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07. Červen 2009
Verhaftung
Jemand
mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde
er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner
Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte,
kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehn. K. wartete noch ein Weilchen,
sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau die ihm gegenüber wohnte und die
ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber,
gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann,
den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte trat ein. Er war schlank
und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich den
Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem
Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde,
wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. “Wer sind Sie?” fragte K.
und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg,
als müsse man seine Erscheinung hinnehmen und sagte bloß seinerseits: “Sie
haben geläutet?” “Anna soll mir das Frühstück bringen,” sagte K. und versuchte
zunächst stillschweigend durch Aufmerksamkeit und Überlegung festzustellen, wer
der Mann eigentlich war. Aber dieser setzte sich nicht allzulange seinen
Blicken aus, sondern wandte sich zur Tür, die er ein wenig öffnete, um
jemandem, der offenbar knapp hinter der Tür stand, zu sagen: “Er will, daß Anna
ihm das Frühstück bringt.” Ein kleines Gelächter im Nebenzimmer folgte, es war
nach dem Klang nicht sicher ob nicht mehrere Personen daran beteiligt waren.
Trotzdem der fremde Mann dadurch nichts erfahren haben konnte, was er nicht
schon früher gewußt hätte, sagte er nun doch zu K. im Tone einer Meldung: “Es
ist unmöglich.” “Das wäre neu,” sagte K., sprang aus dem Bett und zog rasch
seine Hosen an. “Ich will doch sehn, was für Leute im Nebenzimmer sind und wie
Frau Grubach diese Störung mir gegenüber verantworten wird.” Es fiel ihm zwar
gleich ein, daß er das nicht hätte laut sagen müssen und daß er dadurch
gewissermaßen ein Beaufsichtigungsrecht des Fremden anerkannte, aber es schien
ihm jetzt nicht wichtig. Immerhin faßte es der Fremde so auf, denn er sagte:
“Wollen Sie nicht lieber hier bleiben?” “Ich will weder hierbleiben noch von
Ihnen angesprochen werden, solange Sie sich mir nicht vorstellen.” “Es war gut
gemeint,” sagte der Fremde und öffnete nun freiwillig die Tür. Im Nebenzimmer,
in das K. langsamer eintrat als er wollte, sah es auf den ersten Blick fast
genau so aus, wie am Abend vorher. Es war das Wohnzimmer der Frau Grubach,
vielleicht war in diesem mit Möbeln Decken Porzellan und Photographien
überfüllten Zimmer heute ein wenig mehr Raum als sonst, man erkannte das nicht
gleich, umsoweniger als die Hauptveränderung in der Anwesenheit eines Mannes
bestand, der beim offenen Fenster mit einem Buch saß, von dem er jetzt
aufblickte. “Sie hätten in Ihrem Zimmer bleiben sollen! Hat es Ihnen denn Franz
nicht gesagt?” “Ja, was wollen Sie denn?” sagte K. und sah von der neuen
Bekanntschaft zu dem mit Franz Benannten, der in der Tür stehen geblieben war,
und dann wieder zurück. Durch das offene Fenster erblickte man wieder die alte
Frau, die mit wahrhaft greisenhafter Neugierde zu dem jetzt gegenüberliegenden
Fenster getreten war, um auch weiterhin alles zu sehn. “Ich will doch Frau
Grubach – ,” sagte K., machte eine Bewegung, als reiße er sich von den zwei
Männern los, die aber weit von ihm entfernt standen, und wollte weitergehn.
“Nein,” sagte der Mann beim Fenster, warf das Buch auf ein Tischchen und stand
auf. “Sie dürfen nicht weggehn, Sie sind ja gefangen.” “Es sieht so aus,” sagte
K. “Und warum denn?” fragte er dann. “Wir sind nicht dazu bestellt, Ihnen das
zu sagen. Gehn Sie in Ihr Zimmer und warten Sie. Das Verfahren ist nun einmal
eingeleitet und Sie werden alles zur richtigen Zeit erfahren. Ich gehe über
meinen Auftrag hinaus, wenn ich Ihnen so freundschaftlich zurede. Aber ich
hoffe, es hört es niemand sonst als Franz und der ist selbst gegen alle
Vorschrift freundlich zu Ihnen. Wenn Sie auch weiterhin so viel Glück haben,
wie bei der Bestimmung Ihrer Wächter, dann können Sie zuversichtlich sein.” K.
wollte sich setzen, aber nun sah er, daß im ganzen Zimmer keine Sitzgelegenheit
war, außer dem Sessel beim Fenster. “Sie werden noch einsehn, wie wahr das
alles ist,” sagte Franz und gieng gleichzeitig mit dem andern Mann auf ihn zu.
Besonders der letztere überragte K. bedeutend und klopfte ihm öfters auf die
Schulter. Beide prüften K.’s Nachthemd und sagten, daß er jetzt ein viel
schlechteres Hemd werde anziehn müssen, daß sie aber dieses Hemd wie auch seine
übrige Wäsche aufbewahren und, wenn seine Sache günstig ausfallen sollte, ihm
wieder zurückgeben würden. “Es ist besser, Sie geben die Sachen uns, als ins
Depot,” sagten sie, “denn im Depot kommen öfters Unterschleife vor und außerdem
verkauft man dort alle Sachen nach einer gewissen Zeit, ohne Rücksicht ob das
betreffende Verfahren zuende ist, oder nicht. Und wie lange dauern doch
derartige Processe besonders in letzter Zeit! Sie bekämen dann schließlich
allerdings vom Depot den Erlös, aber dieser Erlös ist erstens an sich schon
gering, denn beim Verkauf entscheidet nicht die Höhe des Angebotes sondern die
Höhe der Bestechung, und zweitens verringern sich solche Erlöse
erfahrungsgemäß, wenn sie von Hand zu Hand und von Jahr zu Jahr weitergegeben werden.”
K. achtete auf diese Reden kaum, das Verfügungsrecht über seine Sachen, das er
vielleicht noch besaß, schätzte er nicht hoch ein, viel wichtiger war es ihm
Klarheit über seine Lage zu bekommen; in Gegenwart dieser Leute konnte er aber
nicht einmal nachdenken, immer wieder stieß der Bauch des zweiten Wächters – es
konnten ja nur Wächter sein – förmlich freundschaftlich an ihn, sah er aber
auf, dann erblickte er ein zu diesem dicken Körper gar nicht passendes
trockenes knochiges Gesicht, mit starker seitlich gedrehter Nase, das sich über
ihn hinweg mit dem andern Wächter verständigte. Was waren denn das für
Menschen? Wovon sprachen sie? Welcher Behörde gehörten sie an? K. lebte doch in
einem Rechtsstaat, überall herrschte Friede, alle Gesetze bestanden aufrecht,
wer wagte ihn in seiner Wohnung zu überfallen? Er neigte stets dazu, alles
möglichst leicht zu nehmen, das Schlimmste erst beim Eintritt des Schlimmsten
zu glauben, keine Vorsorge für die Zukunft zu treffen, selbst wenn alles
drohte. Hier schien ihm das aber nicht richtig, man konnte zwar das ganze als
Spaß ansehn, als einen groben Spaß, den ihm aus unbekannten Gründen, vielleicht
weil heute sein dreißigster Geburtstag war, die Kollegen in der Bank
veranstaltet hatten, es war natürlich möglich, vielleicht brauchte er nur auf
irgendeine Weise den Wächtern ins Gesicht zu lachen und sie würden mitlachen,
vielleicht waren es Dienstmänner von der Straßenecke, sie sahen ihnen nicht
unähnlich – trotzdem war er diesmal förmlich schon seit dem ersten Anblick des
Wächters Franz entschlossen nicht den geringsten Vorteil, den er vielleicht
gegenüber diesen Leuten besaß, aus der Hand zu geben. Darin daß man später
sagen würde, er habe keinen Spaß verstanden, sah K. eine ganz geringe Gefahr,
wohl aber erinnerte er sich – ohne daß es sonst seine Gewohnheit gewesen wäre,
aus Erfahrungen zu lernen – an einige an sich unbedeutende Fälle, in denen er
zum Unterschied von seinen Freunden mit Bewußtsein, ohne das geringste Gefühl
für die möglichen Folgen sich unvorsichtig benommen hatte und dafür durch das
Ergebnis gestraft worden war. Es sollte nicht wieder geschehn, zumindest nicht
diesmal, war es eine Komödie, so wollte er mitspielen.
Noch
war er frei. “Erlauben Sie,” sagte er und gieng eilig zwischen den Wächtern
durch in sein Zimmer. “Er scheint vernünftig zu sein,” hörte er hinter sich
sagen. In seinem Zimmer riß er gleich die Schubladen des Schreibtisches auf, es
lag dort alles in großer Ordnung, aber gerade die Legitimationspapiere, die er
suchte, konnte er in der Aufregung nicht gleich finden. Schließlich fand er
seine Radfahrlegitimation und wollte schon mit ihr zu den Wächtern gehn, dann
aber schien ihm das Papier zu geringfügig und er suchte weiter, bis er den
Geburtsschein fand. Als er wieder in das Nebenzimmer zurückkam, öffnete sich
gerade die gegenüberliegende Tür und Frau Grubach wollte dort eintreten. Man
sah sie nur einen Augenblick, denn kaum hatte sie K. erkannt, als sie offenbar
verlegen wurde, um Verzeihung bat, verschwand und äußerst vorsichtig die Türe
schloß. “Kommen Sie doch herein,” hatte K. gerade noch sagen können. Nun aber
stand er mit seinen Papieren in der Mitte des Zimmers, sah noch auf die Tür
hin, die sich nicht wieder öffnete und wurde erst durch einen Anruf der Wächter
aufgeschreckt, die bei dem Tischchen am offenen Fenster saßen und wie K. jetzt
erkannte, sein Frühstück verzehrten. “Warum ist sie nicht eingetreten?” fragte
er. “Sie darf nicht,” sagte der große Wächter, “Sie sind doch verhaftet.” “Wie
kann ich denn verhaftet sein? Und gar auf diese Weise?” “Nun fangen Sie also
wieder an,” sagte der Wächter und tauchte ein Butterbrot ins Honigfäßchen.
“Solche Fragen beantworten wir nicht.” “Sie werden sie beantworten müssen,”
sagte K. “Hier sind meine Legitimationspapiere, zeigen Sie mir jetzt die
Ihrigen und vor allem den Verhaftbefehl.” “Du lieber Himmel!” sagte der
Wächter, “daß Sie sich in Ihre Lage nicht fügen können und daß Sie es darauf
angelegt zu haben scheinen, uns, die wir Ihnen jetzt wahrscheinlich von allen
Ihren Mitmenschen am nächsten stehn, nutzlos zu reizen.” “Es ist so, glauben
Sie es doch,” sagte Franz, führte die Kaffeetasse die er in der Hand hielt
nicht zum Mund sondern sah K. mit einem langen wahrscheinlich bedeutungsvollen,
aber unverständlichen Blicke an. K. ließ sich ohne es zu wollen in ein
Zwiegespräch der Blicke mit Franz ein, schlug dann aber doch auf seine Papiere
und sagte: “Hier sind meine Legitimationspapiere.” “Was kümmern uns denn die?”
rief nun schon der große Wächter, “Sie führen sich ärger auf als ein Kind. Was
wollen Sie denn? Wollen Sie Ihren großen verfluchten Proceß dadurch zu einem
raschen Ende bringen, daß Sie mit uns den Wächtern über Legitimation und
Verhaftbefehl diskutieren? Wir sind niedrige Angestellte, die sich in einem
Legitimationspapier kaum auskennen und die mit Ihrer Sache nichts anderes zu
tun haben, als daß sie zehn Stunden täglich bei Ihnen Wache halten und dafür
bezahlt werden. Das ist alles, was wir sind, trotzdem aber sind wir fähig
einzusehn, daß die hohen Behörden, in deren Dienst wir stehn, ehe sie eine
solche Verhaftung verfügen, sich sehr genau über die Gründe der Verhaftung und
die Person des Verhafteten unterrichten. Es gibt darin keinen Irrtum. Unsere
Behörde, soweit ich sie kenne, und ich kenne nur die niedrigsten Grade, sucht
doch nicht etwa die Schuld in der Bevölkerung, sondern wird wie es im Gesetz
heißt von der Schuld angezogen und muß uns Wächter ausschicken. Das ist Gesetz.
Wo gäbe es da einen Irrtum?” “Dieses Gesetz kenne ich nicht,” sagte K. “Desto
schlimmer für Sie,” sagte der Wächter. “Es besteht wohl auch nur in Ihren
Köpfen,” sagte K., er wollte sich irgendwie in die Gedanken der Wächter
einschleichen, sie zu seinen Gunsten wenden oder sich dort einbürgern. Aber der
Wächter sagte nur abweisend: “Sie werden es zu fühlen bekommen.” Franz mischte
sich ein und sagte: “Sieh Willem er gibt zu, er kenne das Gesetz nicht und
behauptet gleichzeitig schuldlos zu sein.” “Du hast ganz recht, aber ihm kann
man nichts begreiflich machen,” sagte der andere. K. antwortete nichts mehr;
muß ich, dachte er, durch das Geschwätz dieser niedrigsten Organe – sie geben
selbst zu, es zu sein – mich noch mehr verwirren lassen? Sie reden doch
jedenfalls von Dingen, die sie gar nicht verstehn. Ihre Sicherheit ist nur
durch ihre Dummheit möglich. Ein paar Worte, die ich mit einem mir ebenbürtigen
Menschen sprechen werde, werden alles unvergleichlich klarer machen, als die
längsten Reden mit diesen. Er gieng einige Male in dem freien Raum des Zimmers
auf und ab, drüben sah er die alte Frau die einen noch viel ältern Greis zum
Fenster gezerrt hatte, den sie umschlungen hielt; K. mußte dieser Schaustellung
ein Ende machen: “Führen Sie mich zu Ihrem Vorgesetzten,” sagte er. “Bis er es
wünscht; nicht früher,” sagte der Wächter, der Willem genannt worden war. “Und
nun rate ich Ihnen,” fügte er hinzu, “in Ihr Zimmer zu gehn, sich ruhig zu
verhalten und darauf zu warten, was über Sie verfügt werden wird. Wir raten
Ihnen, zerstreuen Sie sich nicht durch nutzlose Gedanken, sondern sammeln Sie
sich, es werden große Anforderungen an Sie gestellt werden. Sie haben uns nicht
so behandelt, wie es unser Entgegenkommen verdient hätte, Sie haben vergessen,
daß wir, mögen wir auch sein was immer, zumindest jetzt Ihnen gegenüber freie
Männer sind, das ist kein kleines Übergewicht. Trotzdem sind wir bereit, falls
Sie Geld haben, Ihnen ein kleines Frühstück aus dem Kafeehaus drüben zu
bringen.”
Ohne
auf dieses Angebot zu antworten, stand K. ein Weilchen lang still. Vielleicht
würden ihn die Beiden, wenn er die Tür des folgenden Zimmers oder gar die Tür
des Vorzimmers öffnen würde, gar nicht zu hindern wagen, vielleicht wäre es die
einfachste Lösung des Ganzen, daß er es auf die Spitze trieb. Aber vielleicht
würden sie ihn doch packen und war er einmal niedergeworfen, so war auch alle
Überlegenheit verloren, die er ihnen jetzt gegenüber in gewisser Hinsicht doch
wahrte. Deshalb zog er die Sicherheit der Lösung vor, wie sie der natürliche
Verlauf bringen mußte, und ging in sein Zimmer zurück, ohne daß von seiner
Seite oder von Seite der Wächter ein weiteres Wort gefallen wäre.
Er
warf sich auf sein Bett und nahm vom Nachttisch einen schönen Apfel, den er
sich gestern Abend für das Frühstück vorbereitet hatte. Jetzt war er sein
einziges Frühstück und jedenfalls, wie er sich beim ersten großen Bissen
versicherte, viel besser, als das Frühstück aus dem schmutzigen Nachtkafe
gewesen wäre, das er durch die Gnade der Wächter hätte bekommen können. Er
fühlte sich wohl und zuversichtlich, in der Bank versäumte er zwar heute
vormittag seinen Dienst, aber das war bei der verhältnismäßig hohen Stellung
die er dort einnahm, leicht entschuldigt. Sollte er die wirkliche
Entschuldigung anführen? Er gedachte es zu tun. Würde man ihm nicht glauben,
was in diesem Fall begreiflich war, so konnte er Frau Grubach als Zeugin führen
oder auch die beiden Alten von drüben, die wohl jetzt auf dem Marsch zum
gegenüberliegenden Fenster waren. Es wunderte K., wenigstens aus dem
Gedankengang der Wächter wunderte es ihn, daß sie ihn in das Zimmer getrieben
und ihn hier allein gelassen hatten, wo er doch zehnfache Möglichkeit hatte
sich umzubringen. Gleichzeitig allerdings fragte er sich, mal aus seinem
Gedankengang, was für einen Grund er haben könnte, es zu tun. Etwa weil die
zwei nebenan saßen und sein Frühstück abgefangen hatten? Es wäre so sinnlos
gewesen sich umzubringen, daß er, selbst wenn er es hätte tun wollen, infolge
der Sinnlosigkeit dessen dazu nicht imstande gewesen wäre. Wäre die geistige
Beschränktheit der Wächter nicht so auffallend gewesen, so hätte man annehmen
können, daß auch sie infolge der gleichen Überzeugung keine Gefahr darin
gesehen hätten, ihn allein zu lassen. Sie mochten jetzt, wenn sie wollten
zusehn, wie er zu einem Wandschränkchen gieng, in dem er einen guten Schnaps
aufbewahrte, wie er ein Gläschen zuerst zum Ersatz des Frühstücks leerte und
wie er ein zweites Gläschen dazu bestimmte, ihm Mut zu machen, das letztere nur
aus Vorsicht für den unwahrscheinlichen Fall, daß es nötig sein sollte.
Da
erschreckte ihn ein Zuruf aus dem Nebenzimmer derartig, daß er mit den Zähnen
ans Glas schlug. “Der Aufseher ruft Sie,” hieß es. Es war nur das Schreien, das
ihn erschreckte, dieses kurze abgehackte militärische Schreien, das er dem
Wächter Franz gar nicht zugetraut hätte. Der Befehl selbst war ihm sehr
willkommen, “endlich” rief er zurück, versperrte den Wandschrank und eilte
sofort ins Nebenzimmer. Dort standen die zwei Wächter und jagten ihn, als wäre
das selbstverständlich, wieder in sein Zimmer zurück. “Was fällt Euch ein?”
riefen sie, “im Hemd wollt Ihr vor den Aufseher? Er läßt Euch durchprügeln und
uns mit!” “Laßt mich, zum Teufel,” rief K., der schon bis zu seinem
Kleiderkasten zurückgedrängt war, “wenn man mich im Bett überfällt, kann man
nicht erwarten mich im Festanzug zu finden.” “Es hilft nichts,” sagten die
Wächter, die immer wenn K. schrie, ganz ruhig, ja fast traurig wurden und ihn
dadurch verwirrten oder gewissermaßen zur Besinnung brachten. “Lächerliche
Ceremonien!” brummte er noch, hob aber schon einen Rock vom Stuhl und hielt ihn
ein Weilchen mit beiden Händen, als unterbreite er ihn dem Urteil der Wächter.
Sie schüttelten die Köpfe. “Es muß ein schwarzer Rock sein,” sagten sie. K.
warf daraufhin den Rock zu Boden und sagte – er wußte selbst nicht, in welchem
Sinn er es sagte –: “Es ist doch noch nicht die Hauptverhandlung.” Die Wächter
lächelten, blieben aber bei ihrem: “Es muß ein schwarzer Rock sein.” “Wenn ich
dadurch die Sache beschleunige, soll es mir recht sein,” sagte K., öffnete
selbst den Kleiderkasten, suchte lange unter den vielen Kleidern, wählte sein
bestes schwarzes Kleid, ein Jakettkleid, das durch seine Taille unter den
Bekannten fast Aufsehen gemacht hatte, zog nun auch ein anderes Hemd an und
begann sich sorgfältig anzuziehn. Im Geheimen glaubte er eine Beschleunigung
des Ganzen damit erreicht zu haben, daß die Wächter vergessen hatten, ihn zum
Bad zu zwingen. Er beobachtete sie, ob sie sich vielleicht daran doch erinnern
würden, aber das fiel ihnen natürlich gar nicht ein, dagegen vergaß Willem
nicht, Franz mit der Meldung, daß sich K. anziehe, zum Aufseher zu schicken.
Als
er vollständig angezogen war, mußte er knapp vor Willem durch das leere
Nebenzimmer in das folgende Zimmer gehn, dessen Tür mit beiden Flügeln bereits
geöffnet war. Dieses Zimmer wurde wie K. genau wußte seit kurzer Zeit von einem
Fräulein Bürstner, einer Schreibmaschinistin bewohnt, die sehr früh in die
Arbeit zu gehen pflegte, spät nachhause kam und mit der K. nicht viel mehr als
die Grußworte gewechselt hatte. Jetzt war das Nachttischchen von ihrem Bett als
Verhandlungstisch in die Mitte des Zimmers gerückt und der Aufseher saß hinter
ihm. Er hatte die Beine über einander geschlagen und einen Arm auf die
Rückenlehne des Stuhles gelegt. In einer Ecke des Zimmers standen drei junge
Leute und sahen die Photographien des Fräulein Bürstner an, die in einer an der
Wand aufgehängten Matte steckten. An der Klinke des offenen Fensters hieng eine
weiße Bluse. Im gegenüberliegenden Fenster lagen wieder die zwei Alten, doch
hatte sich ihre Gesellschaft vergrößert, denn hinter ihnen sie weit überragend
stand ein Mann mit einem auf der Brust offenen Hemd, der seinen rötlichen
Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte.
“Josef
K.?” fragte der Aufseher, vielleicht nur um K.’s zerstreute Blicke auf sich zu lenken.
K. nickte. “Sie sind durch die Vorgänge des heutigen Morgens wohl sehr
überrascht?” fragte der Aufseher und verschob dabei mit beiden Händen die paar
Gegenstände die auf dem Nachttischchen lagen, die Kerze mit Zündhölzchen, ein
Buch und ein Nadelkissen, als seien es Gegenstände, die er zur Verhandlung
benötige. “Gewiß,” sagte K. und das Wohlgefühl endlich einem vernünftigen
Menschen gegenüberzustehn und über seine Angelegenheit mit ihm sprechen zu
können ergriff ihn, “gewiß ich bin überrascht, aber ich bin keineswegs sehr
überrascht.” “Nicht sehr überrascht?” fragte der Aufseher und stellte nun die
Kerze in die Mitte des Tischchens, während er die andern Sachen um sie
gruppierte. “Sie mißverstehen mich vielleicht,” beeilte sich K. zu bemerken.
“Ich meine –” Hier unterbrach sich K. und sah sich nach einem Sessel um. “Ich
kann mich doch setzen?” fragte er. “Es ist nicht üblich,” antwortete der
Aufseher. “Ich meine,” sagte nun K. ohne weitere Pause, “ich bin allerdings
sehr überrascht, aber man ist, wenn man dreißig Jahre auf der Welt ist und sich
allein hat durchschlagen müssen, wie es mir beschieden war, gegen
Überraschungen abgehärtet und nimmt sie nicht zu schwer. Besonders die heutige
nicht.” “Warum besonders die heutige nicht?” “Ich will nicht sagen, daß ich das
Ganze für einen Spaß ansehe, dafür scheinen mir die Veranstaltungen die gemacht
wurden, doch zu umfangreich. Es müßten alle Mitglieder der Pension daran
beteiligt sein und auch Sie alle, das gienge über die Grenzen eines Spaßes. Ich
will also nicht sagen, daß es ein Spaß ist.” “Ganz richtig,” sagte der Aufseher
und sah nach, wieviel Zündhölzchen in der Zündhölzchenschachtel waren.
“Anderseits aber,” fuhr K. fort und wandte sich hiebei an alle und hätte gern
sogar den drei bei den Photographien sich zugewendet, “andererseits aber kann
die Sache auch nicht viel Wichtigkeit haben. Ich folgere das daraus, daß ich
angeklagt bin, aber nicht die geringste Schuld auffinden kann wegen deren man
mich anklagen könnte. Aber auch das ist nebensächlich, die Hauptfrage ist: von
wem bin ich angeklagt? Welche Behörde führt das Verfahren? Sind Sie Beamte?
Keiner hat eine Uniform, wenn man nicht Ihr Kleid” – hier wandte er sich an
Franz – “eine Uniform nennen will, aber es ist doch eher ein Reiseanzug. In
diesen Fragen verlange ich Klarheit und ich bin überzeugt, daß wir nach dieser
Klarstellung von einander den herzlichsten Abschied werden nehmen können.” Der
Aufseher schlug die Zündhölzchenschachtel auf den Tisch nieder. “Sie befinden
sich in einem großen Irrtum,” sagte er. “Diese Herren hier und ich sind für
Ihre Angelegenheit vollständig nebensächlich, ja wir wissen sogar von ihr fast
nichts. Wir könnten die regelrechtesten Uniformen tragen und Ihre Sache würde
um nichts schlechter stehn. Ich kann Ihnen auch durchaus nicht sagen, daß Sie
angeklagt sind oder vielmehr ich weiß nicht, ob Sie es sind. Sie sind
verhaftet, das ist richtig, mehr weiß ich nicht. Vielleicht haben die Wächter
etwas anderes geschwätzt, dann ist eben nur Geschwätz gewesen. Wenn ich nun also
auch Ihre Fragen nicht beantworten kann, so kann ich Ihnen doch raten, denken
Sie weniger an uns und an das, was mit Ihnen geschehen wird, denken Sie lieber
mehr an sich. Und machen Sie keinen solchen Lärm mit dem Gefühl Ihrer Unschuld,
es stört den nicht gerade schlechten Eindruck, den Sie im übrigen machen. Auch
sollten Sie überhaupt im Reden zurückhaltender sein, fast alles was Sie vorhin
gesagt haben, hätte man auch wenn Sie nur paar Worte gesagt hätten, Ihrem
Verhalten entnehmen können, außerdem war es nichts übermäßig für Sie
Günstiges.”
K.
starrte den Aufseher an. Schulmäßige Lehren bekam er hier von einem vielleicht
jüngern Menschen? Für seine Offenheit wurde er mit einer Rüge bestraft? Und
über den Grund seiner Verhaftung und über deren Auftraggeber erfuhr er nichts?
Er geriet in eine gewisse Aufregung, gieng auf und ab, woran ihn niemand
hinderte, schob seine Manschetten zurück, befühlte die Brust, strich sein Haar
zurecht, kam an den drei Herren vorüber, sagte “es ist ja sinnlos,” worauf sich
diese zu ihm umdrehten und ihn entgegenkommend aber ernst ansahen, und machte
endlich wieder vor dem Tisch des Aufsehers halt. “Der Staatsanwalt Hasterer ist
mein guter Freund,” sagte er, “kann ich ihm telephonieren?” “Gewiß,” sagte der
Aufseher, “aber ich weiß nicht, welchen Sinn das haben sollte, es müßte denn
sein, daß Sie irgendeine private Angelegenheit mit ihm zu besprechen haben.”
“Welchen Sinn?” rief K. mehr bestürzt, als geärgert. “Wer sind Sie denn? Sie
wollen einen Sinn und führen das Sinnloseste auf was es gibt? Ist es nicht zum
Steinerweichen? Die Herren haben mich zuerst überfallen und jetzt sitzen oder
stehn sie hier herum und lassen mich vor Ihnen die hohe Schule reiten. Welchen
Sinn es hätte, an einen Staatsanwalt zu telephonieren, wenn ich angeblich
verhaftet bin? Gut, ich werde nicht telephonieren.” “Aber doch,” sagte der
Aufseher und streckte die Hand zum Vorzimmer aus, wo das Telephon war, “bitte
telephonieren Sie doch.” “Nein, ich will nicht mehr,” sagte K. und ging zum
Fenster. Drüben war noch die Gesellschaft beim Fenster und schien nur jetzt
dadurch, daß K. ans Fenster herangetreten war, in der Ruhe des Zuschauens ein
wenig gestört. Die Alten wollten sich erheben, aber der Mann hinter ihnen
beruhigte sie. “Dort sind auch solche Zuschauer,” rief K. ganz laut dem
Aufseher zu und zeigte mit dem Zeigefinger hinaus. “Weg von dort,” rief er dann
hinüber. Die drei wichen auch sofort ein paar Schritte zurück, die beiden Alten
sogar noch hinter den Mann, der sie mit seinem breiten Körper deckte und nach
seinen Mundbewegungen zu schließen, irgendetwas auf die Entfernung hin
unverständliches sagte. Ganz aber verschwanden sie nicht, sondern schienen auf
den Augenblick zu warten, bis sie sich unbemerkt wieder dem Fenster nähern
könnten. “Zudringliche, rücksichtslose Leute!” sagte K., als er sich ins Zimmer
zurückwendete. Der Aufseher stimmte ihm möglicherweise zu, wie K. mit einem
Seitenblick zu erkennen glaubte. Aber es war ebensogut möglich daß er gar nicht
zugehört hatte, denn er hatte eine Hand fest auf den Tisch gedrückt und schien
die Finger ihrer Länge nach zu vergleichen. Die zwei Wächter saßen auf einem
mit einer Schmuckdecke verhüllten Koffer und rieben ihre Knie. Die drei jungen
Leute hatten die Hände in die Hüften gelegt und sahen ziellos herum. Es war
still wie in irgendeinem vergessenen Bureau. “Nun meine Herren,” rief K., es
schien ihm einen Augenblick lang, als trage er alle auf seinen Schultern,
“Ihrem Aussehn nach zu schließen, dürfte meine Angelegenheit beendet sein. Ich
bin der Ansicht, daß es am besten ist, über die Berechtigung oder
Nichtberechtigung Ihres Vorgehns nicht mehr nachzudenken und der Sache durch
einen gegenseitigen Händedruck einen versöhnlichen Abschluß zu geben. Wenn auch
Sie meiner Ansicht sind, dann bitte –” und er trat an den Tisch des Aufsehers
hin und reichte ihm die Hand. Der Aufseher hob die Augen, nagte an den Lippen
und sah auf K.’s ausgestreckte Hand, noch immer glaubte K. der Aufseher werde
einschlagen. Dieser aber stand auf, nahm einen harten runden Hut, der auf
Fräulein Bürstners Bett lag und setzte sich ihn vorsichtig mit beiden Händen
auf, wie man es bei der Anprobe neuer Hüte tut. “Wie einfach Ihnen alles
scheint!” sagte er dabei zu K. “Wir sollten der Sache einen versöhnlichen
Abschluß geben, meinten Sie? Nein, nein, das geht wirklich nicht. Womit ich
andererseits durchaus nicht sagen will, daß Sie verzweifeln sollen. Nein, warum
denn? Sie sind nur verhaftet, nichts weiter. Das hatte ich Ihnen mitzuteilen,
habe es getan und habe auch gesehn, wie Sie es aufgenommen haben. Damit ist es
für heute genug und wir können uns verabschieden, allerdings nur vorläufig. Sie
werden wohl jetzt in die Bank gehn wollen?” “In die Bank?” fragte K. “Ich
dachte, ich wäre verhaftet.” K. fragte mit einem gewissen Trotz, denn obwohl
sein Handschlag nicht angenommen worden war, fühlte er sich insbesondere
seitdem der Aufseher aufgestanden war immer unabhängiger von allen diesen
Leuten. Er spielte mit ihnen. Er hatte die Absicht, falls sie weggehn sollten,
bis zum Haustor nachzulaufen und ihnen seine Verhaftung anzubieten. Darum
wiederholte er auch: “Wie kann ich denn in die Bank gehn, da ich verhaftet
bin?” “Ach so,” sagte der Aufseher, der schon bei der Tür war, “Sie haben mich
mißverstanden, Sie sind verhaftet, gewiß, aber das soll Sie nicht hindern Ihren
Beruf zu erfüllen. Sie sollen auch in Ihrer gewöhnlichen Lebensweise nicht
gehindert sein.” “Dann ist das Verhaftetsein nicht sehr schlimm,” sagte K. und
gieng nahe an den Aufseher heran. “Ich meinte es niemals anders,” sagte dieser.
