen! Das große Teater von Oklahama ruft Euch! Es ruft
nur heute, nur einmal! Wer jetzt die Gelegenheit versäumt, versäumt sie
für immer! Wer an seine Zukunft denkt, gehört zu uns! Jeder ist
willkommen! Wer Künstler werden will melde sich! Wir sind das Teater, das
jeden brauchen kann, jeden an seinem Ort! Wer sich für uns entschieden
hat, den beglückwünschen wir gleich hier! Aber beeilt Euch, damit Ihr
bis Mitternacht vorgelassen werdet! Um zwölf wird alles geschlossen und
nicht mehr geöffnet! Verflucht sei wer uns nicht glaubt! Auf nach
Clayton!"
Es standen zwar viele
Leute vor dem Plakat, aber es schien nicht viel Beifall zu finden. Es gab
soviel Plakate, Plakaten glaubte niemand mehr. Und dieses Plakat war noch
unwahrscheinlicher als Plakate sonst zu sein pflegen. Vor allem aber hatte
es einen großen Fehler, es stand kein Wort von der Bezahlung darin. Wäre
sie auch nur ein wenig erwähnenswert gewesen, das Plakat hätte sie gewiß
genannt; es hätte das Verlockendste nicht vergessen. Künstlerwerden
wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden.
Für Karl stand aber doch
in dem Plakat eine große Verlockung. "Jeder war willkommen",
hieß es. Jeder, also auch Karl. Alles was er bisher getan hatte, war
vergessen, niemand wollte ihm daraus einen Vorwurf machen. Er durfte sich
zu einer Arbeit melden, die keine Schande war, zu der man vielmehr öffentlich
einladen konnte! Und ebenso öffentlich wurde das Versprechen gegeben, daß
man auch ihn annehmen würde. Er verlangte nichts besseres, er wollte
endlich den Anfang einer anständigen Laufbahn finden und hier zeigte er
sich vielleicht. Mochte alles Großsprecherische, was auf dem Plakate
stand, eine Lüge sein, mochte das große Teater von Oklahama ein kleiner
Wandercirkus sein, es wollte Leute aufnehmen, das war genügend. Karl las
das Plakat nicht zum zweitenmale, suchte aber noch einmal den Satz:
"Jeder ist willkommen" hervor.
Zuerst dachte er daran
zufuß nach Clayton zu gehn, aber das wären drei Stunden angestrengten
Marsches gewesen, und er wäre dann möglicherweise gerade
zurechtgekommen, um zu erfahren, daß man schon alle verfügbaren Stellen
besetzt hätte. Nach dem Plakat war allerdings die Zahl der Aufzunehmenden
unbegrenzt, aber so waren immer alle derartigen Stellenangebote abgefaßt.
Karl sah ein, daß er entweder auf die Stelle verzichten oder fahren mußte.
Er überrechnete sein Geld, es hätte ohne diese Fahrt für acht Tage
gereicht, er schob die kleinen Münzen auf der flachen Hand hin und her.
Ein Herr der ihn beobachtet hatte, klopfte ihm auf die Schulter und sagte:
"Viel Glück zur Fahrt nach Clayton. " Karl nickte stumm und
rechnete weiter. Aber er entschloß sich bald, teilte das für die Fahrt
notwendige Geld ab und lief zur Untergrundbahn.
Als er in Clayton
ausstieg, hörte er gleich den Lärm vieler Trompeten. Es war ein wirrer Lärm,
die Trompeten waren nicht gegeneinander abgestimmt, es wurde rücksichtslos
geblasen. Aber das störte Karl nicht, es bestätigte ihm vielmehr daß
das Teater von Oklahama ein großes Unternehmen war. Aber als er aus dem
Stationsgebäude trat und die ganze Anlage vor sich überblickte, sah er,
daß alles noch größer war, als er nur irgendwie hatte denken können,
und er begriff nicht wie ein Unternehmen nur zu dem Zweck um Personal zu
erhalten derartige Aufwendungen machen konnte. Vor dem Eingang zum
Rennplatz war ein langes niedriges Podium aufgebaut, auf dem hunderte
Frauen als Engel gekleidet in weißen Tüchern mit großen Flügeln am Rücken
auf langen goldglänzenden Trompeten bliesen. Sie waren aber nicht
unmittelbar auf dem Podium, sondern jede stand auf einem Postament, das
aber nicht zu sehen war, denn die langen wehenden Tücher der
Engelkleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Postamente sehr
hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sahen die Gestalten der Frauen
riesenhaft aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck
der Größe, auch ihr gelöstes Haar hieng zu kurz und fast lächerlich
zwischen den großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit
entstehe, hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet,
es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben
ihnen schwangen sich andere Frauen in solche Höhe hinauf, daß man sie
beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese
Frauen.
Es gab nicht viele Zuhörer.
Klein im Vergleich zu den großen Gestalten giengen etwa zehn Burschen vor
dem Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten
einander diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben
einzutreten und sich aufnehmen zu lassen. Nur ein einziger älterer Mann
war zu sehn, er stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau
und ein Kind im Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand
den Wagen, mit der andern stützte sie sich auf die Schulter des Mannes.
Sie bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, daß sie enttäuscht
waren. Sie hatten wohl auch erwartet eine Arbeitsgelegenheit zu finden,
dieses Trompetenblasen aber beirrte sie.
Karl war in der gleichen
Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu
und sagte dann: "Hier ist doch die Aufnahmestelle für das Teater von
Oklahama?" "Ich glaubte es auch", sagte der Mann,
"aber wir warten hier schon seit einer Stunde und hören nichts als
die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehn, nirgends ein Ausrufer,
nirgends jemand, der Auskunft geben könnte. " Karl sagte:
"Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sind
wirklich noch sehr wenig hier. " "Möglich", sagte der Mann
und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer im Lärm der Trompeten etwas
zu verstehn. Aber dann flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte
und sie rief gleich Karl an: "Könnten Sie nicht in die Rennbahn hinübergehn
und fragen wo die Aufnahme stattfindet. " "Ja", sagte Karl,
"aber ich müßte über das Podium gehn, zwischen den Engeln
durch." "Ist das so schwierig?" fragte die Frau. Für Karl
erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nicht ausschicken.