“Es scheint aber dann nicht einmal die Mitteilung der Verhaftung sehr notwendig
gewesen zu sein,” sagte K. und gieng noch näher. Auch die andern hatten sich
genähert. Alle waren jetzt auf einem engen Raum bei der Tür versammelt. “Es war
meine Pflicht,” sagte der Aufseher. “Eine dumme Pflicht,” sagte K.
unnachgiebig. “Mag sein,” antwortete der Aufseher, “aber wir wollen mit solchen
Reden nicht unsere Zeit verlieren. Ich hatte angenommen, daß Sie in die Bank
gehn wollen. Da Sie auf alle Worte aufpassen, füge ich hinzu: ich zwinge Sie
nicht in die Bank zu gehn, ich hatte nur angenommen, daß Sie es wollen. Und um
Ihnen das zu erleichtern und Ihre Ankunft in der Bank möglichst unauffällig zu
machen, habe ich diese drei Herren Ihre Kollegen hier zu Ihrer Verfügung
gehalten.” “Wie?” rief K. und staunte die drei an. Diese so
uncharakteristischen blutarmen jungen Leute, die er immer noch nur als Gruppe
bei den Photographien in der Erinnerung hatte, waren tatsächlich Beamte aus
seiner Bank, nicht Kollegen, das war zu viel gesagt und bewies eine Lücke in
der Allwissenheit des Aufsehers, aber untergeordnete Beamte aus der Bank waren
es allerdings. Wie hatte K. das übersehen können? Wie hatte er doch hingenommen
sein müssen, von dem Aufseher und den Wächtern, um diese drei nicht zu
erkennen. Den steifen, die Hände schwingenden Rabensteiner, den blonden Kullich
mit den tiefliegenden Augen und Kaminer mit dem unausstehlichen durch eine
chronische Muskelzerrung bewirkten Lächeln. “Guten Morgen!” sagte K. nach einem
Weilchen und reichte den sich korrekt verbeugenden Herren die Hand. “Ich habe
Sie gar nicht erkannt. Nun werden wir also an die Arbeit gehn, nicht” Die
Herren nickten lachend und eifrig, als hätten sie die ganze Zeit über darauf
gewartet, nur als K. seinen Hut vermißte, der in seinem Zimmer liegen geblieben
war, liefen sie sämtlich hintereinander ihn holen, was immerhin auf eine
gewisse Verlegenheit schließen ließ. K. stand still und sah ihnen durch die
zwei offenen Türen nach, der letzte war natürlich der gleichgültige
Rabensteiner, der bloß einen eleganten Trab angeschlagen hatte. Kaminer
überreichte den Hut und K. mußte sich, wie dies übrigens auch öfters in der
Bank nötig war, ausdrücklich sagen, daß Kaminers Lächeln nicht Absicht war, ja
daß er überhaupt absichtlich nicht lächeln konnte. Im Vorzimmer öffnete dann
Frau Grubach, die gar nicht sehr schuldbewußt aussah, der ganzen Gesellschaft
die Wohnungstür und K. sah, wie so oft, auf ihr Schürzenband nieder, das so
unnötig tief in ihren mächtigen Leib einschnitt. Unten entschloß sich K., die
Uhr in der Hand, ein Automobil zu nehmen, um die schon halbstündige Verspätung
nicht unnötig zu vergrößern. Kaminer lief zur Ecke, um den Wagen zu holen, die
zwei andern versuchten offensichtlich K. zu zerstreuen, als plötzlich Kullich
auf das gegenüberliegende Haustor zeigte, in dem eben der Mann mit dem blonden
Spitzbart erschien und im ersten Augenblick ein wenig verlegen darüber, daß er
sich jetzt in seiner ganzen Größe zeigte, zur Wand zurücktrat und sich
anlehnte. Die Alten waren wohl noch auf der Treppe. K. ärgerte sich über
Kullich, daß dieser auf den Mann aufmerksam machte, den er selbst schon früher
gesehn, ja den er sogar erwartet hatte. “Schauen Sie nicht hin,” stieß er
hervor ohne zu bemerken, wie auffallend eine solche Redeweise gegenüber
selbständigen Männern war. Es war aber auch keine Erklärung nötig, denn gerade
kam das Automobil, man setzte sich und fuhr los. Da erinnerte sich K. daß er
das Weggehn des Aufsehers und der Wächter gar nicht bemerkt hatte, der Aufseher
hatte ihm die drei Beamten verdeckt und nun wieder die Beamten den Aufseher.
Viel Geistesgegenwart bewies das nicht und K. nahm sich vor, sich in dieser
Hinsicht genauer zu beobachten. Doch drehte er sich noch unwillkürlich um und
beugte sich über das Hinterdeck des Automobils vor, um möglicherweise den
Aufseher und die Wächter noch zu sehn. Aber gleich wendete er sich wieder
zurück ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben jemanden zu suchen, und
lehnte sich bequem in die Wagenecke. Trotzdem es nicht den Anschein hatte,
hätte er gerade jetzt Zuspruch nötig gehabt, aber nun schienen die Herren
ermüdet, Rabensteiner sah rechts aus dem Wagen, Kullych links und nur Kaminer
stand mit seinem Grinsen zur Verfügung, über das einen Spaß zu machen leider
die Menschlichkeit verbot.
Gespräch mit Frau Grubach / Dann Fräulein Bürstner
In
diesem Frühjahr pflegte K. die Abende in der Weise zu verbringen, daß er nach
der Arbeit wenn dies noch möglich war – er saß meistens bis neun Uhr im Bureau
– einen kleinen Spaziergang allein oder mit Bekannten machte und dann in eine
Bierstube gieng, wo er an einem Stammtisch mit meist ältern Herren gewöhnlich
bis elf Uhr beisammensaß. Es gab aber auch Ausnahmen von dieser Einteilung,
wenn K. z. B. vom Bankdirektor der seine Arbeitskraft und Vertrauenswürdigkeit
sehr schätzte zu einer Autofahrt oder zu einem Abendessen in seiner Villa
eingeladen wurde. Außerdem gieng K. einmal in der Woche zu einem Mädchen namens
Elsa, die während der Nacht bis in den späten Morgen als Kellnerin in einer
Weinstube bediente und während des Tages nur vom Bett aus Besuche empfieng.
An
diesem Abend aber – der Tag war unter angestrengter Arbeit und vielen ehrenden
und freundschaftlichen Geburtstagswünschen schnell verlaufen – wollte K. sofort
nachhause gehn. In allen kleinen Pausen der Tagesarbeit hatte er daran gedacht;
ohne genau zu wissen, was er meinte, schien es ihm, als ob durch die Vorfälle
des Morgens eine große Unordnung in der ganzen Wohnung der Frau Grubach
verursacht worden sei und daß gerade er nötig sei, um die Ordnung wieder
herzustellen. War aber einmal diese Ordnung hergestellt, dann war jede Spur
jener Vorfälle ausgelöscht und alles nahm seinen alten Gang wieder auf.
Insbesondere von den drei Beamten war nichts zu befürchten, sie waren wieder in
die große Beamtenschaft der Bank versenkt, es war keine Veränderung an ihnen zu
bemerken. K. hatte sie öfters einzeln und gemeinsam in sein Bureau berufen, zu
keinem andern Zweck als um sie zu beobachten; immer hatte er sie befriedigt
entlassen können.
Als
er um halb zehn Uhr abends vor dem Hause, in dem er wohnte ankam, traf er im
Haustor einen jungen Burschen, der dort breitbeinig stand und eine Pfeife
rauchte. “Wer sind Sie,” fragte K. sofort und brachte sein Gesicht nahe an den
Burschen, man sah nicht viel im Halbdunkel des Flurs. “Ich bin der Sohn des
Hausmeisters, gnädiger Herr,” antwortete der Bursche, nahm die Pfeife aus dem
Mund und trat zur Seite. “Der Sohn des Hausmeisters?” fragte K. und klopfte mit
seinem Stock ungeduldig den Boden. “Wünscht der gnädige Herr etwas? Soll ich
den Vater holen?” “Nein, nein,” sagte K., in seiner Stimme lag etwas
Verzeihendes, als habe der Bursche etwas Böses ausgeführt, er aber verzeihe
ihm. “Es ist gut,” sagte er dann und gieng weiter, aber ehe er die Treppe hinaufstieg,
drehte er sich noch einmal um.
Er
hätte geradewegs in sein Zimmer gehen können, aber da er mit Frau Grubach
sprechen wollte, klopfte er gleich an ihre Türe an. Sie saß mit einem
Strickstrumpf am Tisch, auf dem noch ein Haufen alter Strümpfe lag. K.
entschuldigte sich zerstreut, daß er so spät komme, aber Frau Grubach war sehr
freundlich und wollte keine Entschuldigung hören: für ihn sei sie immer zu
sprechen, er wisse sehr gut, daß er ihr bester und liebster Mieter sei. K. sah
sich im Zimmer um, es war wieder vollkommen in seinem alten Zustand, das
Frühstücksgeschirr, das früh auf dem Tischchen beim Fenster gestanden hatte,
war auch schon weggeräumt. Frauenhände bringen doch im Stillen viel fertig,
dachte er, er hätte das Geschirr vielleicht auf der Stelle zerschlagen, aber
gewiß nicht hinaustragen können. Er sah Frau Grubach mit einer gewissen
Dankbarkeit an. “Warum arbeiten Sie noch so spät,” fragte er. Sie saßen nun
beide am Tisch und K. vergrub von Zeit zu Zeit eine Hand in die Strümpfe. “Es gibt
viel Arbeit,” sagte sie, “während des Tages gehöre ich den Mietern; wenn ich
meine Sachen in Ordnung bringen will, bleiben mir nur die Abende.” “Ich habe
Ihnen heute wohl noch eine außergewöhnliche Arbeit gemacht.” “Wieso denn,”
fragte sie etwas eifriger werdend, die Arbeit ruhte in ihrem Schooß. “Ich meine
die Männer, die heute früh hier waren.” “Ach so,” sagte sie und kehrte wieder
in ihre Ruhe zurück, “das hat mir keine besondere Arbeit gemacht.” K. sah
schweigend zu, wie sie den Strickstrumpf wieder vornahm. “Sie scheint sich zu
wundern, daß ich davon spreche,” dachte er, “sie scheint es nicht für richtig
zu halten daß ich davon spreche. Desto wichtiger ist es daß ich es tue. Nur mit
einer alten Frau kann ich davon sprechen.” “Doch, Arbeit hat es gewiß gemacht,”
sagte er dann, “aber es wird nicht wieder vorkommen.” “Nein, das kann nicht
wieder vorkommen,” sagte sie bekräftigend und lächelte K. fast wehmütig an.
“Meinen Sie das ernstlich?” fragte K. “Ja,” sagte sie leiser, “aber vor allem
dürfen Sie es nicht zu schwer nehmen. Was geschieht nicht alles in der Welt! Da
Sie so vertraulich mit mir reden Herr K., kann ich Ihnen ja eingestehn, daß ich
ein wenig hinter der Tür gehorcht habe und daß mir auch die beiden Wächter
einiges erzählt haben. Es handelt sich ja um Ihr Glück und das liegt mir
wirklich am Herzen, mehr als mir vielleicht zusteht, denn ich bin ja bloß die
Vermieterin. Nun, ich habe also einiges gehört, aber ich kann nicht sagen, daß
es etwas besonders Schlimmes war. Nein. Sie sind zwar verhaftet, aber nicht so
wie ein Dieb verhaftet wird. Wenn man wie ein Dieb verhaftet wird, so ist es
schlimm, aber diese Verhaftung – . Es kommt mir wie etwas Gelehrtes vor,
entschuldigen Sie wenn ich etwas Dummes sage, es kommt mir wie etwas Gelehrtes
vor, das ich zwar nicht verstehe, das man aber auch nicht verstehen muß.”
“Es
ist gar nichts Dummes, was Sie gesagt haben Frau Grubach, wenigstens bin auch
ich zum Teil Ihrer Meinung, nur urteile ich über das ganze noch schärfer als
Sie, und halte es einfach nicht einmal für etwas Gelehrtes sondern überhaupt
für nichts. Ich wurde überrumpelt, das war es. Wäre ich gleich nach dem
Erwachen, ohne mich durch das Ausbleiben der Anna beirren zu lassen, gleich
aufgestanden und ohne Rücksicht auf irgendjemand, der mir in den Weg getreten
wäre, zu Ihnen gegangen, hätte ich diesmal ausnahmsweise etwa in der Küche
gefrühstückt, hätte mir von Ihnen die Kleidungsstücke aus meinem Zimmer bringen
lassen, kurz hätte ich vernünftig gehandelt, es wäre nichts weiter geschehn, es
wäre alles, was werden wollte, erstickt worden. Man ist aber so wenig
vorbereitet. In der Bank z. B. bin ich vorbereitet, dort könnte mir etwas
derartiges unmöglich geschehn, ich habe dort einen eigenen Diener, das
allgemeine Telephon und das Bureautelephon stehn vor mir auf dem Tisch,
immerfort kommen Leute, Parteien und Beamte; außerdem aber und vor allem bin
ich dort immerfort im Zusammenhang der Arbeit, daher geistesgegenwärtig, es
würde mir geradezu ein Vergnügen machen dort einer solchen Sache gegenübergestellt
zu werden. Nun es ist vorüber und ich wollte eigentlich auch gar nicht mehr
darüber sprechen, nur Ihr Urteil, das Urteil einer vernünftigen Frau wollte ich
hören und bin sehr froh, daß wir darin übereinstimmen. Nun müssen Sie mir aber
die Hand reichen, eine solche Übereinstimmung muß durch Handschlag bekräftigt
werden.”
Ob
sie mir die Hand reichen wird? Der Aufseher hat mir die Hand nicht gereicht,
dachte er und sah die Frau anders als früher, prüfend an. Sie stand auf weil
auch er aufgestanden war, sie war ein wenig befangen, weil ihr nicht alles was
K. gesagt hatte verständlich gewesen war. Infolge dieser Befangenheit sagte sie
aber etwas, was sie gar nicht wollte und was auch gar nicht am Platze war:
“Nehmen Sie es doch nicht so schwer, Herr K.,” sagte sie, hatte Tränen in der
Stimme und vergaß natürlich auch an den Handschlag. “Ich wüßte nicht, daß ich
es schwer nehme,” sagte K. plötzlich ermüdet und das Wertlose aller
Zustimmungen dieser Frau einsehend.
Bei
der Tür fragte er noch: “Ist Fräulein Bürstner zuhause?” “Nein,” sagte Frau
Grubach und lächelte bei dieser trockenen Auskunft mit einer verspäteten
vernünftigen Teilnahme. “Sie ist im Teater. Wollten Sie etwas von ihr? Soll ich
ihr etwas ausrichten?” “Ach, ich wollte nur paar Worte mit ihr reden.” “Ich
weiß leider nicht, wann sie kommt; wenn sie im Teater ist, kommt sie gewöhnlich
spät.” “Das ist ja ganz gleichgültig,” sagte K. und drehte schon den gesenkten
Kopf der Tür zu, um wegzugehn, “ich wollte mich nur bei ihr entschuldigen, daß
ich heute ihr Zimmer in Anspruch genommen habe.” “Das ist nicht nötig, Herr K.,
Sie sind zu rücksichtsvoll, das Fräulein weiß ja von gar nichts, sie war seit
dem frühen Morgen noch nicht zuhause, es ist auch schon alles in Ordnung
gebracht, sehen Sie selbst.” Und sie öffnete die Tür zu Fräulein Bürstners
Zimmer. “Danke, ich glaube es,” sagte K., gieng dann aber doch zu der offenen
Tür. Der Mond schien still in das dunkle Zimmer. Soviel man sehen konnte war
wirklich alles an seinem Platz, auch die Bluse hieng nicht mehr an der
Fensterklinke. Auffallend hoch schienen die Pölster im Bett, sie lagen zum Teil
im Mondlicht. “Das Fräulein kommt oft spät nachhause,” sagte K. und sah Frau
Grubach an, als trage sie die Verantwortung dafür. “Wie eben junge Leute sind!”
sagte Frau Grubach entschuldigend. “Gewiß, gewiß,” sagte K., “es kann aber zu
weit gehn.” “Das kann es,” sagte Frau Grubach, “wie sehr haben Sie recht Herr
K. Vielleicht sogar in diesem Fall. Ich will Fräulein Bürstner gewiß nicht
verleumden, sie ist ein gutes liebes Mädchen, freundlich, ordentlich,
pünktlich, arbeitsam, ich schätze das alles sehr, aber eines ist wahr, sie
sollte stolzer, zurückhaltender sein. Ich habe sie in diesem Monat schon
zweimal in entlegenen Straßen immer mit einem andern Herrn gesehn. Es ist mir
sehr peinlich, ich erzähle es beim wahrhaftigen Gott nur Ihnen Herr K., aber es
wird sich nicht vermeiden lassen, daß ich auch mit dem Fräulein selbst darüber
spreche. Es ist übrigens nicht das einzige, das sie mir verdächtig macht.” “Sie
sind auf ganz falschem Weg,” sagte K., wütend und fast unfähig es zu verbergen,
“übrigens haben Sie offenbar auch meine Bemerkung über das Fräulein
mißverstanden, so war es nicht gemeint. Ich warne Sie sogar aufrichtig, dem Fräulein
irgendetwas zu sagen, Sie sind durchaus im Irrtum, ich kenne das Fräulein sehr
gut, es ist nichts davon wahr was Sie sagten. Übrigens vielleicht gehe ich zu
weit, ich will Sie nicht hindern, sagen Sie ihr, was Sie wollen. Gute Nacht.”
“Herr K.,” sagte Frau Grubach bittend und eilte K. bis zu seiner Tür nach, die
er schon geöffnet hatte, “ich will ja noch gar nicht mit dem Fräulein reden,
natürlich will ich sie vorher noch weiter beobachten, nur Ihnen habe ich
anvertraut was ich wußte. Schließlich muß es doch im Sinne jedes Mieters sein,
wenn man die Pension rein zu erhalten sucht und nichts anderes ist mein
Bestreben dabei.” “Die Reinheit!” rief K. noch durch die Spalte der Tür, “wenn
Sie die Pension rein erhalten wollen, müssen Sie zuerst mir kündigen.” Dann
schlug er die Tür zu, ein leises Klopfen beachtete er nicht mehr.
Dagegen
beschloß er, da er gar keine Lust zum Schlafen hatte, noch wachzubleiben und
bei dieser Gelegenheit auch festzustellen wann Fräulein Bürstner kommen würde.
Vielleicht wäre es dann auch möglich, so unpassend es sein mochte, noch paar
Worte mit ihr zu reden. Als er im Fenster lag und die müden Augen drückte,
dachte er einen Augenblick sogar daran, Frau Grubach zu bestrafen und Fräulein
Bürstner zu überreden, gemeinsam mit ihm zu kündigen. Sofort aber erschien ihm
das entsetzlich übertrieben und er hatte sogar den Verdacht gegen sich, daß er
darauf ausgieng, die Wohnung wegen der Vorfälle am Morgen zu wechseln. Nichts
wäre unsinniger und vor allem zweckloser und verächtlicher gewesen.
Als
er des Hinausschauens auf die leere Straße überdrüssig geworden war, legte er
sich auf das Kanapee, nachdem er die Tür zum Vorzimmer ein wenig geöffnet
hatte, um jeden der die Wohnung betrat, gleich vom Kanapee aus sehn zu können.
Etwa bis elf Uhr lag er ruhig eine Cigarre rauchend auf dem Kanapee. Von da ab
hielt er es aber nicht mehr dort aus, sondern gieng ein wenig ins Vorzimmer,
als könne er dadurch die Ankunft des Fräulein Bürstner beschleunigen. Er hatte
kein besonderes Verlangen nach ihr, er konnte sich nicht einmal genau erinnern,
wie sie aussah, aber nun wollte er mit ihr reden und es reizte ihn, daß sie
durch ihr spätes Kommen auch noch in den Abschluß dieses Tages Unruhe und
Unordnung brachte. Sie war auch schuld daran, daß er heute nicht zu abend
gegessen und daß er den für heute beabsichtigten Besuch bei Elsa unterlassen
hatte. Beides konnte er allerdings noch dadurch nachholen, daß er jetzt in das
Weinlokal gieng, in dem Elsa bedienstet war. Er wollte es auch noch später nach
der Unterredung mit Fräulein Bürstner tun.
Es
war halb zwölf vorüber, als jemand im Treppenhaus zu hören war. K., der seinen
Gedanken hingegeben im Vorzimmer, so als wäre es sein eigenes Zimmer, laut auf
und abgieng, flüchtete hinter seine Tür. Es war Fräulein Bürstner, die gekommen
war. Fröstelnd zog sie, während sie die Tür versperrte, einen seidenen Shawl um
ihre schmalen Schultern zusammen. Im nächsten Augenblick mußte sie in ihr
Zimmer gehn, in das K. gewiß um Mitternacht nicht eindringen durfte; er mußte
sie also jetzt ansprechen, hatte aber unglücklicherweise versäumt, das
elektrische Licht in seinem Zimmer anzudrehn, so daß sein Vortreten aus dem
dunklen Zimmer den Anschein eines Überfalls hatte und wenigstens sehr
erschrecken mußte. In seiner Hilflosigkeit und da keine Zeit zu verlieren war,
flüsterte er durch den Türspalt: “Fräulein Bürstner.” Es klang wie eine Bitte,
nicht wie ein Anruf. “Ist jemand hier,” fragte Fräulein Bürstner und sah sich
mit großen Augen um. “Ich bin es,” sagte K. und trat vor. “Ach Herr K.!” sagte
Fräulein Bürstner lächelnd, “Guten Abend” und sie reichte ihm die Hand. “Ich
wollte ein paar Worte mit Ihnen sprechen, wollen Sie mir das jetzt erlauben?”
“Jetzt?” fragte Fräulein Bürstner, “muß es jetzt sein? Es ist ein wenig
sonderbar, nicht?” “Ich warte seit neun Uhr auf Sie.” “Nun ja, ich war im
Teater, ich wußte doch nichts von Ihnen.” “Der Anlaß für das was ich Ihnen
sagen will hat sich erst heute ergeben.” “So, nun ich habe ja nichts
grundsätzliches dagegen, außer daß ich zum Hinfallen müde bin. Also kommen Sie
auf paar Minuten in mein Zimmer. Hier können wir uns auf keinen Fall
unterhalten, wir wecken ja alle und das wäre mir unseretwegen noch unangenehmer
als der Leute wegen. Warten Sie hier, bis ich in meinem Zimmer angezündet habe,
und drehn Sie dann hier das Licht ab.” K. tat so, wartete dann aber noch, bis
Fräulein Bürstner ihn aus ihrem Zimmer nochmals leise aufforderte zu kommen.
“Setzen Sie sich,” sagte sie und zeigte auf die Ottomane, sie selbst blieb
aufrecht am Bettpfosten trotz der Müdigkeit, von der sie gesprochen hatte;
nicht einmal ihren kleinen, aber mit einer Überfülle von Blumen geschmückten
Hut legte sie ab. “Was wollten Sie also Ich bin wirklich neugierig.” Sie
kreuzte leicht die Beine. “Sie werden vielleicht sagen,” begann K., “daß die
Sache nicht so dringend war, um jetzt besprochen zu werden, aber –”
“Einleitungen überhöre ich immer,” sagte Fräulein Bürstner. “Das erleichtert
meine Aufgabe,” sagte K. “Ihr Zimmer ist heute früh, gewissermaßen durch meine
Schuld, ein wenig in Unordnung gebracht worden, es geschah durch fremde Leute
gegen meinen Willen und doch wie gesagt durch meine Schuld; dafür wollte ich um
Entschuldigung bitten.” “Mein Zimmer?” fragte Fräulein Bürstner und sah statt
des Zimmers, K. prüfend an. “Es ist so,” sagte K. und nun sahen sich beide zum
erstenmal in die Augen, “die Art und Weise in der es geschah, ist an sich
keines Wortes wert.” “Aber doch das eigentlich Interessante,” sagte Fräulein
Bürstner. “Nein,” sagte K. “Nun,” sagte Fräulein Bürstner, “ich will mich nicht
in Geheimnisse eindrängen, bestehen Sie darauf, daß es uninteressant ist, so
will ich auch nichts dagegen einwenden. Die Entschuldigung um die Sie bitten
gebe ich Ihnen hiemit gern, besonders da ich keine Spur einer Unordnung finden kann.”
Sie machte, die flachen Hände tief an die Hüften gelegt, einen Rundgang durch
das Zimmer. Bei der Matte mit den Photographien blieb sie stehn. “Sehn Sie
doch,” rief sie, “meine Photographien sind wirklich durcheinandergeworfen. Das
ist aber häßlich. Es ist also jemand unberechtigter Weise in meinem Zimmer
gewesen.” K. nickte und verfluchte im stillen den Beamten Kaminer, der seine
öde sinnlose Lebhaftigkeit niemals zähmen konnte. “Es ist sonderbar,” sagte
Fräulein Bürstner, “daß ich gezwungen bin, Ihnen etwas zu verbieten was Sie
sich selbst verbieten müßten, nämlich in meiner Abwesenheit mein Zimmer zu
betreten.” “Ich erklärte Ihnen doch Fräulein,” sagte K. und gieng auch zu den
Photographien, “daß nicht ich es war, der sich an Ihren Photographien vergangen
hat; aber da Sie mir nicht glauben, so muß ich also eingestehn, daß die
Untersuchungskommission drei Bankbeamte mitgebracht hat, von denen der eine,
den ich bei nächster Gelegenheit aus der Bank hinausbefördern werde, die
Photographien wahrscheinlich in die Hand genommen hat.” “Ja es war eine
Untersuchungskommission hier,” fügte K. hinzu, da ihn das Fräulein mit einem
fragenden Blick ansah. “Ihretwegen?” fragte das Fräulein. “Ja,” antwortete K.
“Nein,” rief das Fräulein und lachte. “Doch,” sagte K., “glauben Sie denn daß
ich schuldlos bin?” “Nun schuldlos…,” sagte das Fräulein, “ich will nicht
gleich ein vielleicht folgenschweres Urteil aussprechen, auch kenne ich Sie
doch nicht, immerhin, es muß doch schon ein schwerer Verbrecher sein, dem man gleich
eine Untersuchungskommission auf den Leib schickt. Da Sie aber doch frei sind –
ich schließe wenigstens aus Ihrer Ruhe, daß Sie nicht aus dem Gefängnis
entlaufen sind – so können Sie doch kein solches Verbrechen begangen haben.”
“Ja,” sagte K., “aber die Untersuchungskommission kann doch eingesehen haben,
daß ich unschuldig bin oder doch nicht so schuldig wie angenommen wurde.”
“Gewiß, das kann sein,” sagte Fräulein Bürstner sehr aufmerksam. “Sehn Sie,”
sagte K., “Sie haben nicht viel Erfahrung in Gerichtssachen.” “Nein das habe
ich nicht,” sagte Fräulein Bürstner, “und habe es auch schon oft bedauert, denn
ich möchte alles wissen und gerade Gerichtssachen interessieren mich ungemein.
Das Gericht hat eine eigentümliche Anziehungskraft, nicht Aber ich werde in
dieser Richtung meine Kenntnisse sicher vervollständigen, denn ich trete
nächsten Monat als Kanzleikraft in ein Advokatenbureau ein.” “Das ist sehr
gut,” sagte K., “Sie werden mir dann in meinem Proceß ein wenig helfen können.”
“Das könnte sein,” sagte Fräulein Bürstner, “warum denn nicht Ich verwende gern
meine Kenntnisse.” “Ich meine es auch im Ernst,” sagte K., “oder zumindest in
dem halben Ernst, in dem Sie es meinen. Um einen Advokaten heranzuziehn, dazu
ist die Sache doch zu kleinlich, aber einen Ratgeber könnte ich gut brauchen.”
“Ja, aber wenn ich Ratgeber sein soll, müßte ich wissen, um was es sich
handelt,” sagte Fräulein Bürstner. “Das ist eben der Haken,” sagte K., “das
weiß ich selbst nicht.” “Dann haben Sie sich also einen Spaß aus mir gemacht,”
sagte Fräulein Bürstner übermäßig enttäuscht, “es war höchst unnötig sich diese
späte Nachtzeit dazu auszusuchen.” Und sie gieng von den Photographien weg, wo
sie so lang vereinigt gestanden waren. “Aber nein Fräulein,” sagte K., “ich
mache keinen Spaß. Daß Sie mir nicht glauben wollen! Was ich weiß habe ich
Ihnen schon gesagt. Sogar mehr als ich weiß, denn es war gar keine
Untersuchungskommission, ich nenne es so weil ich keinen andern Namen dafür
weiß. Es wurde gar nichts untersucht, ich wurde nur verhaftet, aber von einer
Kommission.” Fräulein Bürstner saß auf der Ottomane und lachte wieder: “Wie war
es denn?” fragte sie. “Schrecklich,” sagte K. aber er dachte jetzt gar nicht
daran, sondern war ganz vom Anblick des Fräulein Bürstner ergriffen, die das
Gesicht auf eine Hand stützte – der Elbogen ruhte auf dem Kissen der Ottomane –
während die andere Hand langsam die Hüfte strich. “Das ist zu allgemein,” sagte
Fräulein Bürstner. “Was ist zu allgemein?” fragte K. Dann erinnerte er sich und
fragte: “Soll ich Ihnen zeigen, wie es gewesen ist” Er wollte Bewegung machen
und doch nicht weggehn. “Ich bin schon müde,” sagte Fräulein Bürstner. “Sie
kamen so spät,” sagte K. “Nun endet es damit, daß ich Vorwürfe bekomme, es ist
auch berechtigt, denn ich hätte Sie nicht mehr hereinlassen sollen. Notwendig
war es ja auch nicht, wie sich gezeigt hat.” “Es war notwendig, das werden Sie
erst jetzt sehn,” sagte K. “Darf ich das Nachttischchen von Ihrem Bett
herrücken?” “Was fällt Ihnen ein?” sagte Fräulein Bürstner, “das dürfen Sie
natürlich nicht!” “Dann kann ich es Ihnen nicht zeigen,” sagte K. aufgeregt,
als füge man ihm dadurch einen unermeßlichen Schaden zu. “Ja wenn Sie es zur
Darstellung brauchen, dann rücken Sie das Tischchen nur ruhig fort,” sagte
Fräulein Bürstner und fügte nach einem Weilchen mit schwächerer Stimme hinzu:
“Ich bin so müde, daß ich mehr erlaube, als gut ist.” K. stellte das Tischchen
in die Mitte des Zimmers und setzte sich dahinter. “Sie müssen sich die
Verteilung der Personen richtig vorstellen, es ist sehr interessant. Ich bin
der Aufseher, dort auf dem Koffer sitzen zwei Wächter, bei den Photographien
stehn drei junge Leute. An der Fensterklinke hängt, was ich nur nebenbei
erwähne, eine weiße Bluse. Und jetzt fängt es an. Ja, ich vergesse mich, die
wichtigste Person, also ich stehe hier vor dem Tischchen. Der Aufseher sitzt
äußerst bequem, die Beine übereinandergelegt, den Arm hier über die Lehne
hinunterhängend, ein Lümmel sondergleichen. Und jetzt fängt es also wirklich
an. Der Aufseher ruft als ob er mich wecken müßte, er schreit geradezu, ich muß
leider, wenn ich es Ihnen begreiflich machen will, auch schreien, es ist
übrigens nur mein Name, den er so schreit.” Fräulein Bürstner die lachend
zuhörte legte den Zeigefinger an den Mund, um K. am Schreien zu hindern, aber
es war zu spät, K. war zu sehr in der Rolle, er rief langsam “Josef K.!”,
übrigens nicht so laut wie er gedroht hatte, aber doch so daß sich der Ruf,
nachdem er plötzlich ausgestoßen war, erst allmählich im Zimmer zu verbreiten
schien.
Da
klopfte es an die Tür des Nebenzimmers einigemal, stark, kurz und regelmäßig.
Fräulein Bürstner erbleichte und legte die Hand aufs Herz. K. erschrak deshalb
besonders stark, weil er noch ein Weilchen ganz unfähig gewesen war, an etwas
anderes zu denken, als an die Vorfälle des Morgens und an das Mädchen, dem er
sie vorführte. Kaum hatte er sich gefaßt sprang er zu Fräulein Bürstner und
nahm ihre Hand. “Fürchten Sie nichts,” flüsterte er, “ich werde alles in
Ordnung bringen. Wer kann es aber sein? Hier nebenan ist doch nur das
Wohnzimmer, in dem niemand schläft.” “Doch,” flüsterte Fräulein Bürstner an
K.’s Ohr, “seit gestern schläft hier ein Neffe von Frau Grubach, ein Hauptmann.
Es ist gerade kein anderes Zimmer frei. Auch ich habe daran vergessen. Daß Sie
so schreien mußten! Ich bin unglücklich darüber.” “Dafür ist gar kein Grund,”
sagte K. und küßte, als sie jetzt auf das Kissen zurücksank, ihre Stirn. “Weg,
weg,” sagte sie und richtete sich eilig wieder auf, “gehn Sie doch, gehn Sie
doch. Was wollen Sie, er horcht doch an der Tür, er hört doch alles. Wie Sie
mich quälen!” “Ich gehe nicht früher,” sagte K., “bis Sie ein wenig beruhigt
sind. Kommen Sie in die andere Ecke des Zimmers, dort kann er uns nicht hören.”
Sie ließ sich dorthin führen. “Sie überlegen nicht,” sagte er, “daß es sich
zwar um eine Unannehmlichkeit für Sie handelt, aber durchaus nicht um eine
Gefahr. Sie wissen wie mich Frau Grubach, die in dieser Sache doch entscheidet,
besonders da der Hauptmann ihr Neffe ist, geradezu verehrt und alles was ich
sage unbedingt glaubt. Sie ist auch im übrigen von mir abhängig, denn sie hat
eine größere Summe von mir geliehn. Jeden Ihrer Vorschläge über eine Erklärung
für unser Beisammen nehme ich an, wenn er nur ein wenig zweckentsprechend ist und
verbürge mich Frau Grubach dazu zu bringen, die Erklärung nicht nur vor der
Öffentlichkeit, sondern wirklich und aufrichtig zu glauben. Mich müssen Sie
dabei in keiner Weise schonen. Wollen Sie verbreitet haben, daß ich Sie
überfallen hat, so wird Frau Grubach in diesem Sinne unterrichtet werden und
wird es glauben, ohne das Vertrauen zu mir zu verlieren, so sehr hängt sie an
mir.” Fräulein Bürstner sah still und ein wenig zusammengesunken vor sich auf
den Boden. “Warum sollte Frau Grubach nicht glauben, daß ich Sie überfallen
habe,” fügte K. hinzu. Vor sich sah er ihr Haar, geteiltes, niedrig
gebauschtes, fest zusammengehaltenes rötliches Haar. Er glaubte sie werde ihm
den Blick zuwenden, aber sie sagte in unveränderter Haltung: “Verzeihen Sie,
ich bin durch das plötzliche Klopfen so erschreckt worden, nicht so sehr durch
die Folgen, die die Anwesenheit des Hauptmanns haben könnte. Es war so still
nach Ihrem Schrei und da klopfte es, deshalb bin ich so erschrocken, ich saß
auch in der Nähe der Tür, es klopfte fast neben mir. Für Ihre Vorschläge danke
ich, aber ich nehme sie nicht an. Ich kann für alles, was in meinem Zimmer
geschieht die Verantwortung tragen undzwar gegenüber jedem. Ich wundere mich,
daß Sie nicht merken, was für eine Beleidigung für mich in Ihren Vorschlägen
liegt, neben den guten Absichten natürlich, die ich gewiß anerkenne. Aber nun
gehn Sie, lassen Sie mich allein, ich habe es jetzt noch nötiger als früher.
Aus den paar Minuten, um die Sie gebeten haben, ist nun eine halbe Stunde und mehr
geworden.” K. faßte sie bei der Hand und dann beim Handgelenk: “Sie sind mir
aber nicht böse?” sagte er. Sie streifte seine Hand ab und antwortete: “Nein,
nein, ich bin niemals und niemandem böse.” Er faßte wieder nach ihrem
Handgelenk, sie duldete es jetzt und führte ihn so zur Tür. Er war fest
entschlossen wegzugehn. Aber vor der Tür, als hätte er nicht erwartet, hier
eine Tür zu finden, stockte er, diesen Augenblick benützte Fräulein Bürstner
sich loszumachen, die Tür zu öffnen, ins Vorzimmer zu schlüpfen und von dort
aus K. leise zu sagen: “Nun kommen Sie doch, bitte. Sehn Sie” – sie zeigte auf
die Tür des Hauptmanns, unter der ein Lichtschein hervorkam – “er hat
angezündet und unterhält sich über uns.” “Ich komme schon,” sagte K., lief vor,
faßte sie, küßte sie auf den Mund und dann über das ganze Gesicht, wie ein
durstiges Tier mit der Zunge über das endlich gefundene Quellwasser hinjagt.
Schließlich küßte er sie auf den Hals, wo die Gurgel ist, und dort ließ er die
Lippen lange liegen. Ein Geräusch aus dem Zimmer des Hauptmanns ließ ihn
aufschauen. “Jetzt werde ich gehn,” sagte er, er wollte Fräulein Bürstner beim
Taufnamen nennen, wußte ihn aber nicht. Sie nickte müde, überließ ihm schon
halb abgewendet die Hand zum Küssen, als wisse sie nichts davon und gieng
gebückt in ihr Zimmer. Kurz darauf lag K. in seinem Bett. Er schlief sehr bald
ein, vor dem Einschlafen dachte er noch ein Weilchen über sein Verhalten nach,
er war damit zufrieden, wunderte sich aber, daß er nicht noch zufriedener war;
wegen des Hauptmanns machte er sich für Fräulein Bürstner ernstliche Sorgen.
Erste Untersuchung
K.
war telephonisch verständigt worden, daß am nächsten Sonntag eine kleine
Untersuchung in seiner Angelegenheit stattfinden würde. Man machte ihn darauf
aufmerksam, daß diese Untersuchungen nun regelmäßig, wenn auch vielleicht nicht
jede Woche so doch häufiger einander folgen würden. Es liege einerseits im
allgemeinen Interesse, den Proceß rasch zu Ende zu führen, anderseits aber
müssen die Untersuchungen in jeder Hinsicht gründlich sein und doch wegen der
damit verbundenen Anstrengung niemals allzulange dauern. Deshalb habe man den
Ausweg dieser rasch aufeinanderfolgenden aber kurzen Untersuchungen gewählt.
Die Bestimmung des Sonntags als Untersuchungstag habe man deshalb vorgenommen,
um K. in seiner beruflichen Arbeit nicht zu stören. Man setze voraus, daß er
damit einverstanden sei, sollte er einen andern Termin wünschen, so würde man
ihm so gut es gienge entgegenkommen. Die Untersuchungen wären beispielsweise
auch in der Nacht möglich, aber da sei wohl K. nicht genug frisch. Jedenfalls
werde man es, solange K. nichts einwende, beim Sonntag belassen. Es sei
selbstverständlich, daß er bestimmt erscheinen müsse, darauf müsse man ihn wohl
nicht erst aufmerksam machen. Es wurde ihm die Nummer des Hauses genannt, in
dem er sich einfinden solle, es war ein Haus in einer entlegenen
Vorstadtstraße, in der K. noch niemals gewesen war.
K.
hängte, als er diese Meldung erhalten hatte, ohne zu antworten, den Hörer an;
er war gleich entschlossen, Sonntag zu gehn, es war gewiß notwendig, der Proceß
kam in Gang und er mußte sich dem entgegenstellen, diese erste Untersuchung
sollte auch die letzte sein. Er stand noch nachdenklich beim Apparat, da hörte
er hinter sich die Stimme des Direktor-Stellvertreters, der telephonieren
wollte, dem aber K. den Weg verstellte. “Schlechte Nachrichten” fragte der
Direktor-Stellvertreter leichthin, nicht um etwas zu erfahren, sondern um K.
vom Apparat wegzubringen. “Nein, nein,” sagte K., trat beiseite, gieng aber
nicht weg. Der Direktor-Stellvertreter nahm den Hörer und sagte, während er auf
die telephonische Verbindung wartete, über das Hörrohr hinweg: “Eine Frage,
Herr K.? Möchten Sie mir Sonntag früh das Vergnügen machen, eine Partie auf
meinem Segelboot mitzumachen? Es wird eine größere Gesellschaft sein, gewiß
auch Ihre Bekannten darunter. Unter anderem Staatsanwalt Hasterer. Wollen Sie
kommen? Kommen Sie doch!” K. versuchte darauf achtzugeben, was der
Direktor-Stellvertreter sagte. Es war nicht unwichtig für ihn, denn diese
Einladung des Direktor-Stellvertreters, mit dem er sich niemals sehr gut
vertragen hatte, bedeutete einen Versöhnungsversuch von dessen Seite und
zeigte, wie wichtig K. in der Bank geworden war und wie wertvoll seine
Freundschaft oder wenigstens seine Unparteilichkeit dem zweithöchsten Beamten
der Bank erschien. Diese Einladung war eine Demütigung des
Direktor-Stellvertreters, mochte sie auch nur in Erwartung der telephonischen
Verbindung über das Hörrohr hinweg gesagt sein. Aber K. mußte eine zweite
Demütigung folgen lassen, er sagte: “Vielen Dank! Aber ich habe leider Sonntag
keine Zeit, ich habe schon eine Verpflichtung.” “Schade,” sagte der
Direktor-Stellvertreter und wandte sich dem telephonischen Gespräch zu, das
gerade hergestellt worden war. Es war kein kurzes Gespräch, aber K. blieb in
seiner Zerstreutheit die ganze Zeit über neben dem Apparat stehn. Erst als der
Direktor-Stellvertreter abläutete, erschrak er und sagte, um sein unnützes
Dastehn nur ein wenig zu entschuldigen: “Ich bin jetzt antelephoniert worden,
ich möchte irgendwo hinkommen, aber man hat vergessen, mir zu sagen zu welcher
Stunde.” “Fragen Sie doch noch einmal nach,” sagte der Direktor-Stellvertreter.
“Es ist nicht so wichtig,” sagte K., trotzdem dadurch seine frühere schon an
sich mangelhafte Entschuldigung noch weiter zerfiel. Der
Direktor-Stellvertreter sprach noch im Weggehn über andere Dinge, K. zwang sich
auch zu antworten, dachte aber hauptsächlich daran, daß es am besten sein
werde, Sonntag um neun Uhr vormittag hinzukommen, da zu dieser Stunde an
Werketagen alle Gerichte zu arbeiten anfangen.
Sonntag
war trübes Wetter, K. war sehr ermüdet, da er wegen einer
Stammtischfeierlichkeit bis spät in die Nacht im Gasthaus geblieben war, er
hätte fast verschlafen. Eilig, ohne Zeit zu haben, zu überlegen und die
verschiedenen Pläne, die er während der Woche ausgedacht hatte,
zusammenzustellen, kleidete er sich an und lief, ohne zu frühstücken in die ihm
bezeichnete Vorstadt. Eigentümlicher Weise traf er, trotzdem er wenig Zeit
hatte umherzublicken, die drei an seiner Angelegenheit beteiligten Beamten,
Rabensteiner, Kullych und Kaminer. Die ersternzwei fuhren in einer Elektrischen
quer über K.’s Weg, Kaminer aber saß auf der Terasse eines Kafeehauses und
beugte sich gerade als K. vorüberkam, neugierig über die Brüstung. Alle sahen
ihm wohl nach und wunderten sich, wie ihr Vorgesetzter lief; es war irgendein
Trotz, der K. davon abgehalten hatte zu fahren, er hatte Abscheu vor jeder,
selbst der geringsten fremden Hilfe in dieser seiner Sache, auch wollte er
niemanden in Anspruch nehmen und dadurch selbst nur im allerentferntesten
einweihen, schließlich hatte er aber auch nicht die geringste Lust sich durch
allzugroße Pünktlichkeit vor der Untersuchungskommission zu erniedrigen.
Allerdings lief er jetzt, um nur möglichst um neun Uhr einzutreffen, trotzdem
er nicht einmal für eine bestimmte Stunde bestellt war.
Er
hatte gedacht das Haus schon von der Ferne an irgendeinem Zeichen, das er sich
selbst nicht genau vorgestellt hatte, oder an einer besondern Bewegung vor dem
Eingang schon von weitem zu erkennen. Aber die Juliusstraße, in der es sein
sollte und an deren Beginn K. einen Augenblick lang stehen blieb, enthielt auf
beiden Seiten fast ganz einförmige Häuser, hohe graue von armen Leuten bewohnte
Miethäuser. Jetzt am Sonntagmorgen waren die meisten Fenster besetzt, Männer in
Hemdärmeln lehnten dort und rauchten oder hielten kleine Kinder vorsichtig und
zärtlich an den Fensterrand. Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefüllt,
über dem flüchtig der zerraufte Kopf einer Frau erschien. Man rief einander
über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte gerade über K. ein großes
Gelächter. Regelmäßig verteilt befanden sich in der langen Straße kleine unter
dem Straßenniveau liegende, durch paar Treppen erreichbare Läden mit
verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und ein oder standen auf
den Stufen und plauderten. Ein Obsthändler, der seine Waren zu den Fenstern
hinauf empfahl, hätte ebenso unaufmerksam wie K. mit seinem Karren diesen fast
niedergeworfen. Eben begann ein in bessern Stadtvierteln ausgedientes
Grammophon mörderisch zu spielen.
K.
gieng tiefer in die Gasse hinein, langsam, als hätte er nun schon Zeit oder als
sähe ihn der Untersuchungsrichter aus irgendeinem Fenster und wisse also daß
sich K. eingefunden habe. Es war kurz nach neun. Das Haus lag ziemlich weit, es
war fast ungewöhnlich ausgedehnt, besonders die Toreinfahrt war hoch und weit.
Sie war offenbar für Lastfuhren bestimmt, die zu den verschiedenen
Warenmagazinen gehörten, die, jetzt versperrt, den großen Hof umgaben und
Aufschriften von Firmen trugen, von denen K. einige aus dem Bankgeschäft
kannte. Gegen seine sonstige Gewohnheit sich mit allen diesen Äußerlichkeiten
genauer befassend, blieb er auch ein wenig am Eingang des Hofes stehn. In
seiner Nähe auf einer Kiste saß ein bloßfüßiger Mann und las eine Zeitung. Auf
einem Handkarren schaukelten zwei Jungen. Vor einer Pumpe stand ein schwaches
junges Mädchen in einer Nachtjoppe und blickte, während das Wasser in ihre
Kanne strömte, auf K. hin. In einer Ecke des Hofes wurde zwischen zwei Fenstern
ein Strick gespannt, auf dem die zum Trocknen bestimmte Wäsche schon hieng. Ein
Mann stand unten und leitete die Arbeit durch ein paar Zurufe.
K.
wandte sich der Treppe zu, um zum Untersuchungszimmer zu kommen, stand dann
aber wieder still, denn außer dieser Treppe sah er im Hof noch drei
verschiedene Treppenaufgänge und überdies schien ein kleiner Durchgang am Ende
des Hofes noch in einen zweiten Hof zu führen. Er ärgerte sich daß man ihm die
Lage des Zimmers nicht näher bezeichnet hatte, es war doch eine sonderbare
Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit, mit der man ihn behandelte, er
beabsichtigte, das sehr laut und deutlich festzustellen. Schließlich stieg er
doch die erste Treppe hinauf und spielte in Gedanken mit einer Erinnerung an
den Ausspruch des Wächters Willem, daß das Gericht von der Schuld angezogen
werde, woraus eigentlich folgte, daß das Untersuchungszimmer an der Treppe
liegen mußte, die K. zufällig wählte.
Er
störte im Hinaufgehn viele Kinder, die auf der Treppe spielten und ihn, wenn er
durch ihre Reihe schritt, böse ansahn. “Wenn ich nächstens wieder hergehen
sollte,” sagte er sich, “muß ich entweder Zuckerwerk mitnehmen, um sie zu
gewinnen oder den Stock um sie zu prügeln.” Knapp vor dem ersten Stockwerk
mußte er sogar ein Weilchen warten, bis eine Spielkugel ihren Weg vollendet
hatte, zwei kleine Jungen mit den verzwickten Gesichtern erwachsener Strolche
hielten ihn indessen an den Beinkleidern; hätte er sie abschütteln wollen,
hätte er ihnen wehtun müssen und er fürchtete ihr Geschrei.
Im
ersten Stockwerk begann die eigentliche Suche. Da er doch nicht nach der
Untersuchungskommission fragen konnte, erfand er einen Tischler Lanz – der Name
fiel ihm ein weil der Hauptmann, der Neffe der Frau Grubach, so hieß – und
wollte nun in allen Wohnungen nachfragen, ob hier ein Tischler Lanz wohne, um
so die Möglichkeit zu bekommen, in die Zimmer hineinzusehn. Es zeigte sich
aber, daß das meistens ohne weiters möglich war, denn fast alle Türen standen
offen und die Kinder liefen ein und aus. Es waren in der Regel kleine
einfenstrige Zimmer, in denen auch gekocht wurde. Manche Frauen hielten
Säuglinge im Arm und arbeiteten mit der freien Hand auf dem Herd. Halbwüchsige
scheinbar nur mit Schürzen bekleidete Mädchen liefen am fleißigsten hin und
her. In allen Zimmern standen die Betten noch in Benützung, es lagen dort
Kranke oder noch Schlafende oder Leute die sich dort in Kleidern streckten. An
den Wohnungen, deren Türen geschlossen waren, klopfte K. an und fragte, ob hier
ein Tischler Lanz wohne. Meistens öffnete eine Frau, hörte die Frage an und
wandte sich ins Zimmer zu jemanden der sich aus dem Bett erhob. “Der Herr frägt
ob ein Tischler Lanz hier wohnt.” “Tischler Lanz?” fragte der aus dem Bett.
“Ja,” sagte K., trotzdem sich hier die Untersuchungskommission zweifellos nicht
befand und daher seine Aufgabe beendet war. Viele glaubten es liege K. sehr
viel daran den Tischler Lanz zu finden, dachten lange nach, nannten einen
Tischler, der aber nicht Lanz hieß, oder einen Namen, der mit Lanz eine ganz
entfernte Ähnlichkeit hatte, oder sie fragten bei Nachbarn oder begleiteten K.
zu einer weit entfernten Tür, wo ihrer Meinung nach ein derartiger Mann
möglicherweise in Aftermiete wohne oder wo jemand sei der bessere Auskunft als
sie selbst geben könne. Schließlich mußte K. kaum mehr selbst fragen, sondern
wurde auf diese Weise durch die Stockwerke gezogen. Er bedauerte seinen Plan,
der ihm zuerst so praktisch erschienen war. Vor dem fünften Stockwerk entschloß
er sich die Suche aufzugeben, verabschiedete sich von einem freundlichen jungen
Arbeiter, der ihn weiter hinaufführen wollte, und gieng hinunter. Dann aber
ärgerte ihn wieder das Nutzlose dieser ganzen Unternehmung, er gieng nochmals
zurück und klopfte an die erste Tür des fünften Stockwerks. Das erste was er in
dem kleinen Zimmer sah, war eine große Wanduhr, die schon zehn Uhr zeigte.
“Wohnt ein Tischler Lanz hier?” fragte er. “Bitte,” sagte eine junge Frau mit
schwarzen leuchtenden Augen, die gerade in einem Kübel Kinderwäsche wusch, und
zeigte mit der nassen Hand auf die offene Tür des Nebenzimmers.
K.
glaubte in eine Versammlung einzutreten. Ein Gedränge der verschiedensten Leute
– niemand kümmerte sich um den Eintretenden – füllte ein mittelgroßes
zweifenstriges Zimmer, das knapp an der Decke von einer Galerie umgeben war,
die gleichfalls vollständig besetzt war und wo die Leute nur gebückt stehen
konnten und mit Kopf und Rücken an die Decke stießen. K., dem die Luft zu dumpf
war, trat wieder hinaus und sagte zu der jungen Frau, die ihn wahrscheinlich
falsch verstanden hatte: “Ich habe nach einem Tischler, einem gewissen Lanz
gefragt?” “Ja,” sagte die Frau, “gehn Sie bitte hinein.” K. hätte ihr
vielleicht nicht gefolgt, wenn die Frau nicht auf ihn zugegangen wäre, die
Türklinke ergriffen und gesagt hätte: “Nach Ihnen muß ich schließen, es darf
niemand mehr hinein.” “Sehr vernünftig,” sagte K., “es ist aber schon jetzt zu
voll.” Dann gieng er aber doch wieder hinein.
Zwischen
zwei Männern hindurch, die sich unmittelbar bei der Tür unterhielten – der eine
machte mit beiden weit vorgestreckten Händen die Bewegung des Geldaufzählens,
der andere sah ihm scharf in die Augen – faßte eine Hand nach K. Es war ein
kleiner rotbäckiger Junge. “Kommen Sie, kommen Sie,” sagte er. K. ließ sich von
ihm führen, es zeigte sich, daß in dem durcheinanderwimmelnden Gedränge doch
ein schmaler Weg frei war, der möglicherweise zwei Parteien schied; dafür
sprach auch daß K. in den ersten Reihen rechts und links kaum ein ihm
zugewendetes Gesicht sah, sondern nur die Rücken von Leuten, welche ihre Reden
und Bewegungen nur an Leute ihrer Partei richteten. Die meisten waren schwarz
angezogen, in alten lange und lose hinunterhängenden Feiertagsröcken. Nur diese
Kleidung beirrte K., sonst hätte er das ganze als eine politische
Bezirksversammlung angesehn.
Am
andern Ende des Saales, zu dem K. geführt wurde, stand auf einem sehr niedrigen
gleichfalls überfüllten Podium ein kleiner Tisch der Quere nach aufgestellt und
hinter ihm, nahe am Rand des Podiums, saß ein kleiner dicker schnaufender Mann,
der sich gerade mit einem hinter ihm Stehenden – dieser hatte den Elbogen auf
die Sessellehne gestützt und die Beine gekreuzt – unter großem Gelächter unterhielt.
Manchmal warf er den Arm in die Luft, als karikiere er jemanden. Der Junge, der
K. führte, hatte Mühe seine Meldung vorzubringen. Zweimal hatte er schon auf
den Fußspitzen stehend etwas auszurichten versucht, ohne von dem Mann oben
beachtet worden zu sein. Erst als einer der Leute oben auf dem Podium auf den
Jungen aufmerksam machte, wandte sich der Mann ihm zu und hörte heruntergebeugt
seinen leisen Bericht an. Dann zog er seine Uhr und sah schnell nach K. hin.
“Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen,” sagte er. K.
wollte etwas antworten, aber er hatte keine Zeit, denn kaum hatte der Mann
ausgesprochen, erhob sich in der rechten Saalhälfte ein allgemeines Murren.
“Sie hätten vor einer Stunde und fünf Minuten erscheinen sollen,” wiederholte
nun der Mann mit erhobener Stimme und sah nun auch schnell in den Saal
hinunter. Sofort wurde auch das Murren stärker und verlor sich, da der Mann
nichts mehr sagte, nur allmählich. Es war jetzt im Saal viel stiller als bei
K.’s Eintritt. Nur die Leute auf der Gallerie hörten nicht auf, ihre
Bemerkungen zu machen. Sie schienen soweit man oben in dem Halbdunkel, Dunst
und Staub etwas unterscheiden konnte schlechter angezogen zu sein, als die
unten. Manche hatten Pölster mitgebracht, die sie zwischen den Kopf und die
Zimmerdecke gelegt hatten, um sich nicht wundzudrücken.
K.
hatte sich entschlossen mehr zu beobachten als zu reden, infolgedessen
verzichtete er auf die Verteidigung wegen seines angeblichen Zuspätkommens und
sagte bloß: “Mag ich zu spät gekommen sein, jetzt bin ich hier.” Ein
Beifallklatschen wieder aus der rechten Saalhälfte folgte. “Leicht zu
gewinnende Leute,” dachte K. und war nur gestört durch die Stille in der linken
Saalhälfte, die gerade hinter ihm lag und aus der sich nur ganz vereinzeltes
Händeklatschen erhoben hatte. Er dachte nach, was er sagen könnte, um alle auf
einmal oder wenn das nicht möglich sein sollte, wenigstens zeitweilig auch die
andern zu gewinnen.
“Ja,”
sagte der Mann, “aber ich bin nicht mehr verpflichtet, Sie jetzt zu verhören” –
wieder das Murren, diesmal aber mißverständlich, denn der Mann fuhr, indem er
den Leuten mit der Hand abwinkte, fort – “ich will es jedoch ausnahmsweise
heute noch tun. Eine solche Verspätung darf sich aber nicht mehr wiederholen.
Und nun treten Sie vor!” Irgendjemand sprang vom Podium herunter, so daß für K.
ein Platz freiwurde, auf den er hinaufstieg. Er stand eng an den Tisch
gedrückt, das Gedränge hinter ihm war so groß, daß er ihm Widerstand leisten
mußte, wollte er nicht den Tisch des Untersuchungsrichters und vielleicht auch
diesen selbst vom Podium hinunterstoßen.
Der
Untersuchungsrichter kümmerte sich aber nicht darum, sondern saß genug bequem
auf seinem Sessel und griff, nachdem er dem Mann hinter ihm ein abschließendes
Wort gesagt hatte, nach einem kleinen Anmerkungsbuch, dem einzigen Gegenstand
auf seinem Tisch. Es war schulheftartig, alt, durch vieles Blättern ganz aus
der Form gebracht. “Also,” sagte der Untersuchungsrichter, blätterte in dem
Heft und wendete sich im Tone einer Feststellung an K.: “Sie sind Zimmermaler?”
“Nein,” sagte K., “sondern erster Prokurist einer großen Bank.” Dieser Antwort
folgte bei der rechten Partei unten ein Gelächter, das so herzlich war, daß K.
mitlachen mußte. Die Leute stützten sich mit den Händen auf ihre Knie und
schüttelten sich wie unter schweren Hustenanfällen. Es lachten sogar einzelne
auf der Gallerie. Der ganz böse gewordene Untersuchungsrichter, der
wahrscheinlich gegen die Leute unten machtlos war, suchte sich an der Gallerie
zu entschädigen, sprang auf, drohte der Gallerie und seine sonst wenig
auffallenden Augenbrauen drängten sich buschig schwarz und groß über seinen
Augen.
Die
linke Saalhälfte war aber noch immer still, die Leute standen dort in Reihen,
hatten ihre Gesichter dem Podium zugewendet und hörten den Worten die oben
gewechselt wurden ebenso ruhig zu wie dem Lärm der andern Partei, sie duldeten
sogar, daß einzelne aus ihren Reihen mit der andern Partei hie und da gemeinsam
vorgiengen. Die Leute der linken Partei, die übrigens weniger zahlreich war,
mochten im Grunde ebenso unbedeutend sein wie die der rechten Partei, aber die
Ruhe ihres Verhaltens ließ sie bedeutungsvoller erscheinen. Als K. jetzt zu
reden begann, war er überzeugt, in ihrem Sinne zu sprechen.
“Ihre
Frage Herr Untersuchungsrichter ob ich Zimmermaler bin – vielmehr Sie haben gar
nicht gefragt, sondern es mir auf den Kopf zugesagt – ist bezeichnend für die
ganze Art des Verfahrens, das gegen mich geführt wird. Sie können einwenden,
daß es ja überhaupt kein Verfahren ist, Sie haben sehr Recht, denn es ist ja
nur ein Verfahren, wenn ich es als solches anerkenne. Aber ich erkenne es also
für den Augenblick jetzt an, aus Mitleid gewissermaßen. Man kann sich nicht
anders als mitleidig dazu stellen, wenn man es überhaupt beachten will. Ich
sage nicht, daß es ein lüderliches Verfahren ist, aber ich möchte Ihnen diese
Bezeichnung zur Selbsterkenntnis angeboten haben.”
K.
unterbrach sich und sah in den Saal hinunter. Was er gesagt hatte, war scharf,
schärfer als er es beabsichtigt hatte, aber doch richtig. Es hätte Beifall hier
oder dort verdient, es war jedoch alles still, man wartete offenbar gespannt
auf das Folgende, es bereitete sich vielleicht in der Stille ein Ausbruch vor,
der allem ein Ende machen würde. Störend war es, daß sich jetzt die Tür am
Saalende öffnete, die junge Wäscherin, die ihre Arbeit wahrscheinlich beendet
hatte, eintrat und trotz aller Vorsicht die sie aufwendete, einige Blicke auf
sich zog. Nur der Untersuchungsrichter machte K. unmittelbare Freude, denn er
schien von den Worten sofort getroffen zu werden. Er hatte bisher stehend
zugehört, denn er war von K.’s Ansprache überrascht worden, während er sich für
die Gallerie aufgerichtet hatte. Jetzt in der Pause setzte er sich allmählich
als sollte es nicht bemerkt werden. Wahrscheinlich um seine Miene zu beruhigen
nahm er wieder das Heftchen vor.
“Es
hilft nichts,” fuhr K. fort, “auch Ihr Heftchen Herr Untersuchungsrichter
bestätigt was ich sage.” Zufrieden damit, nur seine ruhigen Worte in der
fremden Versammlung zu hören, wagte es K. sogar, kurzerhand das Heft dem
Untersuchungsrichter wegzunehmen und es mit den Fingerspitzen, als scheue er
sich davor, an einem mittleren Blatte hochzuheben, so daß beiderseits die
engbeschriebenen fleckigen, gelbrandigen Blätter hinunterhiengen. “Das sind die
Akten des Untersuchungsrichters,” sagte er und ließ das Heft auf den Tisch
hinunterfallen. “Lesen Sie darin ruhig weiter Herr Untersuchungsrichter, vor
diesem Schuldbuch fürchte ich mich wahrhaftig nicht, trotzdem es mir
unzugänglich ist, denn ich kann es nur mit zwei Fingerspitzen anfassen.” Es
konnte nur ein Zeichen tiefer Demütigung sein oder es mußte zumindest so
aufgefaßt werden, daß der Untersuchungsrichter nach dem Heftchen, wie es auf
den Tisch gefallen war, griff, es ein wenig in Ordnung zu bringen suchte und es
wieder vornahm, um darin zu lesen.
Die
Gesichter der Leute in der ersten Reihe waren so gespannt auf K. gerichtet, daß
er ein Weilchen lang zu ihnen hinuntersah. Es waren durchwegs ältere Männer,
einige waren weißbärtig. Waren vielleicht sie die Entscheidenden, die die ganze
Versammlung beeinflussen konnten, welche auch durch die Demütigung des
Untersuchungsrichters sich nicht aus der Regungslosigkeit bringen ließ, in
welche sie seit K.’s Rede versunken war.
“Was
mir geschehen ist,” fuhr K. fort etwas leiser als früher und suchte immer
wieder die Gesichter der ersten Reihe ab, was seiner Rede einen etwas fahrigen
Ausdruck gab, “was mir geschehen ist, ist ja nur ein einzelner Fall und als
solcher nicht sehr wichtig, da ich es nicht sehr schwer nehme, aber es ist das
Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird. Für diese stehe ich
hier ein, nicht für mich.”
Er
hatte unwillkürlich seine Stimme gehoben. Irgendwo klatschte jemand mit erhobenen
Händen und rief: “Bravo! Warum denn nicht? Bravo! Und wieder Bravo!” Die in der
ersten Reihe griffen hie und da in ihre Bärte, keiner kehrte sich wegen des
Ausrufs um. Auch K. maß ihm keine Bedeutung bei, war aber doch aufgemuntert; er
hielt es jetzt gar nicht mehr für nötig, daß alle Beifall klatschten, es
genügte wenn die Allgemeinheit über die Sache nachzudenken begann und nur
manchmal einer durch Überredung gewonnen wurde.