"Nun ja", sagte Karl, "ich werde gehn." "Sie sind
sehr gefällig", sagte die Frau und sie wie auch ihr Mann drückten
Karl die Hand. Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehn wie
Karl auf das Podium stieg. Es war als bliesen die Frauen stärker, um den
ersten Stellensuchenden zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament
Karl gerade vorübergieng, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten
sich zur Seite um seinen Weg zu verfolgen. Karl sah auf dem andern Ende
des Podiums einen unruhig auf und abgehenden Mann, der offenbar nur auf
Leute wartete, um ihnen alle Auskunft zu geben, die man nur wünschen
konnte. Karl wollte schon auf ihn zugehn, da hörte er über sich seinen
Namen rufen: "Karl", rief ein Engel. Karl sah auf und fieng vor
freudiger Überraschung zu lachen an; es war Fanny. "Fanny",
rief er und grüßte mit der Hand hinauf. "Komm doch her", rief
Fanny, "Du wirst doch nicht an mir vorüberlaufen. " Und sie
schlug die Tücher auseinander so daß das Postament und eine schmale
Treppe die hinaufführte, frei gelegt wurde. "Ist es erlaubt,
hinaufzugehn?" fragte Karl. "Wer will es uns verbieten, daß wir
einander die Hand drücken", rief Fanny und blickte sich erzürnt um,
ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Karl lief aber schon die
Treppe hinauf. "Langsamer", rief Fanny, "das Postament und
wir beide stürzen um." Aber es geschah nichts, Karl kam glücklich
bis zur letzten Stufe. "Sieh nur", sagte Fanny nachdem sie
einander begrüßt hatten, "sieh nur was für eine Arbeit ich
bekommen habe." "Es ist ja schön", sagte Karl und sah sich
um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon Karl bemerkt und kicherten.
"Du bist fast die höchste", sagte Karl und streckte die Hand
aus, um die Höhe der andern abzumessen. "Ich habe Dich gleich
gesehn", sagte Fanny, "als Du aus der Station kamst, aber ich
bin leider hier in der letzten Reihe, man sieht mich nicht und rufen
konnte ich auch nicht. Ich habe zwar besonders laut geblasen, aber Du hast
mich nicht erkannt. " "Ihr blast ja alle schlecht", sagte
Karl. "Laß mich einmal blasen. " "Aber gewiß", sagte
Fanny und reichte ihm die Trompete, "aber verdirb den Chor nicht,
sonst entläßt man mich. " Karl fieng zu blasen an, er hatte
gedacht, es sei eine grob gearbeitete Trompete, nur zum Lärmmachen
bestimmt, aber nun zeigte sich daß es ein Instrument war, das fast jede
Feinheit ausführen konnte. Waren alle Instrumente von gleicher
Beschaffenheit, so wurde ein großer Mißbrauch mit ihnen getrieben. Karl
blies, ohne sich vom Lärm der andern stören zu lassen, mit voller Brust
ein Lied das er irgendwo in einer Kneipe einmal gehört hatte. Er war
froh, eine alte Freundin getroffen zu haben, hier vor allen bevorzugt die
Trompete blasen zu dürfen und möglicherweise bald eine gute Stellung
bekommen zu können. Viele Frauen hörten zu blasen auf und hörten zu;
als er plötzlich abbrach, war kaum die Hälfte der Trompeten in Tätigkeit,
erst allmählich kam wieder der vollständige Lärm zustande. "Du
bist ein Künstler", sagte Fanny als Karl ihr die Trompete wieder
reichte. "Laß Dich als Trompeter aufnehmen. " "Werden denn
auch Männer aufgenommen?" fragte Karl. "Ja", sagte Fanny,
"wir blasen zwei Stunden. Dann werden wir von Männern, die als
Teufel angezogen sind, abgelöst. Die Hälfte bläst, die Hälfte
trommelt. Es ist sehr schön, wie überhaupt die ganze Ausstattung sehr
kostbar ist. Ist nicht auch unser Kleid sehr schön? Und die Flügel?"
Sie sah an sich hinab. "Glaubst Du", fragte Karl, "daß
auch ich noch eine Stelle bekommen werde?" "Ganz bestimmt",
sagte Fanny, "es ist ja das größte Teater der Welt. Wie gut es sich
trifft, daß wir wieder beisammen sein werden. Allerdings kommt es darauf
an, was für eine Stelle Du bekommst. Es wäre nämlich auch möglich, daß
wir, auch wenn wir beide hier angestellt sind uns doch gar nicht sehn.
" "Ist denn das Ganze wirklich so große" fragte Karl.
"Es ist das größte Teater der Welt", sagte Fanny nochmals,
"ich habe es allerdings selbst noch nicht gesehn, aber manche meiner
Kolleginnen, die schon in Oklahama waren, sagen, es sei fast grenzenlos.
" "Es melden sich aber wenig Leute", sagte Karl und zeigte
hinunter auf die Burschen und die kleine Familie. "Das ist
wahr", sagte Fanny. "Bedenke aber, daß wir in allen Städten
Leute aufnehmen, daß unsere Werbetruppe immerfort reist und daß es noch
viele solche Truppen gibt. " "Ist denn das Teater noch nicht eröffnet?"
fragte Karl. "Oja", sagte Fanny, "es ist ein altes Teater,
aber es wird immerfort vergrößert. " "Ich wundere mich",
sagte Karl, "daß sich nicht mehr Leute dazu drängen. "
"Ja", sagte Fanny, "es ist merkwürdig. "
"Vielleicht", sagte Karl, "schreckt dieser Aufwand an
Engeln und Teufeln mehr ab, als er anzieht. " " Wie Du das
herausfinden kannst", sagte Fanny. "Es ist aber möglich. Sag es
unserem Führer, vielleicht kannst Du ihm dadurch nützen." "Wo
ist er?" fragte Karl. "In der Rennbahn", sagte Fanny,
"auf der Schiedsrichtertribüne." "Auch das wundert
mich", sagte Karl, "warum geschieht denn die Aufnahme auf der
Rennbahn?" "Ja", sagte Fanny, "wir machen überall die
größten Vorbereitungen für den größten Andrang. Auf der Rennbahn ist
eben viel Platz. Und in allen Ständen, wo sonst die Wetten abgeschlossen
werden, sind die Aufnahmskanzleien eingerichtet. Es sollen zweihundert
verschiedene Kanzleien sein. " "Aber", rief Karl, "hat
denn das Teater von Oklahama so große Einkünfte, um derartige
Werbetruppen erhalten zu können?" "Was kümmert uns denn
das", sagte Fanny, "aber nun, Karl, geh, damit Du nichts versäumst,
ich muß auch wieder blasen. Versuche auf jeden Fall einen Posten bei
dieser Truppe zu bekommen und komm gleich zu mir es melden. Denke daran,
daß ich in großer Unruhe auf die Nachricht warte. " Sie drückte
ihm die Hand, ermahnte ihn zur Vorsicht beim Hinabsteigen, setzte wieder
die Trompete an die Lippen, blies aber nicht früher, ehe sie Karl unten
auf dem Boden in Sicherheit sah. Karl legte wieder die Tücher über die
Treppe so wie sie früher gewesen waren, Fanny dankte durch Kopfnicken,
und Karl gieng, das eben Gehörte nach verschiedenen Richtungen hin überlegend
auf den Mann zu, der schon Karl oben bei Fanny gesehen und sich dem
Postament genähert hatte, um ihn zu erwarten.