“Ich
will nicht Rednererfolg,” sagte K. aus dieser Überlegung heraus, “er dürfte mir
auch nicht erreichbar sein. Der Herr Untersuchungsrichter spricht
wahrscheinlich viel besser, es gehört ja zu seinem Beruf. Was ich will, ist nur
die öffentliche Besprechung eines öffentlichen Mißstandes. Hören Sie: Ich bin
vor etwa zehn Tagen verhaftet worden, über die Tatsache der Verhaftung selbst
lache ich, aber das gehört jetzt nicht hierher. Ich wurde früh im Bett
überfallen, vielleicht hatte man – es ist nach dem was der Untersuchungsrichter
sagte nicht ausgeschlossen – den Befehl irgendeinen Zimmermaler der ebenso
unschuldig ist, wie ich zu verhaften, aber man wählte mich. Das Nebenzimmer war
von zwei groben Wächtern besetzt. Wenn ich ein gefährlicher Räuber wäre, hätte
man nicht bessere Vorsorge treffen können. Diese Wächter waren überdies demoralisiertes
Gesindel, sie schwätzten mir die Ohren voll, sie wollten sich bestechen lassen,
sie wollten mir unter Vorspiegelungen Wäsche und Kleider herauslocken, sie
wollten Geld, um mir angeblich ein Frühstück zu bringen, nachdem sie mein
eigenes Frühstück vor meinen Augen schamlos aufgegessen hatten. Nicht genug
daran. Ich wurde in ein drittes Zimmer vor den Aufseher geführt. Es war das
Zimmer einer Dame die ich sehr schätze und ich mußte zusehn, wie dieses Zimmer
meinetwegen aber ohne meine Schuld durch die Anwesenheit der Wächter und des
Aufsehers gewissermaßen verunreinigt wurde. Es war nicht leicht ruhig zu
bleiben. Es gelang mir aber und ich fragte den Aufseher vollständig ruhig –
wenn er hier wäre, müßte er es bestätigen – warum ich verhaftet sei. Was
antwortete nun dieser Aufseher den ich jetzt noch vor mir sehe, wie er auf dem
Sessel der erwähnten Dame als eine Darstellung des stumpfsinnigsten Hochmuts
sitzt? Meine Herren, er antwortete im Grunde nichts, vielleicht wußte er
wirklich nichts, er hatte mich verhaftet und war damit zufrieden. Er hat sogar
noch ein übriges getan und in das Zimmer jener Dame drei niedrige Angestellte
meiner Bank gebracht, die sich damit beschäftigten, Photographien, Eigentum der
Dame, zu betasten und in Unordnung zu bringen. Die Anwesenheit dieser
Angestellten hatte natürlich noch einen andern Zweck, sie sollten, ebenso wie
meine Vermieterin und ihr Dienstmädchen die Nachricht von meiner Verhaftung
verbreiten, mein öffentliches Ansehen schädigen und insbesondere in der Bank
meine Stellung erschüttern. Nun ist nichts davon auch nicht im geringsten
gelungen, selbst meine Vermieterin, eine ganz einfache Person – ich will ihren
Namen hier in ehrendem Sinne nennen, sie heißt Frau Grubach – selbst Frau
Grubach war verständig genug einzusehn, daß eine solche Verhaftung nicht mehr
bedeutet, als ein Anschlag, den nicht genügend beaufsichtigte Jungen auf der
Gasse ausführen. Ich wiederhole, mir hat das Ganze nur Unannehmlichkeiten und
vorübergehenden Ärger bereitet, hätte es aber nicht auch schlimmere Folgen
haben können?”
Als
K. sich hier unterbrach und nach dem stillen Untersuchungsrichter hinsah,
glaubte er zu bemerken, daß dieser gerade mit einem Blick jemandem in der Menge
ein Zeichen gab. K. lächelte und sagte: “Eben gibt hier neben mir der Herr
Untersuchungsrichter jemandem von Ihnen ein geheimes Zeichen. Es sind also
Leute unter Ihnen, die von hier oben dirigiert werden. Ich weiß nicht, ob das
Zeichen jetzt Zischen oder Beifall bewirken sollte und verzichte dadurch, daß
ich die Sache vorzeitig verrate, ganz bewußt darauf, die Bedeutung des Zeichens
zu erfahren. Es ist mir vollständig gleichgültig und ich ermächtige den Herrn
Untersuchungsrichter öffentlich, seine bezahlten Angestellten dort unten statt
mit geheimen Zeichen, laut mit Worten zu befehligen, indem er etwa einmal sagt:
‚Jetzt zischt‘ und das nächste Mal: ‚Jetzt klatscht‘.”
In
Verlegenheit oder Ungeduld rückte der Untersuchungsrichter auf seinem Sessel hin
und her. Der Mann hinter ihm, mit dem er sich schon früher unterhalten hatte,
beugte sich wieder zu ihm, sei es um ihm im allgemeinen Mut zuzusprechen oder
um ihm einen besondern Rat zu geben. Unten unterhielten sich die Leute leise,
aber lebhaft. Die zwei Parteien, die früher so entgegengesetzte Meinungen
gehabt zu haben schienen, vermischten sich, einzelne Leute zeigten mit dem
Finger auf K., andere auf den Untersuchungsrichter. Der nebelige Dunst im
Zimmer war äußerst lästig, er verhinderte sogar eine genauere Beobachtung der
Fernerstehenden. Besonders für die Galleriebesucher mußte er störend sein, sie
waren gezwungen, allerdings unter scheuen Seitenblicken nach dem
Untersuchungsrichter, leise Fragen an die Versammlungsteilnehmer zu stellen, um
sich näher zu unterrichten. Die Antworten wurden im Schutz der vorgehaltenen
Hände ebenso leise gegeben.
“Ich
bin gleich zuende,” sagte K. und schlug, da keine Glocke vorhanden war mit der
Faust auf den Tisch, im Schrecken darüber fuhren die Köpfe des Untersuchungsrichters
und seines Ratgebers augenblicklich auseinander: “Mir steht die ganze Sache
fern, ich beurteile sie daher ruhig und Sie können, vorausgesetzt daß Ihnen an
diesem angeblichen Gericht etwas gelegen ist, großen Vorteil davon haben, wenn
Sie mir zuhören. Ihre gegenseitigen Besprechungen dessen, was ich vorbringe,
bitte ich Sie für späterhin zu verschieben, denn ich habe keine Zeit und werde
bald weggehn.”
Sofort
war es still, so sehr beherrschte schon K. die Versammlung. Man schrie nicht
mehr durcheinander wie am Anfang, man klatschte nicht einmal mehr Beifall, aber
man schien schon überzeugt oder auf dem nächsten Wege dazu.
“Es
ist kein Zweifel,” sagte K. sehr leise, denn ihn freute das angespannte
Aufhorchen der ganzen Versammlung, in dieser Stille entstand ein Sausen, das
aufreizender war als der verzückteste Beifall, “es ist kein Zweifel, daß hinter
allen Äußerungen dieses Gerichtes, in meinem Fall also hinter der Verhaftung
und der heutigen Untersuchung eine große Organisation sich befindet. Eine
Organisation, die nicht nur bestechliche Wächter, läppische Aufseher und
Untersuchungsrichter, die günstigsten Falles bescheiden sind, beschäftigt,
sondern die weiterhin jedenfalls eine Richterschaft hohen und höchsten Grades
unterhält mit dem zahllosen unumgänglichen Gefolge von Dienern, Schreibern,
Gendarmen und andern Hilfskräften, vielleicht sogar Henkern, ich scheue vor dem
Wort nicht zurück. Und der Sinn dieser großen Organisation, meine Herren? Er
besteht darin, daß unschuldige Personen verhaftet und gegen sie ein sinnloses
und meistens wie in meinem Fall ergebnisloses Verfahren eingeleitet wird. Wie
ließe sich bei dieser Sinnlosigkeit des Ganzen, die schlimmste Korruption der
Beamtenschaft vermeiden? Das ist unmöglich, das brächte auch der höchste Richter
nicht einmal für sich selbst zustande. Darum suchen die Wächter den Verhafteten
die Kleider vom Leib zu stehlen, darum brechen Aufseher in fremde Wohnungen
ein, darum sollen Unschuldige statt verhört lieber vor ganzen Versammlungen
entwürdigt werden. Die Wächter haben mir von Depots erzählt, in die man das
Eigentum der Verhafteten bringt, ich wollte einmal diese Depotsplätze sehn, in
denen das mühsam erarbeitete Vermögen der Verhafteten fault soweit es nicht von
diebischen Depotbeamten gestohlen ist.”
K.
wurde durch ein Kreischen vom Saalende unterbrochen, er beschattete die Augen
um hinsehn zu können, denn das trübe Tageslicht machte den Dunst weißlich und
blendete. Es handelte sich um die Waschfrau, die K. gleich bei ihrem Eintritt
als eine wesentliche Störung erkannt hatte. Ob sie jetzt schuldig war oder
nicht konnte man nicht erkennen. K. sah nur, daß ein Mann sie in einen Winkel
bei der Tür gezogen hatte und dort an sich drückte. Aber nicht sie kreischte
sondern der Mann, er hatte den Mund breit gezogen und blickte zur Decke. Ein
kleiner Kreis hatte sich um beide gebildet, die Galleriebesucher in der Nähe
schienen darüber begeistert, daß der Ernst, den K. in die Versammlung
eingeführt hatte, auf diese Weise unterbrochen wurde. K. wollte unter dem ersten
Eindruck gleich hinlaufen, auch dachte er allen würde daran gelegen sein, dort
Ordnung zu schaffen und zumindest das Paar aus dem Saal zu weisen, aber die
ersten Reihen vor ihm blieben ganz fest, keiner rührte sich und keiner ließ K.
durch. Im Gegenteil man hinderte ihn, alte Männer hielten den Arm vor und
irgendeine Hand – er hatte nicht Zeit sich umzudrehn – faßte ihn hinten am
Kragen, K. dachte nicht eigentlich mehr an das Paar, ihm war, als werde seine
Freiheit eingeschränkt, als mache man mit der Verhaftung ernst und er sprang
rücksichtslos vom Podium hinunter. Nun stand er Aug’ in Aug’ dem Gedränge
gegenüber. Hatte er die Leute nicht richtig beurteilt? Hatte er seiner Rede
zuviel Wirkung zugetraut? Hatte man sich verstellt, solange er gesprochen hatte
und hatte man jetzt, da er zu den Schlußfolgerungen kam, die Verstellung satt?
Was für Gesichter rings um ihn! Kleine schwarze Äuglein huschten hin und her,
die Wangen hiengen herab, wie bei Versoffenen, die langen Bärte waren steif und
schütter und griff man in sie, so war es als bilde man bloß Krallen, nicht als
griffe man in Bärte. Unter den Bärten aber – und das war die eigentliche
Entdeckung, die K. machte – schimmerten am Rockkragen Abzeichen in
verschiedener Größe und Farbe. Alle hatten diese Abzeichen, soweit man sehen
konnte. Alle gehörten zu einander, die scheinbaren Parteien rechts und links,
und als er sich plötzlich umdrehte, sah er die gleichen Abzeichen am Kragen des
Untersuchungsrichters, der, die Hände im Schooß, ruhig hinuntersah. “So!” rief
K. und warf die Arme in die Höhe, die plötzliche Erkenntnis wollte Raum, – “Ihr
seid ja alle Beamte wie ich sehe, Ihr seid ja die korrupte Bande, gegen die ich
sprach, Ihr habt Euch hier gedrängt, als Zuhörer und Schnüffler, habt
scheinbare Parteien gebildet und eine hat applaudiert um mich zu prüfen, Ihr
wolltet lernen, wie man Unschuldige verführen soll. Nun Ihr seid nicht nutzlos
hier gewesen, hoffe ich, entweder habt Ihr Euch darüber unterhalten, daß jemand
die Verteidigung der Unschuld von Euch erwartet hat oder aber – laß mich oder
ich schlage,” rief K. einem zitternden Greis zu, der sich besonders nahe an ihn
geschoben hatte – “oder aber Ihr habt wirklich etwas gelernt. Und damit wünsche
ich Euch Glück zu Euerem Gewerbe.” Er nahm schnell seinen Hut, der am Rand des
Tisches lag, und drängte sich unter allgemeiner Stille, jedenfalls der Stille
vollkommenster Überraschung, zum Ausgang. Der Untersuchungsrichter schien aber
noch schneller als K. gewesen zu sein, denn er erwartete ihn bei der Tür. “Einen
Augenblick,” sagte er, K. blieb stehn, sah aber nicht auf den
Untersuchungsrichter sondern auf die Tür, deren Klinke er schon ergriffen
hatte. “Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen,” sagte der
Untersuchungsrichter, “daß Sie sich heute – es dürfte Ihnen noch nicht zu
Bewußtsein gekommen sein – des Vorteils beraubt haben, den ein Verhör für den
Verhafteten in jedem Falle bedeutet.” K. lachte die Tür an. “Ihr Lumpen,” rief
er, “ich schenke Euch alle Verhöre,” öffnete die Tür und eilte die Treppe hinunter.
Hinter ihm erhob sich der Lärm der wieder lebendig gewordenen Versammlung,
welche die Vorfälle wahrscheinlich nach Art von Studierenden zu besprechen
begann.
Im leeren Sitzungssaal / Der Student / Die Kanzleien
K.
wartete während der nächsten Woche von Tag zu Tag auf eine neuerliche
Verständigung, er konnte nicht glauben, daß man seinen Verzicht auf Verhöre
wörtlich genommen hatte und als die erwartete Verständigung bis Samstag abend
wirklich nicht kam, nahm er an, er sei stillschweigend in das gleiche Haus für
die gleiche Zeit wieder vorgeladen. Er begab sich daher Sonntags wieder hin,
gieng diesmal geradewegs über Treppen und Gänge, einige Leute, die sich seiner
erinnerten, grüßten ihn an ihren Türen, aber er mußte niemanden mehr fragen und
kam bald zu der richtigen Tür. Auf sein Klopfen wurde ihm gleich aufgemacht und
ohne sich weiter nach der bekannten Frau umzusehn, die bei der Tür stehen
blieb, wollte er gleich ins Nebenzimmer. “Heute ist keine Sitzung,” sagte die
Frau. “Warum sollte keine Sitzung sein?” fragte er und wollte es nicht glauben.
Aber die Frau überzeugte ihn, indem sie die Tür des Nebenzimmers öffnete. Es
war wirklich leer und sah in seiner Leere noch kläglicher aus, als am letzten
Sonntag. Auf dem Tisch, der unverändert auf dem Podium stand, lagen einige
Bücher. “Kann ich mir die Bücher anschauen,” fragte K., nicht aus besonderer
Neugierde, sondern nur um nicht vollständig nutzlos hiergewesen zu sein.
“Nein,” sagte die Frau und schloß wieder die Tür, “das ist nicht erlaubt. Die
Bücher gehören dem Untersuchungsrichter.” “Ach so,” sagte K. und nickte, “die
Bücher sind wohl Gesetzbücher und es gehört zu der Art dieses Gerichtswesens,
daß man nicht nur unschuldig, sondern auch unwissend verurteilt wird.” “Es wird
so sein,” sagte die Frau, die ihn nicht genau verstanden hatte. “Nun, dann gehe
ich wieder,” sagte K. “Soll ich dem Untersuchungsrichter etwas melden?” fragte
die Frau. “Sie kennen ihn?” fragte K. “Natürlich,” sagte die Frau, “mein Mann
ist ja Gerichtsdiener.” Erst jetzt merkte K. daß das Zimmer, in dem letzthin
nur ein Waschbottich gestanden war, jetzt ein völlig eingerichtetes Wohnzimmer
bildete. Die Frau bemerkte sein Staunen und sagte: “Ja, wir haben hier freie
Wohnung, müssen aber an Sitzungstagen das Zimmer ausräumen. Die Stellung meines
Mannes hat manche Nachteile.” “Ich staune nicht so sehr über das Zimmer,” sagte
K. und blickte sie böse an, “als vielmehr darüber, daß Sie verheiratet sind.”
“Spielen Sie vielleicht auf den Vorfall in der letzten Sitzung an, durch den
ich Ihre Rede störte,” fragte die Frau. “Natürlich,” sagte K., “heute ist es ja
schon vorüber und fast vergessen, aber damals hat es mich geradezu wütend
gemacht. Und nun sagen Sie selbst, daß Sie eine verheiratete Frau sind.” “Es
war nicht zu Ihrem Nachteil, daß Ihre Rede abgebrochen wurde. Man hat nachher
noch sehr ungünstig über sie geurteilt.” “Mag sein,” sagte K. ablenkend, “aber
Sie entschuldigt das nicht.” “Ich bin vor allen entschuldigt, die mich kennen,”
sagte die Frau, “der welcher mich damals umarmt hat, verfolgt mich schon seit
langem. Ich mag im allgemeinen nicht verlockend sein, für ihn bin ich es aber.
Es gibt hiefür keinen Schutz, auch mein Mann hat sich schon damit abgefunden;
will er seine Stellung behalten muß er es dulden, denn jener Mann ist Student
und wird voraussichtlich zu größerer Macht kommen. Er ist immerfort hinter mir
her, gerade ehe Sie kamen, ist er fortgegangen.” “Es paßt zu allem andern,”
sagte K., “es überrascht mich nicht.” “Sie wollen hier wohl einiges
verbessern?” fragte die Frau langsam und prüfend, als sage sie etwas was sowohl
für sie als für K. gefährlich war. “Ich habe das schon aus Ihrer Rede
geschlossen, die mir persönlich sehr gut gefallen hat. Ich habe allerdings nur
einen Teil gehört, den Anfang habe ich versäumt und während des Schlusses lag
ich mit dem Studenten auf dem Boden.” “Es ist ja so widerlich hier,” sagte sie
nach einer Pause und faßte K.’s Hand. “Glauben Sie, daß es Ihnen gelingen wird,
eine Besserung zu erreichen?” K. lächelte und drehte seine Hand ein wenig in
ihren weichen Händen. “Eigentlich,” sagte er, “bin ich nicht dazu angestellt,
Besserungen hier zu erreichen, wie Sie sich ausdrücken, und wenn Sie es z. B.
dem Untersuchungsrichter sagen würden, würden Sie ausgelacht oder bestraft
werden. Tatsächlich hätte ich mich auch aus freiem Willen in diese Dinge gewiß
nicht eingemischt und meinen Schlaf hätte die Verbesserungsbedürftigkeit dieses
Gerichtswesens niemals gestört. Aber ich bin, dadurch daß ich angeblich
verhaftet wurde – ich bin nämlich verhaftet – gezwungen worden, hier
einzugreifen, undzwar um meinetwillen. Wenn ich aber dabei auch Ihnen irgendwie
nützlich sein kann, werde ich es natürlich sehr gerne tun. Nicht etwa nur aus
Nächstenliebe, sondern außerdem deshalb, weil auch Sie mir helfen können.” “Wie
könnte ich denn das,” fragte die Frau. “Indem Sie mir z. B. jetzt die Bücher
dort auf dem Tisch zeigen.” “Aber gewiß,” rief die Frau und zog ihn eiligst
hinter sich her. Es waren alte abgegriffene Bücher, ein Einbanddeckel war in
der Mitte fast zerbrochen, die Stücke hiengen nur durch Fasern zusammen. “Wie
schmutzig hier alles ist,” sagte K. kopfschüttelnd und die Frau wischte mit
ihrer Schürze, ehe K. nach den Büchern greifen konnte wenigstens oberflächlich
den Staub weg. K. schlug das oberste Buch auf, es erschien ein unanständiges
Bild. Ein Mann und eine Frau saßen nackt auf einem Kanapee, die gemeine Absicht
des Zeichners war deutlich zu erkennen, aber seine Ungeschicklichkeit war so
groß gewesen, daß schließlich doch nur ein Mann und eine Frau zu sehen waren,
die allzu körperlich aus dem Bilde hervorragten, übermäßig aufrecht dasaßen und
infolge falscher Perspektive nur mühsam sich einander zuwendeten. K. blätterte
nicht weiter sondern schlug nur noch das Titelblatt des zweiten Buches auf, es
war ein Roman mit dem Titel: “Die Plagen, welche Grete von ihrem Manne Hans zu
erleiden hatte.” “Das sind die Gesetzbücher, die hier studiert werden,” sagte
K. “Von solchen Menschen soll ich gerichtet werden.” “Ich werde Ihnen helfen,”
sagte die Frau. “Wollen Sie?” “Könnten Sie denn das wirklich ohne sich selbst
in Gefahr zu bringen, Sie sagten doch vorhin, Ihr Mann sei sehr abhängig von
Vorgesetzten.” “Trotzdem will ich Ihnen helfen,” sagte die Frau. “Kommen Sie,
wir müssen es besprechen. Über meine Gefahr reden Sie nicht mehr, ich fürchte
die Gefahr nur dort, wo ich sie fürchten will. Kommen Sie.” Sie zeigte auf das
Podium und bat ihn sich mit ihr auf die Stufe zu setzen. “Sie haben schöne
dunkle Augen,” sagte sie, nachdem sie sich gesetzt hatten und sah K. von unten
ins Gesicht, “man sagt mir ich hätte auch schöne Augen, aber Ihre sind viel
schöner. Sie fielen mir übrigens gleich damals auf, als Sie zum erstenmal hier
eintraten. Sie waren auch der Grund, warum ich dann später hierher ins
Versammlungszimmer gieng, was ich sonst niemals tue und was mir sogar
gewissermaßen verboten ist.” “Das ist also alles,” dachte K., “sie bietet sich
mir an, sie ist verdorben wie alle hier ringsherum, sie hat die Gerichtsbeamten
satt, was ja begreiflich ist, und begrüßt deshalb jeden beliebigen Fremden mit
einem Kompliment wegen seiner Augen.” Und K. stand stillschweigend auf, als
hätte er seine Gedanken laut ausgesprochen und dadurch der Frau sein Verhalten
erklärt. “Ich glaube nicht, daß Sie mir helfen könnten,” sagte er, “um mir
wirklich zu helfen, müßte man Beziehungen zu hohen Beamten haben. Sie aber
kennen gewiß nur die niedrigen Angestellten, die sich hier in Mengen
herumtreiben. Diese kennen Sie gewiß sehr gut und könnten bei ihnen auch
manches durchsetzen, das bezweifle ich nicht, aber das Größte, was man bei
ihnen durchsetzen könnte, wäre für den endgiltigen Ausgang des Processes
gänzlich belanglos. Sie aber hätten sich dadurch doch einige Freunde
verscherzt. Das will ich nicht. Führen Sie Ihr bisheriges Verhältnis zu diesen
Leuten weiter, es scheint mir nämlich daß es Ihnen unentbehrlich ist. Ich sage
das nicht ohne Bedauern, denn, um Ihr Kompliment doch auch irgendwie zu
erwidern, auch Sie gefallen mir gut, besonders wenn Sie mich wie jetzt so
traurig ansehn, wozu übrigens für Sie gar kein Grund ist. Sie gehören zu der
Gesellschaft, die ich bekämpfen muß, befinden sich aber in ihr sehr wohl, Sie
lieben sogar den Studenten und wenn Sie ihn nicht lieben, so ziehen Sie ihn
doch wenigstens Ihrem Manne vor. Das konnte man aus Ihren Worten leicht
erkennen.” “Nein,” rief sie, blieb sitzen und griff nur nach K.’s Hand, die er
ihr nicht rasch genug entzog, “Sie dürfen jetzt nicht weggehn, Sie dürfen nicht
mit einem falschen Urteil über mich weggehn. Brächten Sie es wirklich zustande,
jetzt wegzugehn? Bin ich wirklich so wertlos, daß Sie mir nicht einmal den
Gefallen tun wollen noch ein kleines Weilchen hierzubleiben?” “Sie mißverstehen
mich,” sagte K. und setzte sich, “wenn Ihnen wirklich daran liegt, daß ich hier
bleibe, bleibe ich gern, ich habe ja Zeit, ich kam doch in der Erwartung her,
daß heute eine Verhandlung sein werde. Mit dem, was ich früher sagte, wollte
ich Sie nur bitten, in meinem Proceß nichts für mich zu unternehmen. Aber auch
das muß Sie nicht kränken, wenn Sie bedenken, daß mir am Ausgang des Processes
gar nichts liegt und daß ich über eine Verurteilung nur lachen werde.
Vorausgesetzt daß es überhaupt zu einem wirklichen Abschluß des Processes
kommt, was ich sehr bezweifle. Ich glaube vielmehr, daß das Verfahren infolge
Faulheit oder Vergeßlichkeit oder vielleicht sogar infolge Angst der
Beamtenschaft schon abgebrochen ist oder in der nächsten Zeit abgebrochen
werden wird. Möglich ist allerdings auch, daß man in Hoffnung auf irgendeine
größere Bestechung den Proceß scheinbar weiterführen wird, ganz vergeblich, wie
ich heute schon sagen kann, denn ich besteche niemanden. Es wäre immerhin eine
Gefälligkeit, die Sie mir leisten könnten, wenn Sie dem Untersuchungsrichter
oder irgendjemandem sonst, der wichtige Nachrichten gern verbreitet, mitteilen
würden, daß ich niemals und durch keine Kunststücke, an denen die Herren wohl
reich sind, zu einer Bestechung zu bewegen sein werde. Es wäre ganz
aussichtslos, das können Sie ihnen offen sagen. Übrigens wird man es vielleicht
selbst schon bemerkt haben und selbst wenn dies nicht sein sollte, liegt mir
gar nicht soviel daran, daß man es jetzt schon erfährt. Es würde ja dadurch den
Herren nur Arbeit erspart werden, allerdings auch mir einige
Unannehmlichkeiten, die ich aber gern auf mich nehme, wenn ich weiß, daß jede
gleichzeitig ein Hieb für die andern ist. Und daß es so wird, dafür will ich
sorgen. Kennen Sie eigentlich den Untersuchungsrichter” “Natürlich,” sagte die
Frau, “an den dachte ich sogar zuerst, als ich Ihnen Hilfe anbot. Ich wußte
nicht daß er nur ein niedriger Beamter ist, aber da Sie es sagen, wird es
wahrscheinlich richtig sein. Trotzdem glaube ich daß der Bericht, den er nach
oben liefert, immerhin einigen Einfluß hat. Und er schreibt soviel Berichte.
Sie sagen, daß die Beamten faul sind, alle gewiß nicht, besonders dieser
Untersuchungsrichter nicht, er schreibt sehr viel. Letzten Sonntag z. B.
dauerte die Sitzung bis gegen Abend. Alle Leute giengen weg, der
Untersuchungsrichter aber blieb im Saal, ich mußte ihm eine Lampe bringen, ich
hatte nur eine kleine Küchenlampe, aber er war mit ihr zufrieden und fieng
gleich zu schreiben an. Inzwischen war auch mein Mann gekommen, der an jenem
Sonntag gerade Urlaub hatte, wir holten die Möbel, richteten wieder unser
Zimmer ein, es kamen dann noch Nachbarn ein, wir unterhielten uns noch bei
einer Kerze, kurz wir vergaßen an den Untersuchungsrichter und giengen
schlafen. Plötzlich in der Nacht, es muß schon tief in der Nacht gewesen sein,
wache ich auf, neben dem Bett steht der Untersuchungsrichter und blendet die
Lampe mit der Hand ab, so daß auf meinen Mann kein Licht fällt, es war unnötige
Vorsicht, mein Mann hat einen solchen Schlaf daß ihn auch das Licht nicht
geweckt hätte. Ich war so erschrocken, daß ich fast geschrien hätte, aber der
Untersuchungsrichter war sehr freundlich, ermahnte mich zur Vorsicht, flüsterte
mir zu, daß er bis jetzt geschrieben habe, daß er mir jetzt die Lampe
zurückbringe und daß er niemals den Anblick vergessen werde, wie er mich
schlafend gefunden habe. Mit dem allen wollte ich Ihnen nur sagen, daß der
Untersuchungsrichter tatsächlich viel Berichte schreibt, insbesondere über Sie:
denn Ihre Einvernahme war gewiß einer der Hauptgegenstände der sonntägigen
Sitzung. Solche lange Berichte können aber doch nicht ganz bedeutungslos sein.
Außerdem aber können Sie doch auch aus dem Vorfall sehn, daß sich der
Untersuchungsrichter um mich bewirbt und daß ich gerade jetzt in der ersten
Zeit, er muß mich überhaupt erst jetzt bemerkt haben, großen Einfluß auf ihn haben
kann. Daß ihm viel an mir liegt, dafür habe ich jetzt auch noch andere Beweise.
Er hat mir gestern durch den Studenten, zu dem er viel Vertrauen hat und der
sein Mitarbeiter ist, seidene Strümpfe zum Geschenk geschickt, angeblich dafür,
daß ich das Sitzungszimmer aufräume, aber das ist nur ein Vorwand, denn diese
Arbeit ist doch meine Pflicht und für sie wird mein Mann bezahlt. Es sind
schöne Strümpfe, sehen Sie” – sie streckte die Beine, zog die Röcke bis zum
Knie hinauf und sah auch selbst die Strümpfe an – “es sind schöne Strümpfe aber
doch eigentlich zu fein und für mich nicht geeignet.”
Plötzlich
unterbrach sie sich, legte ihre Hand auf K.’s Hand, als wolle sie ihn beruhigen
und flüsterte: “Still, Bertold sieht uns zu!” K. hob langsam den Blick. In der
Tür des Sitzungszimmers stand ein junger Mann, er war klein, hatte nicht ganz
gerade Beine, und suchte sich durch einen kurzen schüttern rötlichen Vollbart,
in dem er die Finger fortwährend herumführte, Würde zu geben. K. sah ihn
neugierig an, es war ja der erste Student der unbekannten Rechtswissenschaft,
dem er gewissermaßen menschlich begegnete, ein Mann, der wahrscheinlich auch
einmal zu höhern Beamtenstellen gelangen würde. Der Student dagegen kümmerte
sich um K. scheinbar gar nicht, er winkte nur mit einem Finger, den er für
einen Augenblick aus seinem Barte zog, der Frau und gieng zum Fenster, die Frau
beugte sich zu K. und flüsterte: “Seien Sie mir nicht böse, ich bitte Sie
vielemals, denken Sie auch nicht schlecht von mir, ich muß jetzt zu ihm gehn,
zu diesem scheußlichen Menschen, sehn Sie nur seine krummen Beine an. Aber ich
komme gleich zurück und dann geh ich mit Ihnen, wenn Sie mich mitnehmen, ich
gehe wohin Sie wollen, Sie können mit mir tun, was Sie wollen, ich werde
glücklich sein, wenn ich von hier für möglichst lange Zeit fort bin, am
liebsten allerdings für immer.” Sie streichelte noch K.’s Hand, sprang auf und
lief zum Fenster. Unwillkürlich haschte noch K. nach ihrer Hand ins Leere. Die
Frau verlockte ihn wirklich, er fand trotz alles Nachdenkens keinen haltbaren
Grund dafür, warum er der Verlockung nicht nachgeben sollte. Den flüchtigen
Einwand, daß ihn die Frau für das Gericht einfange, wehrte er ohne Mühe ab. Auf
welche Weise konnte sie ihn einfangen? Blieb er nicht immer so frei, daß er das
ganze Gericht, wenigstens soweit es ihn betraf, sofort zerschlagen konnte?