"Sie wollen bei uns
eintreten?" fragte der Mann. "Ich bin der Personalchef dieser
Truppe und heiße Sie willkommen. " Er war ständig wie aus Höflichkeit
ein wenig vorgebeugt, tänzelte, trotzdem er sich nicht von der Stelle rührte
und spielte mit seiner Uhrkette. "Ich danke", sagte Karl,
"ich habe das Plakat Ihrer Gesellschaft gelesen und melde mich wie es
dort verlangt wird." "Sehr richtig", sagte der Mann
anerkennend, "leider verhält sich hier nicht jeder so richtig."
Karl dachte daran, daß er jetzt den Mann darauf aufmerksam machen könnte,
daß möglicherweise die Lockmittel der Werbetruppe gerade wegen ihrer Großartigkeit
versagten. Aber er sagte es nicht, denn dieser Mann war gar nicht der Führer
der Truppe und außerdem wäre es wenig empfehlend gewesen, wenn er der
noch gar nicht aufgenommen war, gleich Verbesserungsvorschläge gemacht hätte.
Darum sagte er nur: "Es wartet draußen noch einer, der sich auch
anmelden will und der mich nur vorausgeschickt hat. Darf ich ihn jetzt
holen?" "Natürlich", sagte der Mann, "je mehr kommen,
desto besser. " "Er hat auch eine Frau bei sich und ein kleines
Kind im Kinderwagen. Sollen die auch kommen?" "Natürlich",
sagte der Mann und schien über Karls Zweifel zu lächeln. "Wir können
alle brauchen. " "Ich bin gleich wieder zurück", sagte
Karl und lief wieder zurück an den Rand des Podiums. Er winkte dem
Ehepaar zu und rief daß alle kommen dürften. Er half den Kinderwagen auf
das Podium heben und sie giengen nun gemeinsam. Die Burschen die das
sahen, berieten sich miteinander, stiegen dann langsam, bis zum letzten
Augenblick noch zögernd, die Hände in den Taschen auf das Podium hinauf
und folgten schließlich Karl und der Familie. Eben kamen aus dem
Stationsgebäude der Untergrundbahn neue Passagiere hervor, die angesichts
des Podiums mit den Engeln staunend die Arme erhoben. Immerhin schien es
als ob die Bewerbung um Stellen nun doch lebhafter werden solle. Karl war
sehr froh so früh, vielleicht als erster gekommen zu sein, das Ehepaar
war ängstlich und stellte verschiedene Fragen darüber, ob große
Anforderungen gestellt würden. Karl sagte, er wisse noch nichts
Bestimmtes, er hätte aber wirklich den Eindruck erhalten, daß jeder ohne
Ausnahme genommen würde. Er glaube, man dürfe getrost sein.
Der Personalchef kam
ihnen schon entgegen, war sehr zufrieden, daß soviele kamen, rieb sich
die Hände, grüßte jeden einzelnen durch eine kleine Verbeugung und
stellte sie alle in eine Reihe. Karl war der erste, dann kam das Ehepaar
und dann erst die andern. Als sie sich alle aufgestellt hatten, die
Burschen drängten sich zuerst durcheinander und es dauerte ein Weilchen
ehe bei ihnen Ruhe eintrat, sagte der Personalchef, während die Trompeten
verstummten: "Im Namen des Teaters von Oklahama begrüße ich Sie.
Sie sind früh gekommen (es war aber schon bald mittag) das Gedränge ist
noch nicht groß, die Formalitäten Ihrer Aufnahme werden daher bald
erledigt sein. Sie haben natürlich alle Ihre Legitimationspapiere bei
sich. " Die Burschen holten gleich irgendwelche Papiere aus den
Taschen und schwenkten sie gegen den Personalchef hin, der Ehemann stieß
seine Frau an, die unter dem Federbett des Kinderwagens ein ganzes Bündel
Papiere hervorzog, Karl allerdings hatte keine. Sollte das ein Hindernis für
seine Aufnahme werden? Es war nicht unwahrscheinlich. Immerhin wußte Karl
aus Erfahrung, daß sich derartige Vorschriften wenn man nur ein wenig
entschlossen ist, leicht umgehen lassen. Der Personalchef überblickte die
Reihe, vergewisserte sich daß alle Papiere hatten und da auch Karl die
Hand, allerdings die leere Hand erhob, nahm er an, auch bei ihm sei alles
in Ordnung. "Es ist gut", sagte dann der Personalchef und winkte
den Burschen ab, die ihre Papiere gleich untersucht haben wollten,
"die Papiere werden jetzt in den Aufnahmskanzleien überprüft
werden. Wie Sie schon aus unserm Plakat gesehn haben, können wir jeden
brauchen. Wir müssen aber natürlich wissen, was für einen Beruf er
bisher ausgeübt hat, damit wir ihn an den richtigen Ort stellen können,
wo er seine Kenntnisse verwerten kann." "Es ist ja ein
Teater", dachte Karl zweifelnd und hörte sehr aufmerksam zu.
"Wir haben daher", fuhr der Personalchef fort, "in den
Buchmacherbuden Aufnahmskanzleien eingerichtet, je eine Kanzlei für eine
Berufsgruppe. Jeder von Ihnen wird mir also jetzt seinen Beruf angeben,
die Familie gehört im allgemeinen zur Aufnahmskanzlei des Mannes, ich
werde Sie dann zu den Kanzleien führen, wo zuerst Ihre Papiere und dann
Ihre Kenntnisse von Fachmännern überprüft werden sollen – es wird nur
eine ganz kurze Prüfung sein, niemand muß sich fürchten. Dort werden
Sie dann auch gleich aufgenommen werden und die weitern Weisungen
erhalten. Fangen wir also an. Hier die erste Kanzlei ist wie schon die
Aufschrift sagt, für Ingenieure bestimmt. Ist vielleicht ein Ingenieur
unter Ihnen?" Karl meldete sich. Er glaubte, gerade weil er keine
Papiere hatte, müsse er bestrebt sein alle Formalitäten möglichst rasch
durchzujagen, eine kleine Berechtigung sich zu melden hatte er auch, denn
er hatte ja Ingenieur werden wollen. Aber als die Burschen sahen, daß
sich Karl meldete, wurden sie neidisch und meldeten sich auch, alle
meldeten sich. Der Personalchef streckte sich in die Höhe und sagte zu
den Burschen: "Sie sind Ingenieure?" Da senkten sie alle langsam
die Hände, Karl dagegen bestand auf seiner ersten Meldung. Der
Personalchef sah ihn zwar ungläubig an, denn Karl schien ihm zu kläglich
angezogen und auch zu jung, um Ingenieur sein zu können, aber er sagte
doch nichts weiter, vielleicht aus Dankbarkeit, weil Karl ihm, wenigstens
seiner Meinung nach, die Bewerber hereingeführt hatte. Er zeigte bloß
einladend nach der Kanzlei und Karl gieng hin, während sich der
Personalchef den andern zuwendete.
In der Kanzlei für
Ingenieure saßen an den zwei Seiten eines rechtwinkligen Pultes zwei
Herren und verglichen zwei große Verzeichnisse, die vor ihnen lagen. Der
eine las vor, der andere strich in seinem Verzeichnis die vorgelesenen
Namen an. Als Karl grüßend vor sie hintrat, legten sie sofort die
Verzeichnisse fort und nahmen andere große Bücher vor, die sie
aufschlugen. Der eine, offenbar nur ein Schreiber, sagte: " Ich bitte
um Ihre Legitimationspapiere. " " Ich habe sie leider nicht bei
mir", sagte Karl. "Er hat sie nicht bei sich", sagte der
Schreiber zu dem andern Herrn und schrieb die Antwort gleich in sein Buch
ein. "Sie sind Ingenieur?" fragte dann der andere, der der
Leiter der Kanzlei zu sein schien. "Ich bin es noch nicht",
sagte Karl schnell, "aber – " "Genug", sagte der
Herr noch viel schneller, "dann gehören Sie nicht zu uns. Ich bitte
die Aufschrift zu beachten. " Karl biß die Zähne zusammen, der Herr
mußte es bemerkt haben, denn er sagte: "Es ist kein Grund zur
Unruhe. Wir können alle brauchen. " Und er winkte einem der Diener,
die beschäftigungslos zwischen den Barrieren herumgiengen: "Führen
Sie diesen Herrn zu der Kanzlei für Leute mit technischen
Kenntnissen." Der Diener faßte den Befehl wörtlich auf und faßte
Karl bei der Hand. Sie giengen zwischen vielen Buden durch, in einer sah
Karl schon einen der Burschen der bereits aufgenommen war und den Herren
dort dankend die Hand drückte. In der Kanzlei, in die Karl jetzt gebracht
wurde, war, wie Karl vorausgesehen hatte, der Vorgang ähnlich wie in der
ersten Kanzlei. Nur schickte man ihn von hier, da man hörte, daß er eine
Mittelschule besucht hatte, in die Kanzlei für gewesene Mittelschüler.
Als Karl dort aber sagte, er hätte eine europäische Mittelschule
besucht, erklärte man sich auch dort für unzuständig und ließ ihn in
die Kanzlei für europäische Mittelschüler führen. Es war eine Bude am
äußersten Rand, nicht nur kleiner sondern sogar niedriger als alle
andern. Der Diener, der ihn hierher gebracht hatte, war wütend über die
lange Führung und die vielen Abweisungen, an denen seiner Meinung nach
Karl allein die Schuld tragen mußte. Er wartete nicht mehr die Fragen ab,
sondern lief gleich fort. Diese Kanzlei war wohl auch die letzte Zuflucht.
Als Karl den Kanzleileiter erblickte, erschrak er fast über die Ähnlichkeit,
die dieser mit einem Professor hatte, der wahrscheinlich noch jetzt an der
Realschule zuhause unterrichtete. Die Ähnlichkeit bestand allerdings, wie
sich gleich herausstellte nur in Einzelheiten, aber die auf der breiten
Nase ruhende Brille, der blonde wie ein Schaustück gepflegte Vollbart,
der sanft gebeugte Rücken und die immer unerwartet hervorbrechende laute
Stimme hielten Karl noch einige Zeit in Staunen. Glücklicherweise mußte
er auch nicht sehr aufmerken, denn es gieng hier einfacher zu als in den
andern Kanzleien. Es wurde zwar auch hier eingetragen, daß seine
Legitimationspapiere fehlten und der Kanzleileiter nannte es eine
unbegreifliche Nachlässigkeit, aber der Schreiber, der hier die Oberhand
hatte, gieng schnell darüber hinweg und erklärte nach einigen kurzen
Fragen des Leiters, während sich dieser gerade zu einer größern Frage
anschickte, Karl für aufgenommen. Der Leiter wandte sich mit offenem Mund
gegen den Schreiber, dieser aber machte eine abschließende Handbewegung,
sagte: "Aufgenommen" und trug auch gleich die Entscheidung ins
Buch ein. Offenbar war der Schreiber der Meinung, ein europäischer
Mittelschüler zu sein, sei schon etwas so schmähliches daß man es
jedem, der es von sich behaupte, ohne weiteres glauben könne. Karl für
seinen Teil hatte nichts dagegen einzuwenden, er gieng zu ihm hin und
wollte ihm danken. Es gab aber noch eine kleine Verzögerung, als man ihn
jetzt nach seinem Namen fragte. Er antwortete nicht gleich, er hatte eine
Scheu, seinen wirklichen Namen zu nennen und aufschreiben zu lassen. Bis
er hier auch nur die kleinste Stelle erhalten und zur Zufriedenheit ausfüllen
würde, dann mochte man seinen Namen erfahren, jetzt aber nicht, allzulang
hatte er ihn verschwiegen, als daß er ihn jetzt hätte verraten sollen.
Er nannte daher, da ihm im Augenblick kein anderer Name einfiel, nur den
Rufnamen aus seinen letzten Stellungen: "Negro".