Konnte er nicht dieses geringe Vertrauen zu sich haben? Und ihr Anerbieten
einer Hilfe klang aufrichtig und war vielleicht nicht wertlos. Und es gab
vielleicht keine bessere Rache an dem Untersuchungsrichter und seinem Anhang,
als daß er ihnen diese Frau entzog und an sich nahm. Es könnte sich dann einmal
der Fall ereignen, daß der Untersuchungsrichter nach mühevoller Arbeit an
Lügenberichten über K. in später Nacht das Bett der Frau leer fand. Und leer
deshalb, weil sie K. gehörte, weil diese Frau am Fenster, dieser üppige
gelenkige warme Körper im dunklen Kleid aus grobem schweren Stoff durchaus nur
K. gehörte.
Nachdem
er auf diese Weise die Bedenken gegen die Frau beseitigt hatte, wurde ihm das
leise Zwiegespräch am Fenster zu lang, er klopfte mit den Knöcheln auf das
Podium und dann auch mit der Faust. Der Student sah kurz über die Schulter der
Frau hinweg nach K. hin, ließ sich aber nicht stören, ja drückte sich sogar enger
an die Frau und umfaßte sie. Sie senkte tief den Kopf, als höre sie ihm
aufmerksam zu, er küßte sie, als sie sich bückte, laut auf den Hals, ohne sich
im Reden wesentlich zu unterbrechen. K. sah darin die Tyrannei bestätigt, die
der Student nach den Klagen der Frau über sie ausübte, stand auf und gieng im
Zimmer auf und ab. Er überlegte unter Seitenblicken nach dem Studenten wie er
ihn möglichst schnell wegschaffen könnte und es war ihm daher nicht
unwillkommen, als der Student, offenbar gestört durch K.’s Herumgehn, das schon
zeitweilig zu einem Trampeln ausgeartet war, bemerkte: “Wenn Sie ungeduldig
sind, können Sie weggehn. Sie hätten auch schon früher weggehn können, es hätte
Sie niemand vermißt. Ja, Sie hätten sogar weggehn sollen undzwar schon bei
meinem Eintritt undzwar schleunigst.” Es mochte in dieser Bemerkung alle
mögliche Wut zum Ausbruch kommen, jedenfalls lag darin aber auch der Hochmut
des künftigen Gerichtsbeamten der zu einem mißliebigen Angeklagten sprach. K.
blieb ganz nahe bei ihm stehn und sagte lächelnd: “Ich bin ungeduldig das ist
richtig, aber diese Ungeduld wird am leichtesten dadurch zu beseitigen sein,
daß Sie uns verlassen. Wenn Sie aber vielleicht hergekommen sind, um zu
studieren – ich hörte daß Sie Student sind – so will ich Ihnen gerne Platz
machen und mit der Frau weggehn. Sie werden übrigens noch viel studieren
müssen, ehe Sie Richter werden. Ich kenne zwar Ihr Gerichtswesen noch nicht
sehr genau, nehme aber an, daß es mit groben Reden allein, die Sie allerdings
schon unverschämt gut zu führen wissen, noch lange nicht getan ist.” “Man hätte
ihn nicht so frei herumlaufen lassen sollen,” sagte der Student, als wolle er
der Frau eine Erklärung für K.’s beleidigende Rede geben, “es war ein Mißgriff.
Ich habe es dem Untersuchungsrichter gesagt. Man hätte ihn zwischen den
Verhören zumindest in seinem Zimmer halten sollen. Der Untersuchungsrichter ist
manchmal unbegreiflich.” “Unnütze Reden,” sagte K. und streckte die Hand nach
der Frau aus. “Kommen Sie.” “Ach so,” sagte der Student, “nein, nein, die
bekommen Sie nicht,” und mit einer Kraft, die man ihm nicht zugetraut hätte,
hob er sie auf einen Arm, und lief mit gebeugtem Rücken, zärtlich zu ihr
aufsehend zur Tür. Eine gewisse Angst vor K. war hiebei nicht zu verkennen,
trotzdem wagte er es K. noch zu reizen, indem er mit der freien Hand den Arm
der Frau streichelte und drückte. K. lief paar Schritte neben ihm her, bereit
ihn zu fassen und wenn es sein mußte zu würgen, da sagte die Frau: “Es hilft
nichts, der Untersuchungsrichter läßt mich holen, ich darf nicht mit Ihnen
gehn, dieses kleine Scheusal,” sie fuhr hiebei dem Studenten mit der Hand übers
Gesicht,” dieses kleine Scheusal läßt mich nicht.” “Und Sie wollen nicht
befreit werden,” schrie K. und legte die Hand auf die Schulter des Studenten,
der mit den Zähnen nach ihr schnappte. “Nein,” rief die Frau und wehrte K. mit
beiden Händen ab, “nein, nein nur das nicht, woran denken Sie denn! Das wäre
mein Verderben. Lassen Sie ihn doch, o bitte, lassen Sie ihn doch. Er führt ja
nur den Befehl des Untersuchungsrichters aus und trägt mich zu ihm.” “Dann mag
er laufen und Sie will ich nie mehr sehn,” sagte K. wütend vor Enttäuschung und
gab dem Studenten einen Stoß in den Rücken, daß er kurz stolperte, um gleich
darauf, vor Vergnügen darüber, daß er nicht gefallen war, mit seiner Last desto
höher zu springen. K. gieng ihnen langsam nach, er sah ein, daß dies die erste
zweifellose Niederlage war, die er von diesen Leuten erfahren hatte. Es war
natürlich gar kein Grund, sich deshalb zu ängstigen, er erhielt die Niederlage
nur deshalb, weil er den Kampf aufsuchte. Wenn er zuhause bliebe und sein
gewohntes Leben führen würde, war er jedem dieser Leute tausendfach überlegen
und konnte jeden mit einem Fußtritt von seinem Wege räumen. Und er stellte sich
die allerlächerlichste Szene vor, die es z. B. geben würde, wenn dieser
klägliche Student, dieses aufgeblasene Kind, dieser krumme Bartträger vor Elsas
Bett knien und mit gefalteten Händen um Gnade bitten würde. K. gefiel diese
Vorstellung so, daß er beschloß, wenn sich nur irgendeine Gelegenheit dafür
ergeben sollte, den Studenten einmal zu Elsa mitzunehmen.
Aus
Neugierde eilte K. noch zur Tür, er wollte sehn, wohin die Frau getragen wurde,
der Student würde sie doch nicht etwa über die Straßen auf dem Arm tragen. Es
zeigte sich, daß der Weg viel kürzer war. Gleich gegenüber, der Wohnungstür
führte eine schmale hölzerne Treppe wahrscheinlich zum Dachboden, sie machte
eine Wendung, so daß man ihr Ende nicht sah. Über diese Treppe trug der Student
die Frau hinauf, schon sehr langsam und stöhnend, denn er war durch das
bisherige Laufen geschwächt. Die Frau grüßte mit der Hand zu K. hinunter, und
suchte durch Auf- und Abziehn der Schultern zu zeigen, daß sie an der
Entführung unschuldig sei, viel Bedauern lag aber in dieser Bewegung nicht. K.
sah sie ausdruckslos, wie eine Fremde an, er wollte weder verraten, daß er
enttäuscht war, noch auch daß er die Enttäuschung leicht überwinden könne.
Die
zwei waren schon verschwunden, K. aber stand noch immer in der Tür. Er mußte
annehmen, daß ihn die Frau nicht nur betrogen, sondern mit der Angabe daß sie
zum Untersuchungsrichter getragen werde, auch belogen habe. Der
Untersuchungsrichter würde doch nicht auf dem Dachboden sitzen und warten. Die
Holztreppe erklärte nichts, solange man sie auch ansah. Da bemerkte K. einen
kleinen Zettel neben dem Aufgang, gieng hinüber und las in einer kindlichen,
ungeübten Schrift: “Aufgang zu den Gerichtskanzleien.” Hier auf dem Dachboden
dieses Miethauses waren also die Gerichtskanzleien. Das war keine Einrichtung,
die viel Achtung einzuflößen imstande war und es war für einen Angeklagten
beruhigend, sich vorzustellen, wie wenig Geldmittel diesem Gericht zur
Verfügung standen, wenn es seine Kanzleien dort unterbrachte, wo die Mietparteien,
die schon selbst zu den Ärmsten gehörten, ihren unnützen Kram hinwarfen.
Allerdings war es nicht ausgeschlossen, daß man Geld genug hatte, daß aber die
Beamtenschaft sich darüber warf, ehe es für Gerichtszwecke verwendet wurde. Das
war nach den bisherigen Erfahrungen K.’s sogar sehr wahrscheinlich, nur war
dann eine solche Verlotterung des Gerichtes für einen Angeklagten zwar
entwürdigend, aber im Grunde noch beruhigender, als es die Armut des Gerichtes
gewesen wäre. Nun war es K. auch begreiflich, daß man sich beim ersten Verhör
schämte, den Angeklagten auf den Dachboden vorzuladen und es vorzog, ihn in
seiner Wohnung zu belästigen. In welcher Stellung befand sich doch K. gegenüber
dem Richter, der auf dem Dachboden saß, während er selbst in der Bank ein
großes Zimmer mit einem Vorzimmer hatte und durch eine riesige Fensterscheibe
auf den belebten Stadtplatz hinuntersehen konnte. Allerdings hatte er keine
Nebeneinkünfte aus Bestechungen oder Unterschlagungen und konnte sich auch vom
Diener keine Frau auf dem Arm ins Bureau tragen lassen. Darauf wollte K. aber,
wenigstens in diesem Leben, gerne verzichten.
K.
stand noch vor dem Anschlagzettel, als ein Mann die Treppe heraufkam, durch die
offene Tür ins Wohnzimmer sah, aus dem man auch in das Sitzungszimmer sehen
konnte, und schließlich K. fragte, ob er hier nicht vor kurzem eine Frau gesehn
habe. “Sie sind der Gerichtsdiener, nicht?” fragte K. “Ja,” sagte der Mann,
“ach so, Sie sind der Angeklagte K., jetzt erkenne ich Sie auch, seien Sie
willkommen.” Und er reichte K., der es gar nicht erwartet hatte, die Hand.
“Heute ist aber keine Sitzung angezeigt,” sagte dann der Gerichtsdiener, als K.
schwieg. “Ich weiß,” sagte K. und betrachtete den Civilrock des
Gerichtsdieners, der als einziges amtliches Abzeichen neben einigen
gewöhnlichen Knöpfen auch zwei vergoldete Knöpfe aufwies, die von einem alten
Offiziersmantel abgetrennt zu sein schienen. “Ich habe vor einem Weilchen mit
Ihrer Frau gesprochen. Sie ist nicht mehr hier. Der Student hat sie zum
Untersuchungsrichter getragen.” “Sehen Sie,” sagte der Gerichtsdiener, “immer
trägt man sie mir weg. Heute ist doch Sonntag und ich bin zu keiner Arbeit
verpflichtet, aber nur, um mich vi hier zu entfernen, schickt man mich mit
einer jedenfalls unnützen Meldung weg. Undzwar schickt man mich nicht weit weg,
so daß ich die Hoffnung habe, wenn ich mich sehr beeile, vielleicht noch
rechtzeitig zurückzukommen. Ich laufe also, so sehr ich kann, schreie dem Amt,
zu dem ich geschickt wurde, meine Meldung durch den Türspalt so atemlos zu, daß
man sie kaum verstanden haben wird, laufe wieder zurück, aber der Student hat
sich noch mehr beeilt als ich, er hatte allerdings auch einen kürzern Weg, er
mußte nur die Bodentreppe hinunterlaufen. Wäre ich nicht so abhängig, ich hätte
den Studenten schon längst hier an der Wand zerdrückt. Hier neben dem
Anschlagzettel. Davon träume ich immer. Hier ein wenig über dem Fußboden ist er
festgedrückt, die Arme gestreckt, die Finger gespreizt, die krummen Beine zum
Kreis gedreht und ringsherum Blutspritzer. Bisher war es aber nur Traum.” “Eine
andere Hilfe gibt es nicht” fragte K. lächelnd. “Ich wüßte keine,” sagte der
Gerichtsdiener. “Und jetzt wird es ja noch ärger, bisher hat er sie nur zu sich
getragen, jetzt trägt er sie, was ich allerdings längst erwartet habe, auch zum
Untersuchungsrichter.” “Hat denn Ihre Frau gar keine Schuld dabei,” fragte K.,
er mußte sich bei dieser Frage bezwingen, so sehr fühlte auch er jetzt die
Eifersucht. “Aber gewiß,” sagte der Gerichtsdiener, “sie hat sogar die größte
Schuld. Sie hat sich ja an ihn gehängt. Was ihn betrifft, er läuft allen
Weibern nach. In diesem Hause allein, ist er schon aus fünf Wohnungen in die er
sich eingeschlichen hat, herausgeworfen worden. Meine Frau ist allerdings die
schönste im ganzen Haus und gerade ich darf mich nicht wehren.” “Wenn es sich
so verhält, dann gibt es allerdings keine Hilfe,” sagte K. “Warum denn nicht,”
fragte der Gerichtsdiener. “Man müßte den Studenten, der ein Feigling ist,
einmal wenn er meine Frau anrühren will so durchprügeln, daß er es niemals mehr
wagt. Aber ich darf es nicht und andere machen mir den Gefallen nicht, denn
alle fürchten seine Macht. Nur ein Mann, wie Sie, könnte es tun.” “Wieso denn
ich?” fragte K. erstaunt. “Sie sind doch angeklagt,” sagte der Gerichtsdiener.
“Ja,” sagte K., “aber desto mehr müßte ich doch fürchten, daß er wenn auch
vielleicht nicht Einfluß auf den Ausgang des Processes, so doch wahrscheinlich
auf die Voruntersuchung hat.” “Ja, gewiß,” sagte der Gerichtsdiener, als sei
die Ansicht K.’s genau so richtig wie seine eigene. “Es werden aber bei uns in
der Regel keine aussichtslosen Processe geführt.” “Ich bin nicht Ihrer
Meinung,” sagte K., “das soll mich aber nicht hindern, gelegentlich den
Studenten in Behandlung zu nehmen.” “Ich wäre Ihnen sehr dankbar,” sagte der
Gerichtsdiener etwas förmlich, er schien eigentlich doch nicht an die
Erfüllbarkeit seines höchsten Wunsches zu glauben. “Es würden vielleicht,” fuhr
K. fort, “auch noch andere Ihrer Beamten und vielleicht sogar alle das Gleiche
verdienen.” “Ja, ja,” sagte der Gerichtsdiener als handle es sich um etwas
Selbstverständliches. Dann sah er K. mit einem zutraulichen Blick an, wie er es
bisher trotz aller Freundlichkeit nicht getan hatte, und fügte hinzu: “Man
rebelliert eben immer.” Aber das Gespräch schien ihm doch ein wenig unbehaglich
geworden zu sein, denn er brach es ab, indem er sagte: “Jetzt muß ich mich in
der Kanzlei melden. Wollen Sie mitkommen?” “Ich habe dort nichts zu tun,” sagte
K. “Sie könnten die Kanzleien ansehn. Es wird sich niemand um Sie kümmern.”
“Ist es denn sehenswert?” fragte K. zögernd, hatte aber große Lust mitzugehn.
“Nun,” sagte der Gerichtsdiener, “ich dachte es würde Sie interessieren.”
“Gut,” sagte K. schließlich, “ich gehe mit,” und er lief schneller als der
Gerichtsdiener die Treppe hinauf.
Beim
Eintritt wäre er fast hingefallen, denn hinter der Tür war noch eine Stufe.
“Auf das Publikum nimmt man nicht viel Rücksicht,” sagte er. “Man nimmt
überhaupt keine Rücksicht,” sagte der Gerichtsdiener, “sehn Sie nur hier das
Wartezimmer.” Es war ein langer Gang, von dem aus roh gezimmerte Türen zu den
einzelnen Abteilungen des Dachbodens führten. Trotzdem kein unmittelbarer
Lichtzutritt bestand, war es doch nicht vollständig dunkel, denn manche
Abteilungen hatten gegen den Gang zu statt einheitlicher Bretterwände, bloße
allerdings bis zur Decke reichende Holzgitter, durch die einiges Licht drang
und durch die man auch einzelne Beamte sehen konnte, wie sie an Tischen
schrieben oder geradezu am Gitter standen und durch die Lücken die Leute auf
dem Gang beobachteten. Es waren, wahrscheinlich weil Sonntag war, nur wenig
Leute auf dem Gang. Sie machten einen sehr bescheidenen Eindruck. In fast
regelmäßigen Entfernungen von einander saßen sie auf den zwei Reihen langer
Holzbänke, die zu beiden Seiten des Ganges angebracht waren. Alle waren
vernachlässigt angezogen, trotzdem die meisten nach dem Gesichtsausdruck, der
Haltung, der Barttracht und vielen kaum sicherzustellenden kleinen Einzelheiten
den höheren Klassen angehörten. Da keine Kleiderhaken vorhanden waren, hatten
sie die Hüte, wahrscheinlich einer dem Beispiel des andern folgend, unter die
Bank gestellt. Als die, welche zunächst der Tür saßen, K. und den
Gerichtsdiener erblickten, erhoben sie sich zum Gruß; da das die folgenden
sahen, glaubten sie auch grüßen zu müssen, so daß alle beim Vorbeigehn der zwei
sich erhoben. Sie standen niemals vollständig aufrecht, der Rücken war geneigt,
die Knie geknickt, sie standen wie Straßenbettler. K. wartete auf den ein wenig
hinter ihm gehenden Gerichtsdiener und sagte: “Wie gedemütigt die sein müssen.”
“Ja,” sagte der Gerichtsdiener, “es sind Angeklagte, alle die Sie hier sehn,
sind Angeklagte.” “Wirklich?” sagte K. “Dann sind es ja meine Kollegen.” Und er
wandte sich an den nächsten, einen großen schlanken schon fast grauhaarigen
Mann. “Worauf warten Sie hier?” fragte K. höflich. Die unerwartete Ansprache
aber machte den Mann verwirrt, was umso peinlicher aussah, da es sich offenbar
um einen welterfahrenen Menschen handelte, der anderswo gewiß sich zu
beherrschen verstand und die Überlegenheit, die er sich über viele erworben
hatte, nicht leicht aufgab. Hier aber wußte er auf eine so einfache Frage nicht
zu antworten und sah auf die andern hin, als seien sie verpflichtet ihm zu
helfen und als könne niemand von ihm eine Antwort verlangen, wenn diese Hilfe
ausbliebe. Da trat der Gerichtsdiener hinzu und sagte, um den Mann zu beruhigen
und aufzumuntern: “Der Herr hier fragt ja nur, auf was Sie warten. Antworten
Sie doch.” Die ihm wahrscheinlich bekannte Stimme des Gerichtsdieners wirkte
besser: “Ich warte –” begann er und stockte. Offenbar hatte er diesen Anfang
gewählt, um ganz genau auf die Fragestellung zu antworten, fand aber jetzt die
Fortsetzung nicht. Einige der Wartenden hatten sich genähert und umstanden die
Gruppe, der Gerichtsdiener sagte zu ihnen: “Weg, weg, macht den Gang frei.” Sie
wichen ein wenig zurück, aber nicht bis zu ihren frühern Sitzen. Inzwischen
hatte sich der Gefragte gesammelt und antwortete sogar mit einem kleinen
Lächeln: “Ich habe vor einem Monat einige Beweisanträge in meiner Sache gemacht
und warte auf die Erledigung.” “Sie scheinen sich ja viele Mühe zu geben,”
sagte K. “Ja,” sagte der Mann, “es ist ja meine Sache.” “Jeder denkt nicht so
wie Sie,” sagte K., “ich z. B. bin auch angeklagt, habe aber, so wahr ich selig
werden will, weder einen Beweisantrag gestellt noch auch sonst irgendetwas
derartiges unternommen. Halten Sie denn das für nötig” “Ich weiß nicht genau,”
sagte der Mann wieder in vollständiger Unsicherheit; er glaubte offenbar K.
mache mit ihm einen Scherz, deshalb hätte er wahrscheinlich am liebsten, aus
Furcht irgendeinen neuen Fehler zu machen, seine frühere Antwort ganz
wiederholt, vor K.’s ungeduldigem Blick aber sagte er nur: “was mich betrifft,
ich habe Beweisanträge gestellt.” “Sie glauben wohl nicht daß ich angeklagt
bin,” fragte K. “Oh bitte gewiß,” sagte der Mann, und trat ein wenig zur Seite,
aber in der Antwort war nicht Glaube, sondern nur Angst. “Sie glauben mir also
nicht” fragte K. und faßte ihn, unbewußt durch das demütige Wesen des Mannes
dazu aufgefordert, beim Arm, als wolle er ihn zum Glauben zwingen. Aber er
wollte ihm nicht Schmerz bereiten, hatte ihn auch nur ganz leicht angegriffen,
trotzdem aber schrie der Mann auf, als habe K. ihn nicht mit zwei Fingern,
sondern mit einer glühenden Zange erfaßt. Dieses lächerliche Schreien machte
ihn K. endgültig überdrüssig; glaubte man ihm nicht daß er angeklagt war, so
war es desto besser; vielleicht hielt er ihn sogar für einen Richter. Und er
faßte ihn nun zum Abschied wirklich fester, stieß ihn auf die Bank zurück und
gieng weiter. “Die meisten Angeklagten sind so empfindlich,” sagte der
Gerichtsdiener. Hinter ihnen sammelten sich jetzt fast alle Wartenden um den
Mann, der schon zu schreien aufgehört hatte, und schienen ihn über den
Zwischenfall genau auszufragen. K. entgegen kam jetzt ein Wächter, der
hauptsächlich an einem Säbel kenntlich war, dessen Scheide, wenigstens der
Farbe nach, aus Aluminium bestand. K. staunte darüber und griff sogar mit der
Hand hin. Der Wächter, der wegen des Schreiens gekommen war, fragte nach dem
Vorgefallenen. Der Gerichtsdiener suchte ihn mit einigen Worten zu beruhigen,
aber der Wächter erklärte doch noch selbst nachsehn zu müssen, salutierte und
gieng weiter mit sehr eiligen aber sehr kurzen, wahrscheinlich durch Gicht
abgemessenen Schritten.
K.
kümmerte sich nicht lange um ihn und die Gesellschaft auf dem Gang, besonders
da er etwa in der Hälfte des Ganges die Möglichkeit sah, rechts durch eine
türlose Öffnung einzubiegen. Er verständigte sich mit dem Gerichtsdiener
darüber, ob das der richtige Weg sei, der Gerichtsdiener nickte und K. bog nun
wirklich dort ein. Es war ihm lästig, daß er immer einen oder zwei Schritte vor
dem Gerichtsdiener gehen mußte, es konnte wenigstens an diesem Ort den Anschein
haben, als ob er verhaftet vorgeführt werde. Er wartete also öfters auf den
Gerichtsdiener, aber dieser blieb gleich wieder zurück. Schließlich sagte K. um
seinem Unbehagen ein Ende zu machen: “Nun habe ich gesehn wie es hier aussieht,
ich will jetzt weggehn.” “Sie haben noch nicht alles gesehn,” sagte der
Gerichtsdiener vollständig unverfänglich. “Ich will nicht alles sehn,” sagte
K., der sich übrigens wirklich müde fühlte, “ich will gehn, wie kommt man zum
Ausgang?” “Sie haben sich doch nicht schon verirrt,” fragte der Gerichtsdiener
erstaunt, “Sie gehn hier bis zur Ecke und dann rechts den Gang hinunter
geradeaus zur Tür.” “Kommen Sie mit,” sagte K. “Zeigen Sie mir den Weg, ich
werde ihn verfehlen, es sind hier so viele Wege.” “Es ist der einzige Weg,”
sagte der Gerichtsdiener nun schon vorwurfsvoll, “ich kann nicht wieder mit
Ihnen zurückgehn, ich muß doch meine Meldung vorbringen und habe schon viel
Zeit durch Sie versäumt.” “Kommen Sie mit,” wiederholte K. jetzt schärfer, als
habe er endlich den Gerichtsdiener auf einer Unwahrheit ertappt. “Schreien Sie
doch nicht so,” flüsterte der Gerichtsdiener, “es sind ja hier überall Bureaux.
Wenn Sie nicht allein zurückgehn wollen, so gehn Sie noch ein Stückchen mit mir
oder warten Sie hier bis ich meine Meldung erledigt habe, dann will ich ja gern
mit Ihnen wieder zurückgehn.” “Nein, nein,” sagte K., “ich werde nicht warten
und Sie müssen jetzt mit mir gehn.” K. hatte sich noch gar nicht in dem Raum
umgesehen in dem er sich befand, erst als jetzt eine der vielen Holztüren, die
ringsherum standen sich öffnete blickte er hin. Ein Mädchen, das wohl durch
K.’s lautes Sprechen herbeigerufen war, trat ein und fragte: “Was wünscht der
Herr?” Hinter ihr in der Ferne sah man im Halbdunkel noch einen Mann sich
nähern. K. blickte den Gerichtsdiener an. Dieser hatte doch gesagt, daß sich
niemand um K. kümmern werde und nun kamen schon zwei, es brauchte nur wenig und
die Beamtenschaft wurde auf ihn aufmerksam, würde eine Erklärung seiner
Anwesenheit haben wollen. Die einzig verständliche und annehmbare war die, daß
er Angeklagter war und das Datum des nächsten Verhöres erfahren wollte, gerade
diese Erklärung aber wollte er nicht geben, besonders da sie auch nicht
wahrheitsgemäß war, denn er war nur aus Neugierde gekommen oder, was als
Erklärung noch unmöglicher war, aus dem Verlangen festzustellen, daß das Innere
dieses Gerichtswesens ebenso widerlich war wie sein Äußeres. Und es schien ja,
daß er mit dieser Annahme recht hatte, er wollte nicht weiter eindringen, er
war beengt genug von dem, was er bisher gesehen hatte, er war gerade jetzt
nicht in der Verfassung einem höhern Beamten gegenüberzutreten, wie er hinter
jeder Tür auftauchen konnte, er wollte weggehn, undzwar mit dem Gerichtsdiener
oder allein wenn es sein mußte.
Aber
sein stummes Dastehn mußte auffallend sein und wirklich sahen ihn das Mädchen
und der Gerichtsdiener derartig an, als ob in der nächsten Minute irgendeine
große Verwandlung mit ihm geschehen müsse, die sie zu beobachten nicht
versäumen wollten. Und in der Türöffnung stand der Mann, den K. früher in der
Ferne bemerkt hatte, er hielt sich am Deckbalken der niedrigen Tür fest und
schaukelte ein wenig auf den Fußspitzen, wie ein ungeduldiger Zuschauer. Das
Mädchen aber erkannte doch zuerst, daß das Benehmen K.’s in einem leichten
Unwohlsein seinen Grund hatte, sie brachte einen Sessel und fragte: “Wollen Sie
sich nicht setzen?” K. setzte sich sofort und stützte, um noch bessern Halt zu
bekommen, die Elbogen auf die Lehnen. “Sie haben ein wenig Schwindel, nicht?”
fragte sie ihn. Er hatte nun ihr Gesicht nahe vor sich, es hatte den strengen
Ausdruck, wie ihn manche Frauen gerade in ihrer schönsten Jugend haben. “Machen
Sie sich darüber keine Gedanken,” sagte sie, “das ist hier nichts
Außergewöhnliches, fast jeder bekommt einen solchen Anfall, wenn er zum ersten
Mal herkommt. Sie sind zum ersten Mal hier? Nun ja, das ist also nichts
Außergewöhnliches. Die Sonne brennt hier auf das Dachgerüst und das heiße Holz
macht die Luft so dumpf und schwer. Der Ort ist deshalb für
Bureauräumlichkeiten nicht sehr geeignet, so große Vorteile er allerdings sonst
bietet. Aber was die Luft betrifft, so ist sie an Tagen großen
Parteienverkehrs, und das ist fast jeder Tag, kaum mehr atembar. Wenn Sie dann
noch bedenken, daß hier auch vielfach Wäsche zum Trocknen ausgehängt wird – man
kann es den Mietern nicht gänzlich untersagen, – so werden Sie sich nicht mehr
wundern, daß Ihnen ein wenig übel wurde. Aber man gewöhnt sich schließlich an
die Luft sehr gut. Wenn Sie zum zweiten oder drittenmal herkommen, werden Sie
das Drückende hier kaum mehr spüren. Fühlen Sie sich schon besser?” K.
antwortete nicht, es war ihm zu peinlich, durch diese plötzliche Schwäche den
Leuten hier ausgeliefert zu sein, überdies war ihm, da er jetzt die Ursachen
seiner Übelkeit erfahren hatte nicht besser, sondern noch ein wenig schlechter.
Das Mädchen merkte es gleich, nahm, um K. eine Erfrischung zu bereiten, eine
Hakenstange die an der Wand lehnte und stieß damit eine kleine Luke auf, die
gerade über K. angebracht war und ins Freie führte. Aber es fiel soviel Ruß
herein, daß das Mädchen die Luke gleich wieder zuziehn und mit ihrem
Taschentuch die Hände K.’s vom Ruß reinigen mußte, denn K. war zu müde, um das selbst
zu besorgen. Er wäre gern hier ruhig sitzen geblieben, bis er sich zum Weggehn
genügend gekräftigt hatte, das mußte aber umso früher geschehn je weniger man
sich um ihn kümmern würde. Nun sagte aber überdies das Mädchen: “Hier können
Sie nicht bleiben, hier stören wir den Verkehr” – K. fragte mit den Blicken,
welchen Verkehr er denn hier störe – “ich werde Sie, wenn Sie wollen, ins
Krankenzimmer führen.” “Helfen Sie mir bitte,” sagte sie zu dem Mann in der
Tür, der auch gleich näher kam. Aber K. wollte nicht ins Krankenzimmer, gerade
das wollte er ja vermeiden, weiter geführt zu werden, je weiter er kam, desto
ärger mußte es werden. “Ich kann schon gehn,” sagte er deshalb und stand, durch
das bequeme Sitzen verwöhnt, zitternd auf. Dann aber konnte er sich nicht
aufrechthalten. “Es geht doch nicht,” sagte er kopfschüttelnd und setzte sich
seufzend wieder nieder. Er erinnerte sich an den Gerichtsdiener, der ihn trotz
allem leicht herausführen könnte, aber der schien schon längst weg zu sein, K.
sah zwischen dem Mädchen und dem Mann, die vor ihm standen, hindurch, konnte
aber den Gerichtsdiener nicht finden.
“Ich
glaube,” sagte der Mann, der übrigens elegant gekleidet war und besonders durch
eine graue Weste auffiel, die in zwei langen scharf geschnittenen Spitzen
endigte, “das Unwohlsein des Herrn geht auf die Atmosphäre hier zurück, es wird
daher am besten und auch ihm am liebsten sein wenn wir ihn nicht erst ins
Krankenzimmer sondern überhaupt aus den Kanzleien hinausführen.” “Das ist es,”
rief K. und fuhr vor lauter Freude fast noch in die Rede des Mannes hinein,
“mir wird gewiß sofort besser werden, ich bin auch gar nicht so schwach, nur
ein wenig Unterstützung unter den Achseln brauche ich, ich werde Ihnen nicht
viel Mühe machen, es ist ja auch kein langer Weg, führen Sie mich nur zur Tür,
ich setze mich dann noch ein wenig auf die Stufen und werde gleich erholt sein,
ich leide nämlich gar nicht unter solchen Anfällen, es kommt mir selbst
überraschend. Ich bin doch auch Beamter und an Bureauluft gewöhnt, aber hier
scheint es doch zu arg, Sie sagen es selbst. Wollen Sie also die Freundlichkeit
haben, mich ein wenig zu führen, ich habe nämlich Schwindel und es wird mir
schlecht, wenn ich allein aufstehe.” Und er hob die Schultern, um es den beiden
zu erleichtern ihm unter die Arme zu greifen.