"Negro" fragte der Leiter, drehte den Kopf und machte eine
Grimasse, als hätte Karl jetzt den Höhepunkt der Unglaubwürdigkeit
erreicht. Auch der Schreiber sah Karl eine Weile prüfend an, dann aber
wiederholte er "Negro" und schrieb den Namen ein. "Sie
haben doch nicht Negro aufgeschrieben", fuhr ihn der Leiter an.
"Ja, Negro", sagte der Schreiber ruhig und machte eine
Handbewegung, als habe nun der Leiter das Weitere zu veranlassen. Der
Leiter bezwang sich auch, stand auf und sagte: "Sie sind also für
das Teater von Oklahama – ". Aber weiter kam er nicht, er konnte
nichts gegen sein Gewissen tun, setzte sich und sagte: "Er heißt
nicht Negro." Der Schreiber zog die Augenbrauen in die Höhe, stand
nun selbst auf und sagte: "Dann teile also ich Ihnen mit, daß Sie für
das Teater in Oklahama aufgenommen sind und daß man Sie jetzt unserm Führer
vorstellen wird. " Wieder wurde ein Diener gerufen, der Karl zur
Schiedsrichtertribüne führte.
Unten an der Treppe sah
Karl den Kinderwagen und gerade kam auch das Ehepaar herunter, die Frau
mit dem Kind auf dem Arm. " Sind Sie aufgenommen?" fragte der
Mann, er war viel lebhafter als früher, auch die Frau sah ihm lachend über
die Schulter. Als Karl antwortete, eben sei er aufgenommen worden und gehe
zur Vorstellung, sagte der Mann: "Dann gratuliere ich. Auch wir sind
aufgenommen worden, es scheint ein gutes Unternehmen zu sein, allerdings
kann man sich nicht gleich in alles einfinden, so ist es aber überall.
" Sie sagten einander noch "Auf Wiedersehn" und Karl stieg
zur Tribüne hinauf. Er gieng langsam, denn der kleine Raum oben schien
von Leuten überfüllt zu sein und er wollte sich nicht eindrängen. Er
blieb sogar stehn und überblickte das große Rennfeld das auf allen
Seiten bis an ferne Wälder reichte. Ihn erfaßte Lust einmal ein
Pferderennen zu sehn, er hatte in Amerika noch keine Gelegenheit dazu
gefunden. In Europa war er einmal als kleines Kind zu einem Rennen
mitgenommen worden, konnte sich aber an nichts anderes erinnern als daß
er von der Mutter zwischen vielen Menschen die nicht auseinanderweichen
wollten, durchgezogen worden war. Er hatte also eigentlich überhaupt noch
kein Rennen gesehn. Hinter ihm fieng eine Maschinerie zu schnarren an, er
drehte sich um und sah auf dem Apparat, auf dem beim Rennen die Namen der
Sieger veröffentlicht werden, jetzt folgende Aufschrift in die Höhe
ziehn: "Kaufmann Kalla mit Frau und Kind". Hier wurden also die
Namen der Aufgenommenen den Kanzleien mitgeteilt.
Gerade liefen einige
Herren lebhaft miteinander sprechend, Bleistifte und Notizblätter in den
Händen die Treppe herunter, Karl drückte sich ans Geländer um sie
vorbeizulassen und stieg, da nun oben Platz geworden war hinauf. In einer
Ecke der mit Holzgeländern versehenen Platform – das ganze sah wie das
flache Dach eines schmalen Turmes aus – saß, die Arme entlang der
Holzgeländer ausgestreckt, ein Herr, dem ein breites weißes Seidenband
mit der Aufschrift: Führer der 10ten Werbetruppe des Teaters von Oklahama
quer über die Brust gieng. Neben ihm stand auf einem Tischchen ein gewiß
auch bei den Rennen verwendeter telephonischer Apparat, durch den der Führer
offenbar alle notwendigen Angaben über die einzelnen Bewerber noch vor
der Vorstellung erfuhr, denn er stellte an Karl zunächst gar keine
Fragen, sondern sagte zu einem Herrn, der mit gekreuzten Beinen, die Hand
am Kinn neben ihm lehnte: "Negro, ein europäischer Mittelschüler."
Und als sei damit der sich tief verneigende Karl für ihn erledigt sah er
die Treppe hinunter, ob nicht wieder jemand käme. Aber da niemand kam, hörte
er manchmal dem Gespräch, das der andere Herr mit Karl führte zu,
blickte aber meistens über das Rennfeld hin und klopfte mit den Fingern
auf das Geländer. Diese zarten und doch kräftigen, langen und schnell
bewegten Finger lenkten zeitweilig Karls Aufmerksamkeit auf sich trotzdem
ihn der andere Herr genug in Anspruch nahm.
"Sie sind
stellungslos gewesen?" fragte dieser Herr zunächst. Diese Frage
sowie fast alle andern Fragen, die er stellte, waren sehr einfach, ganz
unverfänglich und die Antworten wurden überdies nicht durch
Zwischenfragen nachgeprüft, trotzdem aber wußte ihnen der Herr durch die
Art wie er sie mit großen Augen aussprach, wie er ihre Wirkung mit
vorgebeugtem Oberkörper beobachtete, wie er die Antworten mit auf die
Brust gesenktem Kopfe aufnahm und hie und da laut wiederholte, eine
besondere Bedeutung zu geben, die man zwar nicht verstand, deren Ahnung
aber vorsichtig und befangen machte. Es kam öfters vor, daß es Karl drängte
die gegebene Antwort zu widerrufen und durch eine andere, die vielleicht
mehr Beifall finden würde, zu ersetzen, aber er hielt sich doch immer
noch zurück, denn er wußte, einen wie schlechten Eindruck ein derartiges
Schwanken machen mußte und wie überdies die Wirkung der Antworten eine
meist unberechenbare war. Überdies aber schien ja seine Aufnahme schon
entschieden zu sein, dieses Bewußtsein gab ihm Rückhalt.
Die Frage ob er
stellungslos gewesen sei, beantwortete er mit einem einfachen
"Ja". "Wo waren Sie zuletzt angestellt?" fragte dann
der Herr. Karl wollte schon antworten, da hob der Herr den Zeigefinger und
sagte noch einmal: "Zuletzt! " Karl hatte auch schon die erste
Frage richtig verstanden, unwillkürlich schüttelte er die letzte
Bemerkung als beirrend mit dem Kopfe ab und antwortete: "In einem
Bureau. " Das war noch die Wahrheit, würde aber der Herr eine nähere
Auskunft über die Art des Bureaus verlangen, so mußte er lügen. Aber
das tat der Herr nicht, sondern stellte die überaus leicht ganz
wahrheitsgemäß zu beantwortende Frage: "Waren Sie dort
zufrieden?" "Nein", rief Karl ihm fast in die Rede fallend.
Bei einem Seitenblick bemerkte Karl, daß der Führer ein wenig lächelte,
Karl bereute die unbedachte Art seiner letzten Antwort, aber es war zu
verlockend gewesen, das Nein hinauszuschrein, denn während seiner ganzen
letzten Dienstzeit hatte er nur den großen Wunsch gehabt, irgendein
fremder Dienstgeber möge einmal eintreten und diese Frage an ihn richten.
Seine Antwort konnte aber noch einen andern Nachteil bringen, denn der
Herr konnte nun fragen, warum er nicht zufrieden gewesen sei. Statt dessen
fragte er jedoch: "Zu was für einem Posten fühlen Sie sich
geeignet?" Diese Frage enthielt möglicherweise wirklich eine Falle,
denn wozu wurde sie gestellt, da Karl doch schon als Schauspieler
aufgenommen war; trotzdem er das aber erkannte, konnte er sich dennoch
nicht zu der Erklärung überwinden, er fühle sich für den
Schauspielerberuf besonders geeignet. Er wich daher der Frage aus und
sagte auf die Gefahr hin trotzig zu erscheinen: "Ich habe das Plakat
in der Stadt gelesen und da dort stand, daß man jeden brauchen kann, habe
ich mich gemeldet." "Das wissen wir", sagte der Herr,
schwieg und zeigte dadurch daß er auf seiner frühern Frage beharre.
"Ich bin als Schauspieler aufgenommen", sagte Karl zögernd, um
den Herren die Schwierigkeit, in die ihn die letzte Frage gebracht hatte,
begreiflich zu machen. "Das ist richtig", sagte der Herr und
verstummte wieder. "Nun", sagte Karl und die ganze Hoffnung
einen Posten gefunden zu haben, kam ins Wanken, "ich weiß nicht, ob
ich zum Teaterspielen geeignet bin. Ich will mich aber anstrengen und alle
Aufträge auszuführen suchen. " Der Herr wandte sich dem Leiter zu,
beide nickten, Karl schien richtig geantwortet zu haben, er faßte wieder
Mut und erwartete aufgerichtet die nächste Frage. Die lautete: "Was
wollten Sie denn ursprünglich studieren?" Um die Frage genau zu
bestimmen – an der genauen Bestimmung lag dem Herrn immer sehr viel –
fügte er hinzu: "In Europa, meine ich. " Hiebei nahm er die
Hand vom Kinn und machte eine schwache Bewegung, als wolle er damit
gleichzeitig andeuten wie ferne Europa und wie bedeutungslos die dort
einmal gefaßten Pläne seien. Karl sagte: "Ich wollte Ingenieur
werden." Diese Antwort widerstrebte ihm zwar, es war lächerlich im
vollen Bewußtsein seiner bisherigen Laufbahn in Amerika die alte
Erinnerung, daß er einmal habe Ingenieur werden wollen, hier wieder
aufzufrischen – wäre er es denn selbst in Europa jemals geworden? –
aber er wußte gerade keine andere Antwort und sagte deshalb diese. Aber
der Herr nahm es ernst, wie er alles ernst nahm. "Nun
Ingenieur", sagte er, "können Sie wohl nicht gleich werden,
vielleicht würde es Ihnen aber vorläufig entsprechen, irgendwelche
niedrige technische Arbeiten auszuführen." "Gewiß", sagte
Karl, er war sehr zufrieden, er wurde zwar, wenn er das Angebot annahm,
aus dem Schauspielerstand unter die technischen Arbeiter geschoben, aber
er glaubte tatsächlich sich bei dieser Arbeit besser bewähren zu können.
Übrigens, dies wiederholte er sich immer wieder, es kam nicht so sehr auf
die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf sich überhaupt irgendwo
dauernd festzuhalten. "Sind Sie denn kräftig genug für schwerere
Arbeit?" fragte der Herr. "Oja", sagte Karl. Hierauf ließ
der Herr Karl näher zu sich herankommen und befühlte seinen Arm.
"Es ist ein kräftiger Junge", sagte er dann, indem er Karl am
Arm zum Führer hinzog. Der Führer nickte lächelnd, reichte ohne sich übrigens
aus seiner Ruhelage aufzurichten Karl die Hand und sagte: "Dann sind
wir also fertig. In Oklahama wird alles noch überprüft werden. Machen
Sie unserer Werbetruppe Ehre! " Karl verbeugte sich zum Abschied, er
wollte sich dann auch von dem andern Herren verabschieden, dieser aber
spazierte schon, als sei er mit seiner Arbeit vollständig fertig, das
Gesicht in die Höhe gerichtet auf der Platform auf und ab. Während Karl
hinunterstieg wurde zur Seite der Treppe auf der Anzeigetafel die
Aufschrift hochgezogen: "Negro, technischer Arbeiter". Da alles
hier seinen ordentlichen Gang nahm, hätte es Karl nicht mehr so sehr
bedauert, wenn auf der Tafel sein wirklicher Name zu lesen gewesen wäre.
Es war alles sogar überaus sorgfältig eingerichtet, denn am Fuß der
Treppe wurde Karl schon von einem Diener erwartet, der ihm eine Binde um
den Arm festmachte. Als Karl dann den Arm hob, um zu sehn was auf der
Binde stand, war dort der ganz richtige Aufdruck "technischer
Arbeiter".
Wohin Karl nun aber geführt
werden mochte, zuerst wollte er doch Fanny melden wie glücklich alles
abgelaufen war. Aber zu seinem Bedauern erfuhr er vom Diener, daß die
Engel ebenso wie auch die Teufel bereits nach dem nächsten Bestimmungsort
der Werbetruppe abgereist seien, um dort die Ankunft der Truppe für den nächsten
Tag bekanntzumachen. "Schade", sagte Karl, es war die erste Enttäuschung,
die er in diesem Unternehmen erlebte, "ich hatte eine Bekannte unter
den Engeln. " " Sie werden sie in Oklahama wiedersehn",
sagte der Diener, "nun aber kommen Sie, Sie sind der letzte. "
Er führte Karl an der hintern Seite des Podiums entlang, auf dem früher
die Engel gestanden waren, jetzt waren dort nur noch die leeren
Postamente. Karls Annahme aber, daß ohne die Musik der Engel mehr
Stellensuchende kommen würden, erwies sich nicht als richtig, denn vor
dem Podium standen jetzt überhaupt keine Erwachsenen mehr, nur paar
Kinder kämpften um eine lange weiße Feder, die wahrscheinlich aus einem
Engelsflügel gefallen war. Ein Junge hielt sie in die Höhe, während die
andern Kinder mit einer Hand seinen Kopf niederdrücken wollten und mit
der andern nach der Feder langten.