Aber
der Mann folgte der Aufforderung nicht, sondern hielt die Hände ruhig in den
Hosentaschen und lachte laut. “Sehen Sie,” sagte er zu dem Mädchen, “ich habe
also doch das Richtige getroffen. Dem Herrn ist nur hier nicht wohl, nicht im
allgemeinen.” Das Mädchen lächelte auch, schlug aber dem Mann leicht mit den
Fingerspitzen auf den Arm, als hätte er sich mit K. einen zu starken Spaß
erlaubt. “Aber was denken Sie denn,” sagte der Mann noch immer lachend, “ich
will ja den Herrn wirklich hinausführen.” “Dann ist es gut,” sagte das Mädchen
indem sie ihren zierlichen Kopf für einen Augenblick neigte. “Messen Sie dem
Lachen nicht zuviel Bedeutung zu,” sagte das Mädchen zu K., der wieder traurig
geworden vor sich hinstarrte und keine Erklärung zu brauchen schien, “dieser
Herr – ich darf Sie doch vorstellen?” (der Herr gab mit einer Handbewegung die
Erlaubnis) “– dieser Herr also ist der Auskunftgeber. Er gibt den wartenden
Parteien alle Auskünfte, die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in der
Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt. Er weiß
auf alle Fragen eine Antwort, Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust dazu haben,
daraufhin erproben. Das ist aber nicht sein einziger Vorzug, sein zweiter Vorzug
ist die elegante Kleidung. Wir d. h. die Beamtenschaft meinte einmal, man müsse
den Auskunftgeber, der immerfort undzwar als erster mit Parteien verhandle, des
würdigen ersten Eindrucks halber, auch elegant anziehn. Wir andern sind, wie
Sie gleich an mir sehn können, leider sehr schlecht und altmodisch angezogen;
es hat auch nicht viel Sinn für die Kleidung etwas zu verwenden, da wir fast
unaufhörlich in den Kanzleien sind, wir schlafen ja auch hier. Aber wie gesagt
für den Auskunftgeber hielten wir einmal schöne Kleidung für nötig. Da sie aber
von unserer Verwaltung, die in dieser Hinsicht etwas sonderbar ist, nicht
erhältlich war, machten wir eine Sammlung – auch Parteien steuerten bei – und
wir kauften ihm dieses schöne Kleid und noch andere. Alles wäre jetzt
vorbereitet einen guten Eindruck zu machen, aber durch sein Lachen verdirbt er
es wieder und erschreckt die Leute.” “So ist es,” sagte der Herr spöttisch,
“aber ich verstehe nicht, Fräulein, warum Sie dem Herrn alle unsere Intimitäten
erzählen, oder besser aufdrängen, denn er will sie ja gar nicht erfahren. Sehen
Sie nur, wie er, offenbar mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt,
dasitzt.” K. hatte nicht einmal Lust zu widersprechen, die Absicht des Mädchens
mochte eine gute sein, sie war vielleicht darauf gerichtet ihn zu zerstreuen
oder ihm die Möglichkeit zu geben sich zu sammeln, aber das Mittel war
verfehlt. “Ich mußte ihm Ihr Lachen erklären,” sagte das Mädchen. “Es war ja
beleidigend.” “Ich glaube, er würde noch ärgere Beleidigungen verzeihen, wenn
ich ihn schließlich hinausführe.” K. sagte nichts, sah nicht einmal auf, er
duldete es, daß die zwei über ihn wie über eine Sache verhandelten, es war ihm
sogar am liebsten. Aber plötzlich fühlte er die Hand des Auskunftgebers an
einem Arm und die Hand des Mädchens am andern. “Also auf, Sie schwacher Mann,”
sagte der Auskunftgeber. “Ich danke Ihnen beiden vielmals,” sagte K. freudig
überrascht, erhob sich langsam und führte selbst die fremden Hände an die
Stellen, an denen er die Stütze am meisten brauchte. “Es sieht so aus,” sagte
das Mädchen leise in K.’s Ohr, während sie sich dem Gang näherten, “als ob mir
besonders viel daran gelegen wäre, den Auskunftgeber in ein gutes Licht zu
stellen, aber man mag es glauben, ich will doch die Wahrheit sagen. Er hat kein
hartes Herz. Er ist nicht verpflichtet, kranke Parteien hinauszuführen und tut
es doch, wie Sie sehn. Vielleicht ist niemand von uns hartherzig, wir wollten
vielleicht alle gern helfen, aber als Gerichtsbeamte bekommen wir leicht den Anschein
als ob wir hartherzig wären und niemandem helfen wollten. Ich leide geradezu
darunter.” “Wollen Sie sich nicht hier ein wenig setzen,” fragte der
Auskunftgeber, sie waren schon im Gang und gerade vor dem Angeklagten, den K.
früher angesprochen hatte. K. schämte sich fast vor ihm, früher war er so
aufrecht vor ihm gestanden, jetzt mußten ihn zwei stützen, seinen Hut
balancierte der Auskunftgeber auf den gespreizten Fingern, die Frisur war
zerstört, die Haare hiengen ihm in die schweißbedeckte Stirn. Aber der
Angeklagte schien nichts davon zu bemerken, demütig stand er vor dem
Auskunftgeber, der über ihn hinwegsah, und suchte nur seine Anwesenheit zu
entschuldigen. “Ich weiß,” sagte er, “daß die Erledigung meiner Anträge heute
noch nicht gegeben werden kann. Ich bin aber doch gekommen, ich dachte ich
könnte doch hier warten, es ist Sonntag, ich habe ja Zeit und hier störe ich
nicht.” “Sie müssen das nicht so sehr entschuldigen,” sagte der Auskunftgeber,
“Ihre Sorgsamkeit ist ja ganz lobenswert, Sie nehmen hier zwar unnötiger Weise
den Platz weg, aber ich will Sie trotzdem solange es mir nicht lästig wird,
durchaus nicht hindern, den Gang Ihrer Angelegenheit genau zu verfolgen. Wenn
man Leute gesehn hat, die ihre Pflicht schändlich vernachlässigen, lernt man es
mit Leuten wie Sie sind Geduld zu haben. Setzen Sie sich.” “Wie er mit den
Parteien zu reden versteht,” flüsterte das Mädchen. K. nickte, fuhr aber gleich
auf, als ihn der Auskunftgeber wieder fragte: “Wollen Sie sich nicht hier
niedersetzen.” “Nein,” sagte K., “ich will mich nicht ausruhn.” Er hatte das
mit möglichster Bestimmtheit gesagt, in Wirklichkeit hätte es ihm aber sehr
wohlgetan sich niederzusetzen; er war wie seekrank. Er glaubte auf einem Schiff
zu sein, das sich in schwerem Seegang befand. Es war ihm als stürze das Wasser
gegen die Holzwände, als komme aus der Tiefe des Ganges ein Brausen her, wie
von überschlagendem Wasser, als schaukle der Gang in der Quere und als würden
die wartenden Parteien zu beiden Seiten gesenkt und gehoben. Desto unbegreiflicher
war die Ruhe des Mädchens und des Mannes, die ihn führten. Er war ihnen
ausgeliefert, ließen sie ihn los, so mußte er hinfallen wie ein Brett. Aus
ihren kleinen Augen giengen scharfe Blicke hin und her; ihre gleichmäßigen
Schritte fühlte K. ohne sie mitzumachen, denn er wurde fast von Schritt zu
Schritt getragen. Endlich merkte er, daß sie zu ihm sprachen, aber er verstand
sie nicht, er hörte nur den Lärm der alles erfüllte und durch den hindurch ein
unveränderlicher hoher Ton wie von einer Sirene zu klingen schien. “Lauter,”
flüsterte er mit gesenktem Kopf und schämte sich, denn er wußte, daß sie laut
genug, wenn auch für ihn unverständlich gesprochen hatten. Da kam endlich, als
wäre die Wand vor ihm durchrissen ein frischer Luftzug ihm entgegen und er
hörte neben sich sagen: “Zuerst will er weg, dann aber kann man ihm hundertmal
sagen, daß hier der Ausgang ist und er rührt sich nicht.” K. merkte, daß er vor
der Ausgangstür stand, die das Mädchen geöffnet hatte. Ihm war als wären alle
seine Kräfte mit einem Mal zurückgekehrt, um einen Vorgeschmack der Freiheit zu
gewinnen, trat er gleich auf eine Treppenstufe und verabschiedete sich von dort
aus von seinen Begleitern, die sich zu ihm herabbeugten. “Vielen Dank,”
wiederholte er, drückte beiden wiederholt die Hände und ließ erst ab, als er zu
sehen glaubte, daß sie, an die Kanzleiluft gewöhnt, die verhältnismäßig frische
Luft, die von der Treppe kam, schlecht ertrugen. Sie konnten kaum antworten und
das Mädchen wäre vielleicht abgestürzt, wenn nicht K. äußerst schnell die Tür
geschlossen hätte. K. stand dann noch einen Augenblick still, strich sich mit
Hilfe eines Taschenspiegels das Haar zurecht, hob seinen Hut auf, der auf dem
nächsten Treppenabsatz lag – der Auskunftgeber hatte ihn wohl hingeworfen – und
lief dann die Treppe hinunter so frisch und in so langen Sprüngen, daß er vor
diesem Umschwung fast Angst bekam. Solche Überraschungen hatte ihm sein sonst
ganz gefestigter Gesundheitszustand noch nie bereitet. Wollte etwa sein Körper
revolutionieren und ihm einen neuen Proceß bereiten, da er den alten so mühelos
ertrug? Er lehnte den Gedanken nicht ganz ab, bei nächster Gelegenheit zu einem
Arzt zu gehn, jedenfalls aber wollte er – darin konnte er sich selbst beraten –
alle zukünftigen Sonntagvormittage besser als diesen verwenden.
Der Prügler
Als
K. an einem der nächsten Abende den Korridor passierte, der sein Bureau von der
Haupttreppe trennte – er gieng diesmal fast als der letzte nachhause, nur in
der Expedition arbeiteten noch zwei Diener im kleinen Lichtfeld einer Glühlampe
– hörte er hinter einer Tür, hinter der er immer nur eine Rumpelkammer vermutet
hatte, ohne sie jemals selbst gesehen zu haben, Seufzer ausstoßen. Er blieb
erstaunt stehn und horchte noch einmal auf um festzustellen ob er sich nicht
irrte, – es wurde ein Weilchen still, dann waren es aber doch wieder Seufzer. –
Zuerst wollte er einen der Diener holen, man konnte vielleicht einen Zeugen
brauchen, dann aber faßte ihn eine derart unbezähmbare Neugierde, daß er die
Tür förmlich aufriß. Es war, wie er richtig vermutet hatte, eine Rumpelkammer.
Unbrauchbare alte Drucksorten, umgeworfene leere irdene Tintenflaschen lagen
hinter der Schwelle. In der Kammer selbst aber standen drei Männer, gebückt in
dem niedrigen Raum. Eine auf einem Regal festgemachte Kerze gab ihnen Licht.
“Was treibt Ihr hier?” fragte K. sich vor Aufregung überstürzend, aber nicht
laut. Der eine Mann, der die andern offenbar beherrschte und zuerst den Blick
auf sich lenkte, stak in einer Art dunklern Lederkleidung, die den Hals bis
tief zur Brust und die ganzen Arme nackt ließ. Er antwortete nicht. Aber die
zwei andern riefen: “Herr! Wir sollen geprügelt werden, weil Du Dich beim
Untersuchungsrichter über uns beklagt hast.” Und nun erst erkannte K., daß es
wirklich die Wächter Franz und Willem waren, und daß der Dritte eine Rute in
der Hand hielt, um sie zu prügeln. “Nun,” sagte K. und starrte sie an, “ich
habe mich nicht beklagt, ich habe nur gesagt, wie es sich in meiner Wohnung
zugetragen hat. Und einwandfrei habt Ihr Euch ja nicht benommen.” “Herr,” sagte
Willem während Franz sich hinter ihm vor dem Dritten offenbar zu sichern
suchte, “wenn Ihr wüßtet wie schlecht wir gezahlt sind, Ihr würdet besser über
uns urteilen. Ich habe eine Familie zu ernähren und Franz hier wollte heiraten,
man sucht sich zu bereichern, wie es geht, durch bloße Arbeit gelingt es nicht,
selbst durch die angestrengteste, Euere feine Wäsche hat mich verlockt, es ist
natürlich den Wächtern verboten, so zu handeln, es war unrecht, aber Tradition
ist es, daß die Wäsche den Wächtern gehört, es ist immer so gewesen, glaubt es
mir; es ist ja auch verständlich, was bedeuten denn noch solche Dinge für den,
welcher so unglücklich ist verhaftet zu werden. Bringt er es dann allerdings
öffentlich zur Sprache, dann muß die Strafe erfolgen.” “Was Ihr jetzt sagt,
wußte ich nicht, ich habe auch keineswegs Euere Bestrafung verlangt, mir ging
es um ein Princip.” “Franz,” wandte sich Willem zum andern Wächter, “sagte ich
Dir nicht, daß der Herr unsere Bestrafung nicht verlangt hat. Jetzt hörst Du,
daß er nicht einmal gewußt hat, daß wir bestraft werden müssen.” “Laß Dich
nicht durch solche Reden rühren,” sagte der Dritte zu K., “die Strafe ist
ebenso gerecht als unvermeidlich.” “Höre nicht auf ihn,” sagte Willem und
unterbrach sich nur um die Hand, über die er einen Rutenhieb bekommen hatte
schnell an den Mund zu führen, “wir werden nur gestraft, weil Du uns angezeigt
hast. Sonst wäre uns nichts geschehn, selbst wenn man erfahren hätte, was wir
getan haben. Kann man das Gerechtigkeit nennen? Wir zwei, insbesondere aber
ich, hatten uns als Wächter durch lange Zeit sehr bewährt – Du selbst mußt
eingestehn, daß wir vom Gesichtspunkt der Behörde gesehn, gut gewacht haben –
wir hatten Aussicht vorwärtszukommen und wären gewiß bald auch Prügler
geworden, wie dieser, der eben das Glück hatte, von niemandem angezeigt worden
zu sein, denn eine solche Anzeige kommt wirklich nur sehr selten vor. Und jetzt
Herr ist alles verloren, unsere Laufbahn beendet, wir werden noch viel untergeordnetere
Arbeiten leisten müssen, als der Wachdienst ist und überdies bekommen wir jetzt
diese schrecklich schmerzhaften Prügel.” “Kann denn die Rute solche Schmerzen
machen,” fragte K. und prüfte die Rute, die der Prügler vor ihm schwang. “Wir
werden uns ja ganz nackt ausziehn müssen,” sagte Willem. “Ach so,” sagte K. und
sah den Prügler genauer an, er war braun gebrannt wie ein Matrose und hatte ein
wildes frisches Gesicht. “Gibt es keine Möglichkeit den zwein die Prügel zu
ersparen,” fragte er ihn. “Nein,” sagte der Prügler und schüttelte lächelnd den
Kopf. “Zieht Euch aus,” befahl er den Wächtern. Und zu K. sagte er: “Du mußt
ihnen nicht alles glauben. Sie sind durch die Angst vor den Prügeln schon ein
wenig schwachsinnig geworden. Was dieser hier z. B.” – er zeigte auf Willem –
“über seine mögliche Laufbahn erzählt hat, ist geradezu lächerlich. Sieh an,
wie fett er ist,– die ersten Rutenstreiche werden überhaupt im Fett verloren
gehn. – Weißt Du wodurch er so fett geworden ist? Er hat die Gewohnheit allen
Verhafteten das Frühstück aufzuessen. Hat er nicht auch Dein Frühstück
aufgegessen? Nun ich sagte es ja. Aber ein Mann mit einem solchen Bauch kann
nie und nimmermehr Prügler werden, das ist ganz ausgeschlossen.” “Es gibt auch
solche Prügler,” behauptete Willem der gerade seinen Hosengürtel löste. “Nein!”
sagte der Prügler und strich ihm mit der Rute derartig über den Hals, daß er
zusammenzuckte, “Du sollst nicht zuhören, sondern Dich ausziehn.” “Ich würde
Dich gut belohnen, wenn Du sie laufen läßt,” sagte K. und zog ohne den Prügler
nochmals anzusehn – solche Geschäfte werden beiderseits mit niedergeschlagenen
Augen am besten abgewickelt – seine Brieftasche hervor. “Du willst wohl dann
auch mich anzeigen,” sagte der Prügler, “und auch noch mir Prügel verschaffen.
Nein, nein!” “Sei doch vernünftig,” sagte K., “wenn ich gewollt hätte, daß
diese zwei bestraft werden, würde ich sie doch jetzt nicht loskaufen wollen.
Ich könnte einfach die Tür hier zuschlagen, nichts weiter sehn und hören wollen
und nachhausegehn. Nun tue ich das aber nicht, vielmehr liegt mir ernstlich
daran sie zu befreien; hätte ich geahnt, daß sie bestraft werden sollen oder
auch nur bestraft werden können hätte ich ihre Namen nie genannt. Ich halte sie
nämlich gar nicht für schuldig, schuldig ist die Organisation, schuldig sind
die hohen Beamten.” “So ist es,” riefen die Wächter und bekamen sofort einen
Hieb über ihren schon entkleideten Rücken. “Hättest Du hier unter Deiner Rute
einen hohen Richter,” sagte K. und drückte während er sprach die Rute, die sich
schon wieder erheben wollte, nieder, “ich würde Dich wahrhaftig nicht hindern
loszuschlagen, im Gegenteil ich würde Dir noch Geld geben, damit Du Dich für
die gute Sache kräftigst.” “Was Du sagst, klingt ja glaubwürdig,” sagte der Prügler,
“aber ich lasse mich nicht bestechen. Ich bin zum Prügeln angestellt, also
prügle ich.” Der Wächter Franz, der vielleicht in Erwartung eines guten
Ausganges des Eingreifens von K. bisher ziemlich zurückhaltend gewesen war,
trat jetzt nur noch mit den Hosen bekleidet zur Tür, hing sich niederknieend an
K.’s Arm und flüsterte: “Wenn Du für uns beide Schonung nicht durchsetzen
kannst, so versuche wenigstens mich zu befreien. Willem ist älter als ich, in
jeder Hinsicht weniger empfindlich, auch hat er schon einmal vor paar Jahren
eine leichte Prügelstrafe bekommen, ich aber bin noch nicht entehrt und bin
doch zu meiner Handlungsweise nur durch Willem gebracht worden, der in Gutem
und Schlechtem mein Lehrer ist. Unten vor der Bank wartet meine arme Braut auf
den Ausgang, ich schäme mich ja so erbärmlich.” Er trocknete mit K.’s Rock sein
von Tränen ganz überlaufenes Gesicht. “Ich warte nicht mehr,” sagte der
Prügler, faßte die Rute mit beiden Händen und hieb auf Franz ein, während
Willem in einem Winkel kauerte und heimlich zusah, ohne eine Kopfwendung zu
wagen. Da erhob sich der Schrei, den Franz ausstieß, ungeteilt und
unveränderlich, er schien nicht von einem Menschen, sondern von einem
gemarterten Instrument zu stammen, der ganze Korridor tönte von ihm, das ganze
Haus mußte es hören, “schrei nicht,” rief K., er konnte sich nicht zurückhalten
und während er gespannt in die Richtung sah, aus der die Diener kommen mußten,
stieß er in Franz, nicht stark aber doch stark genug, daß der Besinnungslose
niederfiel und im Krampf mit den Händen den Boden absuchte; den Schlägen
entgieng er aber nicht, die Rute fand ihn auch auf der Erde, während er sich
unter ihr wälzte, schwang sich ihre Spitze regelmäßig auf und ab. Und schon
erschien in der Ferne ein Diener und ein paar Schritte hinter ihm ein zweiter.
K. hatte schnell die Tür zugeworfen, war zu einem nahen Hoffenster getreten und
öffnete es. Das Schreien hatte vollständig aufgehört. Um die Diener nicht
herankommen zu lassen, rief er: “Ich bin es.” “Guten Abend, Herr Prokurist,”
rief es zurück. “Ist etwas geschehn?” “Nein nein,” antwortete K., “es schreit
nur ein Hund auf dem Hof.” Als die Diener sich doch nicht rührten, fügte er
hinzu: “Sie können bei Ihrer Arbeit bleiben.” Um sich in kein Gespräch mit den
Dienern einlassen zu müssen, beugte er sich aus dem Fenster. Als er nach einem
Weilchen wieder in den Korridor sah, waren sie schon weg. K. aber blieb nun
beim Fenster, in die Rumpelkammer wagte er nicht zu gehn und nachhause gehn
wollte er auch nicht. Es war ein kleiner viereckiger Hof, in den er hinunter
sah, ringsherum waren Bureauräume untergebracht, alle Fenster waren jetzt schon
dunkel, nur die obersten fiengen einen Widerschein des Mondes auf. K. suchte
angestrengt mit den Blicken in das Dunkel eines Hofwinkels einzudringen, in dem
einige Handkarren ineinandergefahren waren. Es quälte ihn, daß es ihm nicht
gelungen war, das Prügeln zu verhindern, aber es war nicht seine Schuld, daß es
nicht gelungen war, hätte Franz nicht geschrien – gewiß es mußte sehr wehgetan
haben, aber in einem entscheidenden Augenblick muß man sich beherrschen – hätte
er nicht geschrien, so hätte K., wenigstens sehr wahrscheinlich, noch ein
Mittel gefunden, den Prügler zu überreden. Wenn die ganze unterste
Beamtenschaft Gesindel war, warum hätte gerade der Prügler, der das
unmenschlichste Amt hatte, eine Ausnahme machen sollen, K. hatte auch gut
beobachtet, wie ihm beim Anblick der Banknote die Augen geleuchtet hatten, er
hatte mit dem Prügeln offenbar nur deshalb Ernst gemacht, um die Bestechungssumme
noch ein wenig zu erhöhn. Und K. hätte nicht gespart, es lag ihm wirklich daran
die Wächter zu befreien; wenn er nun schon angefangen hatte die Verderbnis
dieses Gerichtswesens zu bekämpfen, so war es selbstverständlich, daß er auch
von dieser Seite eingriff. Aber in dem Augenblick, wo Franz zu schreien
angefangen hatte, war natürlich alles zuende. K. konnte nicht zulassen, daß die
Diener und vielleicht noch alle möglichen Leute kämen und ihn in
Unterhandlungen mit der Gesellschaft in der Rumpelkammer überraschten. Diese
Aufopferung konnte wirklich niemand von K. verlangen. Wenn er das zu tun
beabsichtigt hätte, so wäre es ja fast einfacher gewesen, K. hätte sich selbst
ausgezogen und dem Prügler als Ersatz für die Wächter angeboten. Übrigens hätte
der Prügler diese Vertretung gewiß nicht angenommen, da er dadurch, ohne einen
Vorteil zu gewinnen, dennoch seine Pflicht schwer verletzt hätte und
wahrscheinlich doppelt verletzt hätte, denn K. mußte wohl, solange er im
Verfahren stand, für alle Angestellten des Gerichtes unverletzlich sein.
Allerdings konnten hier auch besondere Bestimmungen gelten. Jedenfalls hatte K.
nichts anderes tun können, als die Tür zuschlagen, trotzdem dadurch auch jetzt
noch für K. durchaus nicht jede Gefahr beseitigt blieb. Daß er noch zuletzt
Franz einen Stoß gegeben hatte, war bedauerlich und nur durch seine Aufregung
zu entschuldigen.
In
der Ferne hörte er die Schritte der Diener; um ihnen nicht auffällig zu werden,
schloß er das Fenster und gieng in der Richtung zur Haupttreppe. Bei der Tür
zur Rumpelkammer blieb er ein wenig stehn und horchte. Es war ganz still. Der
Mann konnte die Wächter totgeprügelt haben, sie waren ja ganz in seine Macht
gegeben. K. hatte schon die Hand nach der Klinke ausgestreckt, zog sie dann aber
wieder zurück. Helfen konnte er niemandem mehr und die Diener mußten gleich
kommen; er gelobte sich aber, die Sache noch zur Sprache zu bringen und die
wirklich Schuldigen, die hohen Beamten, von denen sich ihm noch keiner zu
zeigen gewagt hatte, soweit es in seinen Kräften war, gebührend zu bestrafen.
Als er die Freitreppe der Bank hinuntergieng, beobachtete er sorgfaltig alle
Passanten, aber selbst in der weitern Umgebung war kein Mädchen zu sehn, das
auf jemanden gewartet hätte. Die Bemerkung Franzens, daß seine Braut auf ihn
warte, erwies sich als eine allerdings verzeihliche Lüge, die nur den Zweck
gehabt hatte größeres Mitleid zu erwecken.
Auch
noch am nächsten Tage kamen K. die Wächter nicht aus dem Sinn; er war bei der
Arbeit zerstreut und mußte, um sie zu bewältigen, noch ein wenig länger im
Bureau bleiben als am Tag vorher. Als er auf dem Nachhauseweg wieder an der
Rumpelkammer vorüberkam, öffnete er sie wie aus Gewohnheit. Vor dem, was er
statt des erwarteten Dunkels erblickte, wußte er sich nicht zu fassen. Alles
war unverändert, so wie er es am Abend vorher beim Öffnen der Tür gefunden
hatte. Die Drucksorten und Tintenflaschen gleich hinter der Schwelle, der
Prügler mit der Rute, die noch vollständig angezogenen Wächter, die Kerze auf
dem Regal und die Wächter begannen zu klagen und riefen: “Herr!” Sofort warf K.
die Tür zu und schlug noch mit den Fäusten gegen sie, als sei sie dann fester
verschlossen. Fast weinend lief er zu den Dienern, die ruhig an der
Kopiermaschine arbeiteten und erstaunt in ihrer Arbeit innehielten. “Räumt doch
endlich die Rumpelkammer aus,” rief er. “Wir versinken ja im Schmutz.” Die
Diener waren bereit es am nächsten Tag zu tun, K. nickte, jetzt spät am Abend
konnte er sie nicht mehr zu der Arbeit zwingen, wie er es eigentlich
beabsichtigt hatte. Er setzte sich ein wenig, um die Diener ein Weilchen lang
in der Nähe zu behalten, warf einige Kopien durcheinander, wodurch er den
Anschein zu erwecken glaubte, daß er sie überprüfe und gieng dann, da er
einsah, daß die Diener nicht wagen würden, gleichzeitig mit ihm wegzugehn, müde
und gedankenlos nachhause.
Der Onkel / Leni
Eines
Nachmittags – K. war gerade vor dem Postabschluß sehr beschäftigt – drängte
sich zwischen zwei Dienern, die Schriftstücke hereintrugen K.’s Onkel Karl, ein
kleiner Grundbesitzer vom Lande, ins Zimmer. K. erschrak bei dem Anblick
weniger, als er schon vor längerer Zeit bei der Vorstellung vom Kommen des
Onkels erschrocken war. Der Onkel mußte kommen, das stand bei K. schon etwa
einen Monat lang fest. Schon damals hatte er ihn zu sehen geglaubt, wie er ein
wenig gebückt, den eingedrückten Panamahut in der Linken die Rechte schon von
weitem ihm entgegenstreckte und sie mit rücksichtsloser Eile über den
Schreibtisch hin reichte, alles umstoßend, was ihm im Wege war. Der Onkel
befand sich immer in Eile, denn er war von dem unglücklichen Gedanken verfolgt,
bei seinem immer nur eintägigen Aufenthalt in der Hauptstadt müsse er alles
erledigen können, was er sich vorgenommen hatte und dürfe überdies auch kein gelegentlich
sich darbietendes Gespräch oder Geschäft oder Vergnügen sich entgehen lassen.
Dabei mußte ihm K., der ihm als seinem gewesenen Vormund besonders verpflichtet
war, in allem möglichen behilflich sein und ihn außerdem bei sich übernachten
lassen. “Das Gespenst vom Lande” pflegte er ihn zu nennen.
Gleich
nach der Begrüßung – sich in das Fauteuil zu setzen, wozu ihn K. einlud, hatte
er keine Zeit – bat er K. um ein kurzes Gespräch unter vier Augen. “Es ist
notwendig,” sagte er, mühselig schluckend, “zu meiner Beruhigung ist es
notwendig.” K. schickte sofort die Diener aus dem Zimmer mit der Weisung
niemand einzulassen. “Was habe ich gehört, Josef?” rief der Onkel, als sie
allein waren, setzte sich auf den Tisch und stopfte unter sich ohne hinzusehn
verschiedene Papiere, um besser zu sitzen. K. schwieg, er wußte was kommen
würde, aber, plötzlich von der anstrengenden Arbeit entspannt, wie er war, gab
er sich zunächst einer angenehmen Mattigkeit hin und sah durch das Fenster auf
die gegenüberliegende Straßenseite, von der von seinem Sitz aus nur ein kleiner
dreieckiger Ausschnitt zu sehen war, ein Stück leerer Häusermauer zwischen zwei
Geschäftsauslagen. “Du schaust aus dem Fenster,” rief der Onkel mit erhobenen
Armen, “um Himmelswillen Josef antworte mir doch. Ist es wahr, kann es denn
wahr sein?” “Lieber Onkel,” sagte K. und riß sich von seiner Zerstreutheit los,
“ich weiß ja gar nicht, was Du von mir willst.” “Josef,” sagte der Onkel
warnend, “die Wahrheit hast Du immer gesagt soviel ich weiß. Soll ich Deine
letzten Worte als schlimmes Zeichen auffassen.” “Ich ahne ja, was Du willst,”
sagte K. folgsam, “Du hast wahrscheinlich von meinem Proceß gehört.” “So ist
es,” antwortete der Onkel, langsam nickend, “ich habe von Deinem Proceß
gehört.” “Von wem denn?” fragte K. “Erna hat es mir geschrieben,” sagte der
Onkel, “sie hat ja keinen Verkehr mit Dir, Du kümmerst Dich leider nicht viel
um sie, trotzdem hat sie es erfahren. Heute habe ich den Brief bekommen und bin
natürlich sofort hergefahren. Aus keinem andern Grund, aber es scheint ein
genügender Grund zu sein. Ich kann Dir die Briefstelle die Dich betrifft
vorlesen.” Er zog den Brief aus der Brieftasche. “Hier ist es. Sie schreibt:
‚Josef habe ich schon lange nicht gesehn, vorige Woche war ich einmal in der Bank,
aber Josef war so beschäftigt, daß ich nicht vorgelassen wurde; ich habe fast
eine Stunde gewartet, mußte dann aber nachhause, weil ich Klavierstunde hatte.
Ich hätte gern mit ihm gesprochen, vielleicht wird sich nächstens eine
Gelegenheit finden. Zu meinem Namenstag hat er mir eine große Schachtel
Chokolade geschickt, es war sehr lieb und aufmerksam. Ich hatte vergessen, es
Euch damals zu schreiben, erst jetzt da Ihr mich fragt, erinnere ich mich
daran. Chokolade müßt Ihr wissen verschwindet nämlich in der Pension sofort,
kaum ist man zum Bewußtsein dessen gekommen, daß man mit Chokolade beschenkt
worden ist, ist sie auch schon weg. Aber was Josef betrifft, wollte ich Euch
noch etwas sagen: Wie erwähnt, wurde ich in der Bank nicht zu ihm vorgelassen, weil
er gerade mit einem Herrn verhandelte. Nachdem ich eine Zeitlang ruhig gewartet
hatte, fragte ich einen Diener, ob die Verhandlung noch lange dauern werde. Er
sagte das dürfte wohl sein, denn es handle sich wahrscheinlich um den Proceß,
der gegen den Herrn Prokuristen geführt werde. Ich fragte, was denn das für ein
Proceß sei, ob er sich nicht irre, er aber sagte, er irre sich nicht, es sei
ein Proceß undzwar ein schwerer Proceß, mehr aber wisse er nicht. Er selbst
möchte dem Herrn Prokuristen gerne helfen, denn dieser sei ein sehr guter und
gerechter Herr, aber er wisse nicht wie er es anfangen sollte und er möchte nur
wünschen, daß sich einflußreiche Herren seiner annehmen würden. Dies werde auch
sicher geschehn und es werde schließlich ein gutes Ende nehmen, vorläufig aber
stehe es, wie er aus der Laune des Herrn Prokuristen entnehmen könne, gar nicht
gut. Ich legte diesen Reden natürlich nicht viel Bedeutung bei, suchte auch den
einfältigen Diener zu beruhigen, verbot ihm andern gegenüber davon zu sprechen
und halte das Ganze für ein Geschwätz. Trotzdem wäre es vielleicht gut, wenn
Du, liebster Vater, bei Deinem nächsten Besuch der Sache nachgehn wolltest, es
wird Dir leicht sein, Genaueres zu erfahren und wenn es wirklich nötig sein
sollte, durch Deine großen einflußreichen Bekanntschaften einzugreifen. Sollte
es aber nicht nötig sein, was ja das Wahrscheinlichste ist, so wird es
wenigstens Deiner Tochter bald Gelegenheit geben Dich zu umarmen, was sie
freuen würde.‘ Ein gutes Kind,” sagte der Onkel als er die Vorlesung beendet
hatte und wischte einige Tränen aus den Augen fort. K. nickte, er hatte infolge
der verschiedenen Störungen der letzten Zeit vollständig an Erna vergessen,
sogar an ihren Geburtstag hatte er vergessen und die Geschichte von der Chokolade
war offenbar nur zu dem Zweck erfunden, um ihn vor Onkel und Tante in Schutz zu
nehmen. Es war sehr rührend und mit den Teaterkarten, die er ihr von jetzt ab
regelmäßig schicken wollte, gewiß nicht genügend belohnt, aber zu Besuchen in
der Pension und zu Unterhaltungen mit einer kleinen siebzehnjährigen
Gymnasiastin fühlte er sich jetzt nicht geeignet. “Und was sagst Du jetzt?”
fragte der Onkel, der durch den Brief an alle Eile und Aufregung vergessen
hatte und ihn noch einmal zu lesen schien. “Ja, Onkel,” sagte K., “es ist
wahr.” “Wahr?” rief der Onkel. “Was ist wahr? Wie kann es denn wahr sein? Was
für ein Proceß? Doch nicht ein Strafproceß?” “Ein Strafproceß,” antwortete K.
“Und Du sitzt ruhig hier und hast einen Strafproceß auf dem Halse?” rief der
Onkel, der immer lauter wurde. “Je ruhiger ich bin, desto besser ist es für den
Ausgang,” sagte K. müde. “Fürchte nichts.” “Das kann mich nicht beruhigen,”
rief der Onkel, “Josef, lieber Josef, denke an Dich, an Deine Verwandten, an
unsern guten Namen. Du warst bisher unsere Ehre, Du darfst nicht unsere Schande
werden. Deine Haltung,” er sah K. mit schief geneigtem Kopfe an, “gefällt mir
nicht, so verhält sich kein unschuldig Angeklagter, der noch bei Kräften ist.
Sag mir nur schnell, um was es sich handelt, damit ich Dir helfen kann. Es
handelt sich natürlich um die Bank?” “Nein,” sagte K. und stand auf, “Du
sprichst aber zu laut, lieber Onkel, der Diener steht wahrscheinlich an der Tür
und horcht. Das ist mir unangenehm. Wir wollen lieber weggehn. Ich werde Dir
dann alle Fragen so gut es geht beantworten. Ich weiß sehr gut, daß ich der
Familie Rechenschaft schuldig bin.” “Richtig,” schrie der Onkel, “sehr richtig,
beeile Dich nur, Josef, beeile Dich.” “Ich muß nur noch einige Aufträge geben,”
sagte K. und berief telephonisch seinen Vertreter zu sich, der in wenigen
Augenblicken eintrat. Der Onkel in seiner Aufregung zeigte ihm mit der Hand,
daß K. ihn habe rufen lassen, woran auch sonst kein Zweifel gewesen wäre. K.,
der vor dem Schreibtisch stand, erklärte dem jungen Mann, der kühl aber
aufmerksam zuhörte, mit leiser Stimme unter Zuhilfenahme verschiedener
Schriftstücke, was in seiner Abwesenheit heute noch erledigt werden müsse. Der
Onkel störte, indem er zuerst mit großen Augen und nervösem Lippenbeißen
dabeistand, ohne allerdings zuzuhören, aber der Anschein dessen war schon
störend genug. Dann aber gieng er im Zimmer auf und ab und blieb hie und da vor
dem Fenster oder vor einem Bild stehn, wobei er immer in verschiedene Ausrufe
ausbrach, wie: “Mir ist es vollständig unbegreiflich” oder “Jetzt sagt mir nur
was soll denn daraus werden”. Der junge Mann tat, als bemerke er nichts davon,
hörte ruhig K.’s Aufträge bis zu Ende an, notierte sich auch einiges und gieng,
nachdem er sich vor K. wie auch vor dem Onkel verneigt hatte, der ihm aber
gerade den Rücken zukehrte, aus dem Fenster sah und mit ausgestreckten Händen
die Vorhänge zusammenknüllte. Die Tür hatte sich noch kaum geschlossen, als der
Onkel ausrief: “Endlich ist der Hampelmann weggegangen, jetzt können doch auch
wir gehn. Endlich!” Es gab leider kein Mittel, den Onkel zu bewegen, in der
Vorhalle, wo einige Beamte und Diener herumstanden und die gerade auch der
Direktor-Stellvertreter kreuzte, die Fragen wegen des Processes zu unterlassen.
“Also, Josef,” begann der Onkel, während er die Verbeugungen der Umstehenden
durch leichtes Salutieren beantwortete, “jetzt sag’ mir offen, was es für ein
Proceß ist.” K. machte einige nichtssagende Bemerkungen, lachte auch ein wenig
und erst auf der Treppe erklärte er dem Onkel, daß er vor den Leuten nicht habe
offen reden wollen. “Richtig,” sagte der Onkel, “aber jetzt rede.” Mit
geneigtem Kopf, eine Zigarre in kurzen, eiligen Zügen rauchend hörte er zu.
“Vor allem, Onkel,” sagte K., “handelt es sich gar nicht um einen Proceß vor
dem gewöhnlichen Gericht.” “Das ist schlimm,” sagte der Onkel. “Wie?” sagte K.
und sah den Onkel an. “Daß das schlimm ist, meine ich,” wiederholte der Onkel.
Sie standen auf der Freitreppe, die zur Straße führte; da der Portier zu
horchen schien, zog K. den Onkel hinunter; der lebhafte Straßenverkehr nahm sie
auf. Der Onkel der sich in K. eingehängt hatte, fragte nicht mehr so dringend
nach dem Proceß, sie giengen sogar eine Zeitlang schweigend weiter. “Wie ist es
aber geschehn?” fragte endlich der Onkel so plötzlich stehen bleibend, daß die
hinter ihm gehenden Leute erschreckt auswichen. “Solche Dinge kommen doch nicht
plötzlich, sie bereiten sich seit langem vor, es müssen Anzeichen dessen
gewesen sein, warum hast Du mir nicht geschrieben. Du weißt daß ich für Dich
alles tue, ich bin ja gewissermaßen noch Dein Vormund und war bis heute stolz
darauf. Ich werde Dir natürlich auch jetzt noch helfen, nur ist es jetzt, wenn
der Proceß schon im Gange ist, sehr schwer. Am besten wäre es jedenfalls, wenn
Du Dir jetzt einen kleinen Urlaub nimmst und zu uns aufs Land kommst. Du bist
auch ein wenig abgemagert, jetzt merke ich es. Auf dem Land wirst Du Dich
kräftigen, das wird gut sein, es stehen Dir ja gewiß Anstrengungen bevor.
Außerdem aber wirst Du dadurch dem Gericht gewissermaßen entzogen sein. Hier
haben sie alle möglichen Machtmittel, die sie notwendiger Weise, automatischer
Weise auch Dir gegenüber anwenden; auf das Land müßten sie aber erst Organe
delegieren oder nur brieflich telegraphisch telephonisch auf Dich einzuwirken
suchen. Das schwächt natürlich die Wirkung ab, befreit Dich zwar nicht, aber
läßt Dich aufatmen.” “Sie könnten mir ja verbieten, wegzufahren,” sagte K. den
die Rede des Onkels ein wenig in ihren Gedankengang gezogen hatte. “Ich glaube
nicht daß sie das tun werden,” sagte der Onkel nachdenklich, “so groß ist der
Verlust an Macht nicht, den sie durch Deine Abreise erleiden.” “Ich dachte,”
sagte K. und faßte den Onkel unterm Arm, um ihn am Stehenbleiben hindern zu
können, “daß Du dem Ganzen noch weniger Bedeutung beimessen würdest als ich und
jetzt nimmst Du es selbst so schwer.” “Josef,” rief der Onkel und wollte sich
ihm entwinden um stehn bleiben zu können aber K. ließ ihn nicht, “Du bist
verwandelt, Du hattest doch immer ein so richtiges Auffassungsvermögen und
gerade jetzt verläßt es Dicht Willst Du denn den Proceß verlieren? Weißt Du was
das bedeutet? Das bedeutet, daß Du einfach gestrichen wirst. Und daß die ganze
Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemütigt wird.
Josef, nimm Dich doch zusammen. Deine Gleichgültigkeit bringt mich um den
Verstand. Wenn man Dich ansieht möchte man fast dem Sprichwort glauben: ‚Einen
solchen Proceß haben, heißt ihn schon verloren haben‘.” “Lieber Onkel,” sagte
K., “die Aufregung ist so unnütz, sie ist es auf Deiner Seite und wäre es auch
auf meiner. Mit Aufregung gewinnt man die Processe nicht, laß auch meine
praktischen Erfahrungen ein wenig gelten, so wie ich Deine, selbst wenn sie
mich überraschen, immer und auch jetzt sehr achte. Da Du sagst, daß auch die
Familie durch den Proceß in Mitleidenschaft gezogen würde,– was ich für meinen
Teil durchaus nicht begreifen kann, das ist aber Nebensache – so will ich Dir
gerne in allem folgen. Nur den Landaufenthalt halte ich selbst in Deinem Sinn
nicht für vorteilhaft, denn das würde Flucht und Schuldbewußtsein bedeuten.
Überdies bin ich hier zwar mehr verfolgt, kann aber auch selbst die Sache mehr
betreiben.” “Richtig,” sagte der Onkel in einem Ton als kämen sie jetzt endlich
einander näher, “ich machte den Vorschlag nur, weil ich wenn Du hier bliebst
die Sache von Deiner Gleichgültigkeit gefährdet sah und es für besser hielt,
wenn ich statt Deiner für Dich arbeitete. Willst Du es aber mit aller Kraft
selbst betreiben, so ist es natürlich weit besser.” “Darin wären wir also
einig,” sagte K. “Und hast Du jetzt einen Vorschlag dafür, was ich zunächst
machen soll?” “Ich muß mir natürlich die Sache noch überlegen,” sagte der
Onkel, “Du mußt bedenken, daß ich jetzt schon zwanzig Jahre fast ununterbrochen
auf dem Land bin, dabei läßt der Spürsinn in diesen Richtungen nach.
Verschiedene wichtige Verbindungen mit Persönlichkeiten, die sich hier
vielleicht besser auskennen, haben sich von selbst gelockert. Ich bin auf dem
Land ein wenig verlassen, das weißt Du ja. Selbst merkt man es eigentlich erst
bei solchen Gelegenheiten. Zum Teil kam mir Deine Sache auch unerwartet, wenn
ich auch merkwürdiger Weise nach Ernas Brief schon etwas derartiges ahnte und
es heute bei Deinem Anblick fast mit Bestimmtheit wußte. Aber das ist
gleichgültig, das Wichtigste ist jetzt, keine Zeit zu verlieren.” Schon während
seiner Rede hatte er auf den Fußspitzen stehend einem Automobil gewinkt und zog
jetzt während er gleichzeitig dem Wagenlenker eine Adresse zurief K. hinter
sich in den Wagen. “Wir fahren jetzt zum Advokaten Huld,” sagte er, “er war
mein Schulkollege. Du kennst den Namen gewiß auch Nicht? Das ist aber
merkwürdig. Er hat doch als Verteidiger und Armenadvokat einen bedeutenden Ruf.
Ich aber habe besonders zu ihm als Menschen großes Vertrauen.” “Mir ist alles
recht, was Du unternimmst,” sagte K., trotzdem ihm die eilige und dringliche
Art mit der der Onkel die Angelegenheit behandelte, Unbehagen verursachte. Es
war nicht sehr erfreulich, als Angeklagter zu einem Armenadvokaten zu fahren.
“Ich wußte nicht,” sagte er, “daß man in einer solchen Sache auch einen
Advokaten zuziehn könne.” “Aber natürlich,” sagte der Onkel, “das ist ja
selbstverständlich. Warum denn nicht Und nun erzähle mir, damit ich über die
Sache genau unterrichtet bin, alles was bisher geschehen ist.” K. begann sofort
zu erzählen, ohne irgendetwas zu verschweigen, seine vollständige Offenheit war
der einzige Protest, den er sich gegen des Onkels Ansicht, der Proceß sei eine
große Schande, erlauben konnte. Fräulein Bürstners Namen erwähnte er nur einmal
und flüchtig, aber das beeinträchtigte nicht die Offenheit, denn Fräulein
Bürstner stand mit dem Proceß in keiner Verbindung. Während er erzählte, sah er
aus dem Fenster und beobachtete, wie sie sich gerade jener Vorstadt näherten,
in der die Gerichtskanzleien waren, er machte den Onkel darauf aufmerksam, der
aber das Zusammentreffen nicht besonders auffallend fand. Der Wagen hielt vor
einem dunklen Haus. Der Onkel läutete gleich im Parterre bei der ersten Tür;
während sie warteten, fletschte er lächelnd seine großen Zähne und flüsterte:
“Acht Uhr, eine ungewöhnliche Zeit für Parteienbesuche. Huld nimmt es mir aber
nicht übel.” Im Guckfenster der Tür erschienen zwei große schwarze Augen, sahen
ein Weilchen die zwei Gäste an und verschwanden; die Tür öffnete sich aber
nicht. Der Onkel und K. bestätigten einander gegenseitig die Tatsache, die zwei
Augen gesehen zu haben. “Ein neues Stubenmädchen, das sich vor Fremden
fürchtet,” sagte der Onkel und klopfte nochmals. Wieder erschienen die Augen,
man konnte sie jetzt fast für traurig halten, vielleicht war das aber auch nur
eine Täuschung, hervorgerufen durch die offene Gasflamme, die nahe über den
Köpfen stark zischend brannte, aber wenig Licht gab. “Öffnen Sie,” rief der
Onkel und hieb mit der Faust gegen die Tür, “es sind Freunde des Herrn
Advokaten.” “Der Herr Advokat ist krank,” flüsterte es hinter ihnen. In einer
Tür am andern Ende des kleinen Ganges stand ein Herr im Schlafrock und machte
mit äußerst leiser Stimme diese Mitteilung. Der Onkel, der schon wegen des
langen Wartens wütend war, wandte sich mit einem Ruck um, rief: “Krank? Sie
sagen, er ist krank?” und gieng fast drohend, als sei der Herr die Krankheit,
auf ihn zu. “Man hat schon geöffnet,” sagte der Herr, zeigte auf die Tür des
Advokaten, raffte seinen Schlafrock zusammen und verschwand. Die Tür war
wirklich geöffnet worden, ein junges Mädchen – K. erkannte die dunklen ein
wenig hervorgewälzten Augen wieder – stand in langer weißer Schürze im
Vorzimmer und hielt eine Kerze in der Hand. “Nächstens öffnen Sie früher,”
sagte der Onkel statt einer Begrüßung, während das Mädchen einen kleinen Knix
machte. “Komm, Josef,” sagte er dann zu K., der sich langsam an dem Mädchen
vorüberschob. “Der Herr Advokat ist krank,” sagte das Mädchen, da der Onkel
ohne sich aufzuhalten auf eine Tür zueilte. K. staunte das Mädchen noch an,
während es sich schon umgedreht hatte, um die Wohnungstüre wieder zu
versperren, es hatte ein puppenförmig gerundetes Gesicht, nicht nur die
bleichen Wangen und das Kinn verliefen rund, auch die Schläfen und die
Stirnränder. “Josef,” rief der Onkel wieder und das Mädchen fragte er: “Es ist
das Herzleiden?” “Ich glaube wohl,” sagte das Mädchen, es hatte Zeit gefunden
mit der Kerze voranzugehn und die Zimmertür zu öffnen. In einem Winkel des
Zimmers, wohin das Kerzenlicht noch nicht drang, erhob sich im Bett ein Gesicht
mit langem Bart. “Leni, wer kommt denn,” fragte der Advokat, der durch die
Kerze geblendet die Gäste noch nicht erkannte. “Albert, Dein alter Freund ist
es,” sagte der Onkel. “Ach Albert,” sagte der Advokat und ließ sich auf die
Kissen zurückfallen, als bedürfe es diesem Besuch gegenüber keiner Verstellung.
“Steht es wirklich so schlecht?” fragte der Onkel und setzte sich auf den
Bettrand. “Ich glaube es nicht. Es ist ein Anfall Deines Herzleidens und wird
vorübergehn wie die frühern.” “Möglich,” sagte der Advokat leise, “es ist aber
ärger als es jemals gewesen ist. Ich atme schwer, schlafe gar nicht und
verliere täglich an Kraft.” So,” sagte der Onkel und drückte den Panamahut mit
seiner großen Hand fest aufs Knie. “Das sind schlechte Nachrichten. Hast Du
übrigens die richtige Pflege? Es ist auch so traurig hier, so dunkel. Es ist
schon lange her, seitdem ich zum letztenmal hier war, damals schien es mir
freundlicher. Auch Dein kleines Fräulein hier scheint nicht sehr lustig oder
sie verstellt sich.” Das Mädchen stand noch immer mit der Kerze nahe bei der
Tür, soweit ihr unbestimmter Blick erkennen ließ sah sie eher K. an als den
Onkel, selbst als dieser jetzt von ihr sprach. K. lehnte an einem Sessel, den
er in die Nähe des Mädchens geschoben hatte. “Wenn man so krank ist, wie ich,”
sagte der Advokat, “muß man Ruhe haben. Mir ist es nicht traurig.” Nach einer
kleinen Pause fügte er hinzu: “Und Leni pflegt mich gut, sie ist brav.” Den
Onkel konnte das aber nicht überzeugen, er war sichtlich gegen die Pflegerin
voreingenommen und wenn er jetzt auch dem Kranken nichts entgegnete so
verfolgte er doch die Pflegerin mit strengen Blicken, als sie jetzt zum Bett
hingieng, die Kerze auf das Nachttischchen stellte, sich über den Kranken
hinbeugte und beim Ordnen der Kissen mit ihm flüsterte. Er vergaß fast die
Rücksicht auf den Kranken, stand auf, gieng hinter der Pflegerin hin und her
und K. hätte es nicht gewundert, wenn er sie hinten an den Röcken erfaßt und
vom Bett fortgezogen hätte. K. selbst sah allem ruhig zu, die Krankheit des
Advokaten war ihm sogar nicht ganz unwillkommen, dem Eifer, den der Onkel für
seine Sache entwickelt hatte, hatte er sich nicht entgegenstellen können, die
Ablenkung, die dieser Eifer jetzt ohne sein Zutun erfuhr, nahm er gerne hin. Da
sagte der Onkel, vielleicht nur in der Absicht die Pflegerin zu beleidigen:
“Fräulein bitte, lassen Sie uns ein Weilchen allein, ich habe mit meinem Freund
eine persönliche Angelegenheit zu besprechen.” Die Pflegerin, die noch weit
über den Kranken hingebeugt war und gerade das Leintuch an der Wand glättete,
wendete nur den Kopf und sagte sehr ruhig, was einen auffallenden Unterschied
zu dem von Wut stockenden und dann wieder überfließenden Reden des Onkels
bildete: “Sie sehen, der Herr ist so krank, er kann keine Angelegenheiten
besprechen.” Sie hatte die Worte des Onkels wahrscheinlich nur aus
Bequemlichkeit wiederholt, immerhin konnte es selbst von einem Unbeteiligten
als spöttisch aufgefaßt werden, der Onkel aber fuhr natürlich wie ein
Gestochener auf. “Du Verdammte,” sagte er im ersten Gurgeln der Aufregung noch
ziemlich unverständlich, K. erschrak trotzdem er etwas Ähnliches erwartet
hatte, und lief auf den Onkel zu mit der bestimmten Absicht ihm mit beiden
Händen den Mund zu schließen. Glücklicherweise erhob sich aber hinter dem
Mädchen der Kranke, der Onkel machte ein finsteres Gesicht, als schlucke er
etwas Abscheuliches hinunter, und sagte dann ruhiger: “Wir haben natürlich auch
noch den Verstand nicht verloren; wäre das was ich verlange nicht möglich,
würde ich es nicht verlangen. Bitte gehn Sie jetzt.” Die Pflegerin stand
aufgerichtet am Bett, dem Onkel voll zugewendet, mit der einen Hand streichelte
sie, wie K. zu bemerken glaubte die Hand des Advokaten. “Du kannst vor Leni
alles sagen,” sagte der Kranke zweifellos im Ton einer dringenden Bitte. “Es
betrifft nicht mich,” sagte der Onkel, “es ist nicht mein Geheimnis.” Und er
drehte sich um, als gedenke er in keine Verhandlungen mehr einzugehn, gebe aber
noch eine kleine Bedenkzeit. “Wen betrifft es denn?” fragte der Advokat mit
erlöschender Stimme und legte sich wieder zurück. “Meinen Neffen,” sagte der
Onkel, “ich habe ihn auch mitgebracht.” Und er stellte vor: “Prokurist Josef
K.” “Oh,” sagte der Kranke viel lebhafter und streckte K. die Hand entgegen,
“verzeihen Sie, ich habe Sie gar nicht bemerkt.” “Geh, Leni,” sagte er dann zu
der Pflegerin, die sich auch gar nicht mehr wehrte, und reichte ihr die Hand,
als gelte es einen Abschied für lange Zeit. “Du bist also,” sagte er endlich
zum Onkel, der auch versöhnt nähergetreten war, “nicht gekommen, mir einen
Krankenbesuch zu machen, sondern Du kommst in Geschäften.” Es war als hätte die
Vorstellung eines Krankenbesuches den Advokaten bisher gelähmt, so gekräftigt
sah er jetzt aus, blieb ständig auf einen Elbogen aufgestützt, was ziemlich
anstrengend sein mußte und zog immer wieder an einem Bartstrahn in der Mitte seines
Bartes. “Du siehst schon viel gesünder aus,” sagte der Onkel, “seitdem diese
Hexe draußen ist.” Er unterbrach sich, flüsterte: “Ich wette daß sie horcht”
und sprang zur Tür. Aber hinter der Tür war niemand, der Onkel kam zurück,
nicht enttäuscht, denn ihr Nichthorchen erschien ihm als eine noch größere
Bosheit, wohl aber verbittert. “Du verkennst sie,” sagte der Advokat, ohne die
Pflegerin weiter in Schutz zu nehmen; vielleicht wollte er damit ausdrücken,
daß sie nicht schutzbedürftig sei. Aber in viel teilnehmenderem Tone fuhr er
fort: “Was die Angelegenheit Deines Herrn Neffen betrifft, so würde ich mich
allerdings glücklich schätzen, wenn meine Kraft für diese äußerst schwierige
Aufgabe ausreichen könnte; ich fürchte sehr, daß sie nicht ausreichen wird,
jedenfalls will ich nichts unversucht lassen; wenn ich nicht ausreiche könnte
man ja noch jemanden andern beiziehn. Um aufrichtig zu sein, interessiert mich
die Sache zu sehr, als daß ich es über mich bringen könnte, auf jede
Beteiligung zu verzichten. Hält es mein Herz nicht aus, so wird es doch
wenigstens hier eine würdige Gelegenheit finden, gänzlich zu versagen.” K.
glaubte kein Wort dieser ganzen Rede zu verstehn, er sah den Onkel an, um dort
eine Erklärung zu finden, aber dieser saß mit der Kerze in der Hand auf dem
Nachttischchen, von dem bereits eine Arzneiflasche auf den Teppich gerollt war,
nickte zu allem, was der Advokat sagte, war mit allem einverstanden und sah hie
und da auf K. mit der Aufforderung zu gleichem Einverständnis hin. Hatte vielleicht
der Onkel schon früher dem Advokaten von dem Proceß erzählt, aber das war
unmöglich, alles was vorhergegangen war, sprach dagegen. “Ich verstehe nicht –”
sagte er deshalb. “Ja, habe vielleicht ich Sie mißverstanden?” fragte der
Advokat ebenso erstaunt und verlegen wie K. “Ich war vielleicht voreilig.
Worüber wollten Sie denn mit mir sprechen? Ich dachte es handle sich um Ihren
Proceß?” “Natürlich,” sagte der Onkel und fragte dann K.: “Was willst Du denn?”
“Ja, aber woher wissen Sie denn etwas über mich und meinen Proceß?” fragte K.
“Ach so,” sagte der Advokat lächelnd, “ich bin doch Advokat, ich verkehre in
Gerichtskreisen, man spricht über verschiedene Processe und auffallendere,
besonders wenn es den Neffen eines Freundes betrifft, behält man im Gedächtnis.
Das ist doch nichts merkwürdiges.” “Was willst Du denn?” fragte der Onkel K.
nochmals, “Du bist so unruhig.” “Sie verkehren in diesen Gerichtskreisen,”
fragte K. “Ja,” sagte der Advokat. “Du fragst wie ein Kind,” sagte der Onkel.
“Mit wem sollte ich denn verkehren, wenn nicht mit Leuten meines Faches?” fügte
der Advokat hinzu. Es klang so unwiderleglich, daß K. gar nicht antwortete.
“Sie arbeiten doch bei dem Gericht im Justizpalast, und nicht bei dem auf dem
Dachboden,” hatte er sagen wollen, konnte sich aber nicht überwinden, es
wirklich zu sagen. “Sie müssen doch bedenken,” fuhr der Advokat fort, in einem
Tone, als erkläre er etwas selbstverständliches, überflüssigerweise und
nebenbei, “Sie müssen doch bedenken, daß ich aus einem solchen Verkehr auch
große Vorteile für meine Klientel ziehe undzwar in vielfacher Hinsicht, man
darf nicht einmal immer davon reden. Natürlich bin ich jetzt infolge meiner
Krankheit ein wenig behindert, aber ich bekomme trotzdem Besuch von guten
Freunden vom Gericht und erfahre doch einiges. Erfahre vielleicht mehr, als
manche die in bester Gesundheit den ganzen Tag bei Gericht verbringen. So habe
ich z. B. gerade jetzt einen lieben Besuch.” Und er zeigte in eine dunkle
Zimmerecke. “Wo denn?” fragte K. in der ersten Überraschung fast grob. Er sah
unsicher herum; das Licht der kleinen Kerze drang bis zur gegenüberliegenden
Wand bei weitem nicht. Und wirklich begann sich dort in der Ecke etwas zu
rühren. Im Licht der Kerze die der Onkel jetzt hochhielt, sah man dort bei einem
kleinen Tischchen einen ältern Herrn sitzen. Er hatte wohl gar nicht geatmet,
daß er solange unbemerkt geblieben war. Jetzt stand er umständlich auf,
offenbar unzufrieden damit daß man auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Es war als
wolle er mit den Händen, die er wie kurze Flügel bewegte, alle Vorstellungen
und Begrüßungen abwehren, als wolle er auf keinen Fall die andern durch seine
Anwesenheit stören und als bitte er dringend wieder um die Versetzung ins
Dunkel und um das Vergessen seiner Anwesenheit. Das konnte man ihm nun aber
nicht mehr zugestehn. “Ihr habt uns nämlich überrascht,” sagte der Advokat zur
Erklärung und winkte dabei dem Herrn aufmunternd zu, näherzukommen, was dieser
langsam, zögernd herumblickend und doch mit einer gewissen Würde tat, “der Herr
Kanzleidirektor – ach so, Verzeihung, ich habe nicht vorgestellt – hier mein
Freund Albert K., hier sein Neffe Prokurist Josef K. und hier der Herr
Kanzleidirektor – der Herr Kanzleidirektor also war so freundlich mich zu
besuchen. Den Wert eines solchen Besuches kann eigentlich nur der Eingeweihte
würdigen, welcher weiß, wie der Herr Kanzleidirektor mit Arbeit überhäuft ist.
Nun er kam also trotzdem, wir unterhielten uns friedlich, soweit meine Schwäche
es erlaubte, wir hatten zwar Leni nicht verboten Besuche einzulassen, denn es
waren keine zu erwarten, aber unsere Meinung war doch, daß wir allein bleiben
sollten, dann aber kamen Deine Fausthiebe, Albert, der Herr Kanzleidirektor
rückte mit Sessel und Tisch in den Winkel, nun aber zeigt sich, daß wir
möglicherweise, d. h. wenn der Wunsch danach besteht, eine gemeinsame
Angelegenheit zu besprechen haben und sehr gut wieder zusammenrücken können.
Herr Kanzleidirektor,” sagte er mit Kopfneigen und unterwürfigem Lächeln und
zeigte auf einen Lehnstuhl in der Nähe des Bettes. “Ich kann leider nur noch
paar Minuten bleiben,” sagte der Kanzleidirektor freundlich, setzte sich breit
in den Lehnstuhl und sah auf die Uhr, “die Geschäfte rufen mich. Jedenfalls
will ich nicht die Gelegenheit vorübergehn lassen, einen Freund meines Freundes
kennen zu lernen.” Er neigte den Kopf leicht gegen den Onkel, der von der neuen
Bekanntschaft sehr befriedigt schien, aber infolge seiner Natur Gefühle der
Ergebenheit nicht ausdrücken konnte und die Worte des Kanzleidirektors mit
verlegenem aber lautem Lachen begleitete. Ein häßlicher Anblick! K. konnte
ruhig alles beobachten, denn um ihn kümmerte sich niemand, der Kanzleidirektor
nahm, wie es seine Gewohnheit schien, da er nun schon einmal hervorgezogen war
die Herrschaft über das Gespräch an sich, der Advokat, dessen erste Schwäche
vielleicht nur dazu hatte dienen sollen, den neuen Besuch zu vertreiben, hörte
aufmerksam, die Hand am Ohre zu, der Onkel als Kerzenträger – er balanzierte
die Kerze auf seinem Schenkel, der Advokat sah öfters besorgt hin – war bald
frei von Verlegenheit und nur noch entzückt sowohl von der Art der Rede des
Kanzleidirektors als auch von den sanften wellenförmigen Handbewegungen, mit
denen er sie begleitete. K., der am Bettpfosten lehnte, wurde vom Kanzleidirektor
vielleicht sogar mit Absicht vollständig vernachlässigt und diente den alten
Herren nur als Zuhörer. Übrigens wußte er kaum wovon die Rede war und dachte
bald an die Pflegerin und an die schlechte Behandlung, die sie vom Onkel
erfahren hatte, bald daran, ob er den Kanzleidirektor nicht schon einmal gesehn
hatte, vielleicht sogar in der Versammlung bei seiner ersten Untersuchung. Wenn
er sich auch vielleicht täuschte, so hätte sich doch der Kanzleidirektor den
Versammlungsteilnehmern in der ersten Reihe, den alten Herren mit den schüttern
Bärten vorzüglich eingefügt.