Karl zeigte auf die
Kinder, der Diener aber sagte ohne hinzusehn: "Kommen Sie rascher, es
hat sehr lange gedauert, ehe Sie aufgenommen wurden. Man hatte wohl
Zweifel?" "Ich weiß nicht", sagte Karl erstaunt, er
glaubte es aber nicht. Immer, selbst bei den klarsten Verhältnissen fand
sich doch irgendjemand der seinem Mitmenschen Sorgen machen wollte. Aber
vor dem freundlichen Anblick der großen Zuschauertribüne, zu der sie
jetzt kamen, vergaß Karl bald an die Bemerkung des Dieners. Auf dieser
Tribüne war nämlich eine ganze lange Bank mit einem weißen Tuch
gedeckt, alle Aufgenommenen saßen mit dem Rücken zur Rennbahn auf der nächsttieferen
Bank und wurden bewirtet. Alle waren fröhlich und aufgeregt, gerade als
sich Karl unbemerkt als letzter auf die Bank setzte, standen viele mit
erhobenen Gläsern auf und einer hielt einen Trinkspruch auf den Führer
der zehnten Werbetruppe, den er den "Vater der
Stellungsuchenden" nannte. Jemand machte darauf aufmerksam, daß man
ihn auch von hier aus sehen könne und tatsächlich war die
Schiedsrichtertribüne mit den zwei Herren in nicht allzugroßer
Entfernung sichtbar. Nun schwenkten alle ihre Gläser in dieser Richtung,
auch Karl faßte das vor ihm stehende Glas, aber so laut man auch rief und
so sehr man sich bemerkbar zu machen suchte, auf der Schiedsrichtertribüne
deutete nichts darauf hin, daß man die Ovation bemerkte oder wenigstens
bemerken wolle. Der Führer lehnte in der Ecke wie früher und der andere
Herr stand neben ihm, die Hand am Kinn.
Ein wenig enttäuscht
setzte man sich wieder, hie und da drehte sich noch einer nach der
Schiedsrichtertribüne um, aber bald beschäftigte man sich nur mit dem
reichlichen Essen, großes Geflügel, wie es Karl noch nie gesehen hatte,
mit vielen Gabeln in dem knusprig gebratenen Fleisch, wurde herumgetragen,
Wein wurde immer wieder von den Dienern eingeschenkt – man merkte es
kaum, man war über seinen Teller gebückt und in den Becher fiel der
Strahl des roten Weines – und wer sich an der allgemeinen Unterhaltung
nicht beteiligen wollte, konnte Bilder von Ansichten des Teaters von
Oklahama besichtigen, die an einem Ende der Tafel aufgestapelt waren und
von Hand zu Hand gehen sollten. Doch kümmerte man sich nicht viel um die
Bilder und so geschah es daß bei Karl, der der Letzte war nur ein Bild
ankam. Nach diesem Bild zu schließen mußten aber alle sehr sehenswert
sein. Dieses Bild stellte die Loge des Präsidenten der Vereinigten
Staaten dar. Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine
Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den
freien Raum. Diese Brüstung war ganz aus Gold in allen ihren Teilen.
Zwischen den wie mit der feinsten Scheere ausgeschnittenen Säulchen waren
nebeneinander Medaillons früherer Präsidenten angebracht, einer hatte
eine auffallend gerade Nase, aufgeworfene Lippen und unter gewölbten
Lidern starr gesenkte Augen. Rings um die Loge, von den Seiten und von der
Höhe kamen Strahlen von Licht; weißes und doch mildes Licht enthüllte förmlich
den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen
sich faltendem Sammt der an der ganzen Umrandung niederfiel und durch Schnüre
gelenkt wurde, als eine dunkle rötlich schimmernde Leere erschien. Man
konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah
alles aus. Karl vergaß das Essen nicht, sah aber doch oft die Abbildung
an, die er neben seinen Teller gelegt hatte.
Schließlich hätte er
doch noch sehr gern wenigstens eines der übrigen Bilder angesehn, selbst
holen wollte er es sich aber nicht, denn ein Diener hatte die Hand auf den
Bildern liegen und die Reihenfolge mußte wohl gewahrt werden, er suchte
also nur die Tafel zu überblicken und festzustellen, ob sich nicht doch
noch ein Bild nähere. Da bemerkte er staunend – zuerst glaubte er es
gar nicht – unter den am tiefsten zum Essen gebeugten Gesichtern ein gut
bekanntes – Giacomo. Gleich lief er zu ihm hin. "Giacomo",
rief er. Dieser, schüchtern wie immer wenn er überrascht wurde, erhob
sich vom Essen, drehte sich in dem schmalen Raum zwischen den Bänken,
wischte mit der Hand den Mund, war dann aber sehr froh Karl zu sehn, bat
ihn sich neben ihn zu setzen oder bot sich an zu Karls Platz hinüberzukommen,
sie wollten einander alles erzählen und immer beisammen bleiben. Karl
wollte die andern nicht stören, jeder sollte deshalb vorläufig seinen
Platz behalten, das Essen werde bald zuende sein und dann wollten sie natürlich
immer zu einander halten. Aber Karl blieb doch noch bei Giacomo, nur um
ihn anzusehn. Was für Erinnerungen an vergangene Zeiten! Wo war die Oberköchin
Was machte Therese? Giacomo selbst hatte sich in seinem Äußern fast gar
nicht verändert, die Voraussage der Oberköchin, daß er in einem halben
Jahr ein knochiger Amerikaner werden müsse, war nicht eingetroffen, er
war zart wie früher, die Wangen eingefallen wie früher, augenblicklich
allerdings waren sie gerundet, denn er hatte im Mund einen übergroßen
Bissen Fleisch, aus dem er die überflüssigen Knochen langsam herauszog,
um sie dann auf den Teller zu werfen. Wie Karl an seiner Armbinde ablesen
konnte, war auch Giacomo nicht als Schauspieler sondern als Liftjunge
aufgenommen, das Teater von Oklahama schien wirklich jeden brauchen zu können.
In den Anblick Giacomos
verloren, blieb aber Karl allzulange von seinem Platze fort, eben wollte
er zurückkehren, da kam der Personalchef, stellte sich auf eine der höher
gelegenen Bänke, klatschte in die Hände und hielt eine kleine Ansprache,
während die meisten aufstanden und die Sitzengebliebenen die sich nicht
vom Essen trennen konnten, durch Stöße der andern schließlich auch zum
Aufstehn gezwungen wurden. "Ich will hoffen", sagte er, Karl war
inzwischen schon auf den Fußspitzen zu seinem Platz zurückgelaufen,
"daß Sie mit unserm Empfangsessen zufrieden waren. Im allgemeinen
lobt man das Essen unserer Werbetruppe. Leider muß ich die Tafel bereits
aufheben, denn der Zug, der Sie nach Oklahama bringen soll, fährt in fünf
Minuten. Es ist zwar eine lange Reise, Sie werden aber sehn, daß für Sie
gut gesorgt ist. Hier stelle ich Ihnen den Herrn vor, der Ihren Transport
führen wird und dem Sie Gehorsam schulden. " Ein magerer kleiner
Herr erkletterte die Bank auf welcher der Personalchef stand, nahm sich
kaum Zeit eine flüchtige Verbeugung zu machen, sondern begann sofort mit
ausgestreckten nervösen Händen zu zeigen, wie sich alle sammeln, ordnen
und in Bewegung setzen sollten. Aber zunächst folgte man ihm nicht, denn
derjenige aus der Gesellschaft der schon früher eine Rede gehalten hatte,
schlug mit der Hand auf den Tisch und begann eine längere Dankrede,
trotzdem – Karl wurde ganz unruhig – eben gesagt worden war, daß der
Zug bald abfahre. Aber der Redner achtete nicht einmal darauf, daß auch
der Personalchef nicht zuhörte sondern dem Transportleiter verschiedene
Anweisungen gab, er legte seine Rede groß an, zählte alle Gerichte auf,
die aufgetragen worden waren, gab über jedes sein Urteil ab und schloß
dann zusammenfassend mit dem Ausruf: "Geehrte Herren, so gewinnt man
uns. " Alle außer den Angesprochenen lachten, aber es war doch mehr
Wahrheit als Scherz.
Diese Rede büßte man überdies
damit, daß jetzt der Weg zur Bahn im Laufschritt gemacht werden mußte.
Das war aber auch nicht sehr schwer, denn – Karl bemerkte es erst jetzt
– niemand trug ein Gepäckstück – das einzige Gepäckstück war
eigentlich der Kinderwagen, der jetzt an der Spitze der Truppe vom Vater
gelenkt wie haltlos auf und nieder sprang. Was für besitzlose verdächtige
Leute waren hier zusammengekommen und wurden doch so gut empfangen und behütet!
Und dem Transportleiter mußten sie geradezu ans Herz gelegt sein. Bald faßte
er selbst mit einer Hand die Lenkstange des Kinderwagens und erhob die
andere um die Truppe aufzumuntern, bald war er hinter der letzten Reihe,
die er antrieb, bald lief er an den Seiten entlang, faßte einzelne
langsamere aus der Mitte ins Auge und suchte ihnen mit schwingenden Armen
darzustellen, wie sie laufen müßten.
Als sie auf dem Bahnhof
ankamen, stand der Zug schon bereit. Die Leute auf dem Bahnhof zeigten
einander die Truppe, man hörte Ausrufe wie "Alle diese gehören zum
Teater von Oklahama", das Teater schien viel bekannter zu sein, als
Karl angenommen hatte, allerdings hatte er sich um Teaterdinge niemals gekümmert.
Ein ganzer Waggon war eigens für die Truppe bestimmt, der Transportleiter
drängte zum Einsteigen mehr als der Schaffner. Er sah zuerst in jede
einzelne Abteilung, ordnete hie und da etwas und erst dann stieg er selbst
ein. Karl hatte zufällig einen Fensterplatz bekommen und Giacomo neben
sich gezogen. So saßen sie aneinandergedrängt und freuten sich im Grunde
beide auf die Fahrt, so sorgenlos hatten sie in Amerika noch keine Reise
gemacht. Als der Zug zu fahren begann winkten sie mit den Händen aus dem
Fenster, während die Burschen ihnen gegenüber einander anstießen und es
lächerlich fanden.
Sie fuhren zwei Tage und
zwei Nächte. Jetzt erst begriff Karl die Größe Amerikas. Unermüdlich
sah er aus dem Fenster und Giacomo drängte sich solange mit heran, bis
die Burschen gegenüber die sich viel mit Kartenspiel beschäftigten
dessen überdrüssig wurden und ihm freiwillig den Fensterplatz einräumten.
Karl dankte ihnen – Giacomos Englisch war nicht jedem verständlich –
und sie wurden im Laufe der Zeit, wie es unter Coupeegenossen nicht anders
sein kann, viel freundlicher, doch war auch ihre Freundlichkeit oft lästig,
da sie z. B. immer wenn ihnen eine Karte auf den Boden fiel und sie den
Boden nach ihr absuchten, Karl oder Giacomo mit aller Kraft ins Bein
zwickten. Giacomo schrie dann, immer von neuem überrascht, und zog das
Bein in die Höhe, Karl versuchte manchmal mit einem Fußtritt zu
antworten, duldete aber im übrigen alles schweigend. Alles was sich in
dem kleinen, selbst bei offenem Fenster von Rauch überfüllten Coupee
ereignete vergieng vor dem was draußen zu sehen war.
Am ersten Tag fuhren sie
durch ein hohes Gebirge. Bläulichschwarze Steinmassen giengen in spitzen
Keilen bis an den Zug heran, man beugte sich aus dem Fenster und suchte
vergebens ihre Gipfel, dunkle schmale zerrissene Täler öffneten sich,
man beschrieb mit dem Finger die Richtung, in der sie sich verloren,
breite Bergströme kamen eilend als große Wellen auf dem hügeligen
Untergrund und in sich tausend kleine Schaumwellen treibend, sie stürzten
sich unter die Brücken über die der Zug fuhr und sie waren so nah daß
der Hauch ihrer Kühle das Gesicht erschauern machte.