Da
ließ ein Lärm aus dem Vorzimmer wie von zerbrechendem Porzellan alle
aufhorchen. “Ich will nachsehn, was geschehen ist,” sagte K. und gieng langsam
hinaus als gebe er den andern noch Gelegenheit ihn zurückzuhalten. Kaum war er
ins Vorzimmer getreten und wollte sich im Dunkel zurechtfinden, als sich auf
die Hand, mit der er die Tür noch festhielt, eine kleine Hand legte, viel
kleiner als K.’s Hand, und die Tür leise schloß. Es war die Pflegerin, die hier
gewartet hatte. “Es ist nichts geschehn,” flüsterte sie, “ich habe nur einen
Teller gegen die Mauer geworfen, um Sie herauszuholen.” In seiner Befangenheit
sagte K.: “Ich habe auch an Sie gedacht.” “Desto besser,” sagte die Pflegerin. “Kommen
Sie.” Nach ein paar Schritten kamen sie zu einer Tür aus mattem Glas, welche
die Pflegerin vor K. öffnete. “Treten Sie doch ein,” sagte sie. Es war
jedenfalls das Arbeitszimmer des Advokaten; soweit man im Mondlicht sehen
konnte, das jetzt nur einen kleinen viereckigen Teil des Fußbodens an jedem der
zwei großen Fenster stark erhellte, war es mit schweren alten Möbeln
ausgestattet. “Hierher,” sagte die Pflegerin und zeigte auf eine dunkle Truhe
mit holzgeschnitzter Lehne. Noch als er sich gesetzt hatte, sah sich K. im
Zimmer um, es war ein hohes großes Zimmer, die Kundschaft des Armenadvokaten
mußte sich hier verloren vorkommen. K. glaubte die kleinen Schritte zu sehn,
mit denen die Besucher zu dem gewaltigen Schreibtisch vorrückten. Dann aber
vergaß er daran und hatte nur noch Augen für die Pflegerin, die ganz nahe neben
ihm saß und ihn fast an die Seitenlehne drückte. “Ich dachte,” sagte sie, “Sie
würden allein zu mir herauskommen ohne daß ich Sie erst rufen müßte. Es war
doch merkwürdig. Zuerst sahen Sie mich gleich beim Eintritt ununterbrochen an
und dann ließen Sie mich warten.” “Nennen Sie mich übrigens Leni,” fügte sie
noch rasch und unvermittelt ein, als solle kein Augenblick dieser Aussprache
versäumt werden. “Gern,” sagte K. “Was aber die Merkwürdigkeit betrifft, Leni,
so ist sie leicht zu erklären. Erstens mußte ich doch das Geschwätz der alten
Herren anhören und konnte nicht grundlos weglaufen, zweitens aber bin ich nicht
frech, sondern eher schüchtern und auch Sie Leni sahen wahrhaftig nicht so aus,
als ob Sie in einem Sprung zu gewinnen wären.” “Das ist es nicht,” sagte Leni,
legte den Arm über die Lehne und sah K. an, “aber ich gefiel Ihnen nicht und
gefalle Ihnen wahrscheinlich auch jetzt nicht.” “Gefallen wäre ja nicht viel,”
sagte K. ausweichend. “Oh!” sagte sie lächelnd und gewann durch K.’s Bemerkung
und diesen kleinen Ausruf eine gewisse Überlegenheit. Deshalb schwieg K. ein
Weilchen. Da er sich an das Dunkel im Zimmer schon gewöhnt hatte, konnte er
verschiedene Einzelheiten der Einrichtung unterscheiden. Besonders fiel ihm ein
großes Bild auf, das rechts von der Tür hieng, er beugte sich vor, um es besser
zu sehn. Es stellte einen Mann im Richtertalar dar; er saß auf einem hohen
Tronsessel, dessen Vergoldung vielfach aus dem Bilde hervorstach. Das
Ungewöhnliche war, daß dieser Richter nicht in Ruhe und Würde dort saß, sondern
den linken Arm fest an Rücken- und Seitenlehne drückte, den rechten Arm aber
völlig frei hatte und nur mit der Hand die Seitenlehne umfaßte, als wolle er im
nächsten Augenblick mit einer heftigen und vielleicht empörten Wendung
aufspringen um etwas Entscheidendes zu sagen oder gar das Urteil zu verkünden.
Der Angeklagte war wohl zu Füßen der Treppe zu denken, deren oberste mit einem
gelben Teppich bedeckte Stufen noch auf dem Bilde zu sehen waren. “Vielleicht
ist das mein Richter,” sagte K. und zeigte mit einem Finger auf das Bild. “Ich
kenne ihn,” sagte Leni und sah auch zum Bilde auf, “er kommt öfters hierher.
Das Bild stammt aus seiner Jugend, er kann aber niemals dem Bilde auch nur
ähnlich gewesen sein, denn er ist fast winzig klein. Trotzdem hat er sich auf
dem Bild so in die Länge ziehen lassen, denn er ist unsinnig eitel, wie alle
hier. Aber auch ich bin eitel und sehr unzufrieden damit, daß ich Ihnen gar nicht
gefalle.” Zu der letzten Bemerkung antwortete K. nur damit, daß er Leni umfaßte
und an sich zog, sie lehnte still den Kopf an seine Schulter. Zu dem übrigen
aber sagte er: “Was für einen Rang hat er?” “Er ist Untersuchungsrichter,”
sagte sie, ergriff K.’s Hand mit der er sie umfaßt hielt und spielte mit seinen
Fingern. “Wieder nur Untersuchungsrichter,” sagte K. enttäuscht, “die hohen
Beamten verstecken sich. Aber er sitzt doch auf einem Tronsessel.” “Das ist
alles Erfindung,” sagte Leni, das Gesicht über K.’s Hand gebeugt, “in
Wirklichkeit sitzt er auf einem Küchensessel, auf dem eine alte Pferdedecke
zusammengelegt ist. Aber müssen Sie denn immerfort an Ihren Proceß denken?”
fügte sie langsam hinzu. “Nein, durchaus nicht,” sagte K., “ich denke wahrscheinlich
sogar zu wenig an ihn.” “Das ist nicht der Fehler, den Sie machen,” sagte Leni,
“Sie sind zu unnachgiebig, so habe ich es gehört.” “Wer hat das gesagt?” fragte
K., er fühlte ihren Körper an seiner Brust und sah auf ihr reiches dunkles fest
gedrehtes Haar hinab. “Ich würde zuviel verraten, wenn ich das sagte,”
antwortete Leni. “Fragen Sie bitte nicht nach Namen, stellen Sie aber Ihren
Fehler ab, seien Sie nicht mehr so unnachgiebig, gegen dieses Gericht kann man
sich ja nicht wehren, man muß das Geständnis machen. Machen Sie doch bei
nächster Gelegenheit das Geständnis. Erst dann ist die Möglichkeit zu
entschlüpfen gegeben, erst dann. Jedoch selbst das ist ohne fremde Hilfe nicht
möglich, wegen dieser Hilfe aber müssen Sie sich nicht ängstigen, die will ich
Ihnen selbst leisten.” “Sie verstehen viel von diesem Gericht und von den
Betrügereien, die hier nötig sind,” sagte K. und hob sie, da sie sich allzu
stark an ihn drängte, auf seinen Schooß. “So ist es gut,” sagte sie und
richtete sich auf seinem Schooß ein, indem sie den Rock glättete und die Bluse
zurechtzog. Dann hieng sie sich mit beiden Händen an seinen Hals, lehnte sich
zurück und sah ihn lange an. “Und wenn ich das Geständnis nicht mache, dann
können Sie mir nicht helfen?” fragte K. versuchsweise. Ich werbe Helferinnen,
dachte er fast verwundert, zuerst Fräulein Bürstner, dann die Frau des
Gerichtsdieners und endlich diese kleine Pflegerin, die ein unbegreifliches
Bedürfnis nach mir zu haben scheint. Wie sie auf meinem Schooß sitzt, als sei
es ihr einzig richtiger Platz! “Nein,” antwortete Leni und schüttelte langsam
den Kopf, “dann kann ich Ihnen nicht helfen. Aber Sie wollen ja meine Hilfe gar
nicht, es liegt Ihnen nichts daran, Sie sind eigensinnig und lassen sich nicht
überzeugen.” “Haben Sie eine Geliebte?” fragte sie nach einem Weilchen. “Nein,”
sagte K. “Oh doch,” sagte sie. “Ja, wirklich,” sagte K., “denken Sie nur, ich
habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie bei mir.” Auf ihre
Bitten zeigte er ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem
Schooß studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach
einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern tanzte, ihr
Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf
die Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen
galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. “Sie ist stark geschnürt,” sagte
Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zu sehen war. “Sie
gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie aber Ihnen
gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man nach dem Bilde schließen. So
große starke Mädchen wissen oft nichts anderes als sanft und freundlich zu
sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können?” “Nein,” sagte K., “sie ist
weder sanft und freundlich noch würde sie sich für mich opfern können. Auch
habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja ich habe
noch nicht einmal das Bild so genau angesehn, wie Sie.” “Es liegt Ihnen also
gar nicht viel an ihr,” sagte Leni, “sie ist also gar nicht Ihre Geliebte.”
“Doch,” sagte K. “Ich nehme mein Wort nicht zurück.” “Mag sie also jetzt Ihre
Geliebte sein,” sagte Leni, “Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie
sie verlieren oder für jemand andern z. B. für mich eintauschen würden.”
“Gewiß,” sagte K. lächelnd, “das wäre denkbar, aber sie hat einen großen
Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Proceß, und selbst wenn sie
etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur
Nachgiebigkeit zu überreden suchen.” “Das ist kein Vorteil,” sagte Leni. “Wenn
sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie
irgendeinen körperlichen Fehler?” “Einen körperlichen Fehler?” fragte K. “Ja,”
sagte Leni, “ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie.” Sie
spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen
denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger
reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie
führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. “Was für ein Naturspiel,”
sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu: “Was für
eine hübsche Kralle!” Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer
wieder ihre zwei Finger auseinanderzog und zusammenlegte, bis er sie
schließlich flüchtig küßte und losließ. “Oh!” rief sie aber sofort, “Sie haben
mich geküßt!” Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen
Schooß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt da sie ihm so nahe war gieng ein
bitterer aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf
an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst
in seine Haare. “Sie haben mich eingetauscht,” rief sie von Zeit zu Zeit,
“sehen Sie nun haben Sie mich doch eingetauscht!” Da glitt ihr Knie aus, mit
einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch
zu halten, und wurde zu ihr hinabgezogen. “Jetzt gehörst Du mir,” sagte sie.
“Hier
hast Du den Hausschlüssel, komm wann Du willst,” waren ihre letzten Worte und
ein zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehn auf den Rücken. Als er aus dem
Haustor trat, fiel ein leichter Regen, er wollte in die Mitte der Straße gehn,
um vielleicht Leni noch beim Fenster erblicken zu können, da stürzte aus einem
Automobil, das vor dem Hause wartete und das K. in seiner Zerstreutheit gar
nicht bemerkt hatte, der Onkel, faßte ihn bei den Armen und stieß ihn gegen das
Haustor, als wolle er ihn dort festnageln. “Junge,” rief er, “wie konntest Du
nur das tun! Du hast Deiner Sache, die auf gutem Wege war, schrecklich
geschadet. Verkriechst Dich mit einem kleinen schmutzigen Ding, das überdies
offensichtlich die Geliebte des Advokaten ist, und bleibst stundenlang weg.
Suchst nicht einmal einen Vorwand, verheimlichst nichts, nein, bist ganz offen,
laufst zu ihr und bleibst bei ihr. Und unterdessen sitzen wir beisammen, der
Onkel, der sich für Dich abmüht, der Advokat, der für Dich gewonnen werden
soll, der Kanzleidirektor vor allem, dieser große Herr, der Deine Sache in
ihrem jetzigen Stadium geradezu beherrscht. Wir wollen beraten wie Dir zu
helfen wäre, ich muß den Advokaten vorsichtig behandeln, dieser wieder den
Kanzleidirektor und Du hättest doch allen Grund mich wenigstens zu
unterstützen. Statt dessen bleibst Du fort. Schließlich läßt es sich nicht
verheimlichen, nun es sind höfliche gewandte Männer, sie sprechen nicht davon,
sie schonen mich, schließlich können aber auch sie sich nicht mehr überwinden
und da sie von der Sache nicht reden können, verstummen sie. Wir sind
minutenlang schweigend dagesessen und haben gehorcht ob Du nicht doch endlich
kämest. Alles vergebens. Endlich steht der Kanzleidirektor, der viel länger
geblieben ist, als er ursprünglich wollte, auf, verabschiedet sich, bedauert
mich sichtlich ohne mir helfen zu können, wartet in unbegreiflicher
Liebenswürdigkeit noch eine Zeitlang in der Tür, dann geht er. Ich war
natürlich glücklich, daß er weg war, mir war schon die Luft zum Atmen
ausgegangen. Auf den kranken Advokaten hat alles noch stärker eingewirkt, er
konnte, der gute Mann, gar nicht sprechen als ich mich von ihm verabschiedete.
Du hast wahrscheinlich zu seinem vollständigen Zusammenbrechen beigetragen und
beschleunigst so den Tod eines Mannes auf den Du angewiesen bist. Und mich
Deinen Onkel läßt Du hier im Regen, fühle nur, ich bin ganz durchnäßt,
stundenlang warten.”
Advokat / Fabrikant / Maler
An
einem Wintervormittag – draußen fiel Schnee im trüben Licht – saß K. trotz der
frühen Stunde schon äußerst müde in seinem Bureau. Um sich wenigstens vor den
untern Beamten zu schützen, hatte er dem Diener den Auftrag gegeben, niemanden
von ihnen einzulassen, da er mit einer größern Arbeit beschäftigt sei. Aber
statt zu arbeiten drehte er sich in seinem Sessel, verschob langsam einige
Gegenstände auf dem Tisch, ließ dann aber, ohne es zu wissen den ganzen Arm
ausgestreckt auf der Tischplatte liegen und blieb mit gesenktem Kopf
unbeweglich sitzen.
Der
Gedanke an den Proceß verließ ihn nicht mehr. Öfters schon hatte er überlegt,
ob es nicht gut wäre, eine Verteidigungsschrift auszuarbeiten und bei Gericht
einzureichen. Er wollte darin eine kurze Lebensbeschreibung vorlegen und bei
jedem irgendwie wichtigern Ereignis erklären, aus welchen Gründen er so
gehandelt hatte, ob diese Handlungsweise nach seinem gegenwärtigen Urteil zu
verwerfen oder zu billigen war und welche Gründe er für dieses oder jenes
anführen konnte. Die Vorteile einer solchen Verteidigungsschrift gegenüber der
bloßen Verteidigung durch den übrigens auch sonst nicht einwandfreien Advokaten
waren zweifellos. K. wußte ja gar nicht was der Advokat unternahm; viel war es
jedenfalls nicht, schon einen Monat lang hatte er ihn nicht mehr zu sich
berufen und auch bei keiner der frühern Besprechungen hatte K. den Eindruck
gehabt, daß dieser Mann viel für ihn erreichen könne. Vor allem hatte er ihn
fast gar nicht ausgefragt. Und hier war doch soviel zu fragen. Fragen war die
Hauptsache. K. hatte das Gefühl, als ob er selbst alle hier nötigen Fragen
stellen könnte. Der Advokat dagegen statt zu fragen erzählte selbst oder saß
ihm stumm gegenüber, beugte sich, wahrscheinlich wegen seines schwachen Gehörs
ein wenig über den Schreibtisch vor, zog an einem Bartstrahn innerhalb seines
Bartes und blickte auf den Teppich nieder, vielleicht gerade auf die Stelle, wo
K. mit Leni gelegen war. Hie und da gab er K. einige leere Ermahnungen, wie man
sie Kindern gibt. Ebenso nutzlose wie langweilige Reden, die K. in der
Schlußabrechnung mit keinem Heller zu bezahlen gedachte. Nachdem der Advokat
ihn genügend gedemütigt zu haben glaubte, fieng er gewöhnlich an, ihn wieder
ein wenig aufzumuntern. Er habe schon, erzählte er dann, viele ähnliche
Processe ganz oder teilweise gewonnen, Processe, die wenn auch in Wirklichkeit
vielleicht nicht so schwierig wie dieser, äußerlich noch hoffnungsloser waren.
Ein Verzeichnis dieser Processe habe er hier in der Schublade – hiebei klopfte
er an irgendeine Lade des Tisches –, die Schriften könne er leider nicht
zeigen, da es sich um Amtsgeheimnisse handle. Trotzdem komme jetzt natürlich
die große Erfahrung die er durch alle diese Processe erworben habe, K. zugute.
Er habe natürlich sofort zu arbeiten begonnen und die erste Eingabe sei schon
fast fertiggestellt. Sie sei sehr wichtig, weil der erste Eindruck den die
Verteidigung mache, oft die ganze Richtung des Verfahrens bestimme. Leider,
darauf müsse er K. allerdings aufmerksam machen, geschehe es manchmal, daß die
ersten Eingaben bei Gericht gar nicht gelesen werden. Man lege sie einfach zu
den Akten und weise darauf hin, daß vorläufig die Einvernahme und Beobachtung
des Angeklagten wichtiger sei als alles Geschriebene. Man fügt wenn der Petent
dringlich wird, hinzu, daß man vor der Entscheidung bis alles Material
gesammelt ist, im Zusammenhang natürlich alle Akten, also auch diese erste
Eingabe überprüfen wird. Leider sei aber auch dies meistens nicht richtig, die
erste Eingabe werde gewöhnlich verlegt oder gehe gänzlich verloren und selbst
wenn sie bis zum Ende erhalten bleibt, werde sie, wie der Advokat allerdings
nur gerüchtweise erfahren hat, kaum gelesen. Das alles sei bedauerlich, aber
nicht ganz ohne Berechtigung, K. möge doch nicht außer acht lassen, daß das
Verfahren nicht öffentlich sei, es kann, wenn das Gericht es für nötig hält,
öffentlich werden, das Gesetz aber schreibt Öffentlichkeit nicht vor.
Infolgedessen sind auch die Schriften des Gerichtes, vor allem die
Anklageschrift dem Angeklagten und seiner Verteidigung unzugänglich, man weiß
daher im allgemeinen nicht oder wenigstens nicht genau, wogegen sich die erste
Eingabe zu richten hat, sie kann daher eigentlich nur zufälliger Weise etwas
enthalten, was für die Sache von Bedeutung ist. Wirklich zutreffende und
beweisführende Eingaben kann man erst später ausarbeiten, wenn im Laufe der
Einvernahmen des Angeklagten die einzelnen Anklagepunkte und ihre Begründung
deutlicher hervortreten oder erraten werden können. Unter diesen Verhältnissen
ist natürlich die Verteidigung in einer sehr ungünstigen und schwierigen Lage.
Aber auch das ist beabsichtigt. Die Verteidigung ist nämlich durch das Gesetz
nicht eigentlich gestattet, sondern nur geduldet und selbst darüber, ob aus der
betreffenden Gesetzesstelle wenigstens Duldung herausgelesen werden soll, besteht
Streit. Es gibt daher strenggenommen gar keine vom Gericht anerkannten
Advokaten, alle die vor diesem Gericht als Advokaten auftreten, sind im Grunde
nur Winkeladvokaten. Das wirkt natürlich auf den ganzen Stand sehr entwürdigend
ein und wenn K. nächstens einmal in die Gerichtskanzleien gehen werde, könne er
sich ja, um auch das einmal gesehn zu haben, das Advokatenzimmer ansehn. Er
werde vor der Gesellschaft, die dort beisammen sei, vermutlich erschrecken.
Schon die ihnen zugewiesene enge niedrige Kammer zeige die Verachtung, die das
Gericht für diese Leute hat. Licht bekommt die Kammer nur durch eine kleine
Luke, die so hoch gelegen ist, daß, wenn jemand hinausschauen will, wo ihm
übrigens der Rauch eines knapp davor gelegenen Kamins in die Nase fährt und das
Gesicht schwärzt, er erst einen Kollegen suchen muß der ihn auf den Rücken
nimmt. Im Fußboden dieser Kammer – um nur noch ein Beispiel für diese Zustände
anzuführen – ist nun schon seit mehr als einem Jahr ein Loch, nicht so groß daß
ein Mensch durchfallen könnte, aber groß genug, daß man mit einem Bein ganz
einsinkt. Das Advokatenzimmer liegt auf dem zweiten Dachboden, sinkt also einer
ein, so hängt sein Bein in den ersten Dachboden hinunter undzwar gerade in den
Gang, wo die Parteien warten. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man in
Advokatenkreisen solche Verhältnisse schändlich nennt. Beschwerden an die
Verwaltung haben nicht den geringsten Erfolg, wohl aber ist es den Advokaten
auf das strengste verboten irgendetwas in dem Zimmer auf eigene Kosten ändern
zu lassen. Aber auch diese Behandlung der Advokaten hat ihre Begründung, Man
will die Verteidigung möglichst ausschalten, alles soll auf den Angeklagten
selbst gestellt sein. Kein schlechter Standpunkt im Grunde, nichts wäre aber
verfehlter als daraus zu folgern, daß bei diesem Gericht die Advokaten für den
Angeklagten unnötig sind. Im Gegenteil, bei keinem andern Gericht sind sie so
notwendig wie bei diesem. Das Verfahren ist nämlich im allgemeinen nicht nur
vor der Öffentlichkeit geheim, sondern auch vor dem Angeklagten. Natürlich nur
soweit dies möglich ist, es ist aber in sehr weitem Ausmaß möglich. Auch der
Angeklagte hat nämlich keinen Einblick in die Gerichtsschriften und aus den
Verhören auf die ihnen zugrunde liegenden Schriften zu schließen ist sehr
schwierig, insbesondere aber für den Angeklagten der doch befangen ist und alle
möglichen Sorgen hat, die ihn zerstreuen. Hier greift nun die Verteidigung ein.
Bei den Verhören dürfen im allgemeinen Verteidiger nicht anwesend sein, sie
müssen daher nach den Verhören undzwar möglichst noch an der Tür des
Untersuchungszimmers den Angeklagten über das Verhör ausforschen und diesen oft
schon sehr verwischten Berichten das für die Verteidigung taugliche entnehmen.
Aber das Wichtigste ist dies nicht, denn viel kann man auf diese Weise nicht
erfahren, wenn natürlich auch hier wie überall ein tüchtiger Mann mehr erfährt
als andere. Das Wichtigste bleiben trotzdem die persönlichen Beziehungen des
Advokaten, in ihnen liegt der Hauptwert der Verteidigung. Nun habe ja wohl K.
schon aus seinen eigenen Erlebnissen entnommen, daß die allerunterste
Organisation des Gerichtes nicht ganz vollkommen ist, pflichtvergessene und
bestechliche Angestellte aufweist, wodurch gewissermaßen die strenge
Abschließung des Gerichtes Lücken bekommt. Hier nun drängt sich die Mehrzahl
der Advokaten ein, hier wird bestochen und ausgehorcht, ja es kamen wenigstens
in früherer Zeit sogar Fälle von Aktendiebstählen vor. Es ist nicht zu leugnen,
daß auf diese Weise für den Augenblick einige sogar überraschende günstige
Resultate für den Angeklagten sich erzielen lassen, damit stolzieren auch diese
kleinen Advokaten herum und locken neue Kundschaft an, aber für den weitern
Fortgang des Processes bedeutet es entweder nichts oder nichts Gutes.
Wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persönliche Beziehungen undzwar mit
höhern Beamten, womit natürlich nur höhere Beamte der untern Grade gemeint
sind. Nur dadurch kann der Fortgang des Processes wenn auch zunächst nur
unmerklich später aber immer deutlicher beeinflußt werden. Das können natürlich
nur wenige Advokaten und hier sei die Wahl K.’s sehr günstig gewesen. Nur noch
vielleicht ein oder zwei Advokaten konnten sich mit ähnlichen Beziehungen
ausweisen wie Dr. Huld. Diese kümmern sich allerdings um die Gesellschaft im
Advokatenzimmer nicht und haben auch nichts mit ihr zu tun. Umso enger sei aber
die Verbindung mit den Gerichtsbeamten. Es sei nicht einmal immer nötig, daß
Dr. Huld zu Gericht gehe, in den Vorzimmern der Untersuchungsrichter auf ihr
zufälliges Erscheinen warte und je nach ihrer Laune einen meist nur scheinbaren
Erfolg erziele oder auch nicht einmal diesen. Nein, K. habe es ja selbst
gesehen, die Beamten und darunter recht hohe kommen selbst, geben bereitwillig
Auskunft, offene oder wenigstens leicht deutbare, besprechen den nächsten
Fortgang der Processe, ja sie lassen sich sogar in einzelnen Fällen überzeugen
und nehmen die fremde Ansicht gern an. Allerdings dürfe man ihnen gerade in
dieser letztern Hinsicht nicht allzusehr vertrauen; so bestimmt sie ihre neue
für die Verteidigung günstige Absicht auch aussprechen, gehen sie doch
vielleicht geradewegs in ihre Kanzlei und geben für den nächsten Tag einen
Gerichtsbeschluß, der gerade das entgegengesetzte enthält und vielleicht für den
Angeklagten noch viel strenger ist, als ihre erste Absicht, von der sie
gänzlich abgekommen zu sein behaupteten. Dagegen könne man sich natürlich nicht
wehren, denn das was sie zwischen vier Augen gesagt haben, ist eben auch nur
zwischen vier Augen gesagt und lasse keine öffentliche Folgerung zu, selbst
wenn die Verteidigung nicht auch sonst bestrebt sein müßte sich die Gunst der
Herren zu erhalten. Andererseits sei es allerdings auch richtig, daß die Herren
nicht etwa nur aus Menschenliebe oder aus freundschaftlichen Gefühlen sich mit
der Verteidigung, natürlich nur mit einer sachverständigen Verteidigung in
Verbindung setzen, sie sind vielmehr in gewisser Hinsicht auch auf sie
angewiesen. Hier mache sich eben der Nachteil einer Gerichtsorganisation geltend,
die selbst in ihren Anfängen das geheime Gericht festsetzt. Den Beamten fehlt
der Zusammenhang mit der Bevölkerung, für die gewöhnlichen mittleren Processe
sind sie gut ausgerüstet, ein solcher Proceß rollt fast von selbst auf seiner
Bahn ab und braucht nur hie und da einen Anstoß, gegenüber den ganz einfachen
Fällen aber wie auch gegenüber den besonders schwierigen sind sie oft ratlos,
sie haben, weil sie fortwährend Tag und Nacht in ihr Gesetz eingezwängt sind,
nicht den richtigen Sinn für menschliche Beziehungen und das entbehren sie in
solchen Fällen schwer. Dann kommen sie zum Advokaten um Rat und hinter ihnen
trägt ein Diener die Akten, die sonst so geheim sind. An diesem Fenster hätte
man manche Herren, von denen man es am wenigsten erwarten würde, antreffen
können wie sie geradezu trostlos auf die Gasse hinaussahen, während der Advokat
an seinem Tisch die Akten studierte, um ihnen einen guten Rat geben zu können.
Übrigens könne man gerade bei solchen Gelegenheiten sehn, wie ungemein ernst
die Herren ihren Beruf nehmen und wie sie über Hindernisse, die sie ihrer Natur
nach nicht bewältigen können, in große Verzweiflung geraten. Ihre Stellung sei
auch sonst nicht leicht, man dürfe ihnen nicht Unrecht tun und ihre Stellung
für leicht ansehn. Die Rangordnung und Steigerung des Gerichtes sei unendlich
und selbst für den Eingeweihten nicht absehbar. Das Verfahren vor den
Gerichtshöfen sei aber im allgemeinen auch für die untern Beamten geheim, sie
können daher die Angelegenheiten, die sie bearbeiten in ihrem fernern
Weitergang kaum jemals vollständig verfolgen, die Gerichtssache erscheint also
in ihrem Gesichtskreis, ohne daß sie oft wissen, woher sie kommt, und sie geht
weiter, ohne daß sie erfahren, wohin. Die Belehrung also, die man aus dem
Studium der einzelnen Proceßstadien, der schließlichen Entscheidung und ihrer
Gründe schöpfen kann, entgeht diesen Beamten. Sie dürfen sich nur mit jenem
Teil des Processes befassen, der vom Gesetz für sie abgegrenzt ist und wissen
von dem Weitern, also von den Ergebnissen ihrer eigenen Arbeit meist weniger
als die Verteidigung, die doch in der Regel fast bis zum Schluß des Processes
mit dem Angeklagten in Verbindung bleibt. Auch in dieser Richtung also können
sie von der Verteidigung manches Wertvolle erfahren. Wundere sich K. noch, wenn
er alles dieses im Auge behalte über die Gereiztheit der Beamten, die sich
manchmal den Parteien gegenüber in – jeder mache diese Erfahrung –
beleidigender Weise äußert. Alle Beamten seien gereizt, selbst wenn sie ruhig
scheinen. Natürlich haben die kleinen Advokaten besonders viel darunter zu
leiden. Man erzählt z. B. folgende Geschichte die sehr den Anschein der
Wahrheit hat. Ein alter Beamter, ein guter stiller Herr, hatte eine schwierige
Gerichtssache, welche besonders durch die Eingaben des Advokaten verwickelt
worden war, einen Tag und eine Nacht ununterbrochen studiert – diese Beamten
sind tatsächlich fleißig wie niemand sonst. Gegen Morgen nun, nach
vierundzwanzigstündiger wahrscheinlich nicht sehr ergiebiger Arbeit gieng er zur
Eingangstür, stellte sich dort in Hinterhalt und warf jeden Advokaten, der
eintreten wollte, die Treppe hinunter. Die Advokaten sammelten sich unten auf
dem Treppenabsatz und berieten was sie tun sollten; einerseits haben sie keinen
eigentlichen Anspruch darauf eingelassen zu werden, können daher rechtlich
gegen den Beamten kaum etwas unternehmen und müssen sich, wie schon erwähnt
auch hüten, die Beamtenschaft gegen sich aufzubringen. Andererseits aber ist
jeder nicht bei Gericht verbrachte Tag für sie verloren und es lag ihnen also
viel daran einzudringen. Schließlich einigten sie sich darauf daß sie den alten
Herrn ermüden wollten. Immer wieder wurde ein Advokat ausgeschickt, der die
Treppe hinauf lief und sich dann unter möglichstem allerdings passivem Widerstand
hinunterwerfen ließ, wo er dann von den Kollegen aufgefangen wurde. Das dauerte
etwa eine Stunde, dann wurde der alte Herr, er war ja auch von der Nachtarbeit
schon erschöpft, wirklich müde und gieng in seine Kanzlei zurück. Die unten
wollten es zuerst gar nicht glauben und schickten zuerst einen aus, der hinter
der Tür nachsehn sollte, ob dort wirklich leer war. Dann erst zogen sie ein und
wagten wahrscheinlich nicht einmal zu murren. Denn den Advokaten – und selbst
der kleinste kann doch die Verhältnisse wenigstens zum Teil übersehn – liegt es
vollständig ferne bei Gericht irgendwelche Verbesserungen einführen oder
durchsetzen zu wollen, während – und dies ist sehr bezeichnend – fast jeder
Angeklagte, selbst ganz einfältige Leute, gleich beim allerersten Eintritt in
den Proceß an Verbesserungsvorschläge zu denken anfangen und damit oft Zeit und
Kraft verschwenden, die anders viel besser verwendet werden könnten. Das einzig
Richtige sei es, sich mit den vorhandenen Verhältnissen abzufinden. Selbst wenn
es möglich wäre, Einzelheiten zu verbessern – es ist aber ein unsinniger
Aberglaube – hätte man bestenfalls für künftige Fälle etwas erreicht, sich
selbst aber unermeßlich dadurch geschadet, daß man die besondere Aufmerksamkeit
der immer rachsüchtigen Beamtenschaft erregt hat. Nur keine Aufmerksamkeit
erregen! Sich ruhig verhalten, selbst wenn es einem noch so sehr gegen den Sinn
geht! Einzusehen versuchen, daß dieser große Gerichtsorganismus gewissermaßen
ewig in Schwebe bleibt und daß man zwar, wenn man auf seinem Platz selbständig
etwas ändert, den Boden unter den Füßen sich wegnimmt und selbst abstürzen
kann, während der große Organismus sich selbst für die kleine Störung leicht an
einer andern Stelle – alles ist doch in Verbindung – Ersatz schafft und
unverändert bleibt, wenn er nicht etwa, was sogar wahrscheinlich ist, noch
geschlossener, noch aufmerksamer, noch strenger, noch böser wird. Man überlasse
doch die Arbeit dem Advokaten, statt sie zu stören. Vorwürfe nützen ja nicht
viel, besonders wenn man ihre Ursache in ihrer ganzen Bedeutung nicht
begreiflich machen kann, aber gesagt müsse es doch werden wieviel K. seiner
Sache durch das Verhalten gegenüber dem Kanzleidirektor geschadet habe. Dieser
einflußreiche Mann sei aus der Liste jener, bei denen man für K. etwas
unternehmen könne, schon fast zu streichen. Selbst flüchtige Erwähnungen des
Processes überhöre er mit deutlicher Absicht. In manchem seien ja die Beamten
wie Kinder. Oft können sie durch Harmlosigkeiten, unter die allerdings K.’s Verhalten
leider nicht gehörte, derartig verletzt werden, daß sie selbst mit guten
Freunden zu reden aufhören, sich von ihnen abwenden, wenn sie ihnen begegnen
und ihnen in allem möglichen entgegenarbeiten. Dann aber einmal, überraschender
Weise ohne besondern Grund lassen sie sich durch einen kleinen Scherz, den man
nur deshalb wagt, weil alles aussichtslos scheint, zum Lachen bringen und sind
versöhnt. Es sei eben gleichzeitig schwer und leicht sich mit ihnen zu
verhalten, Grundsätze dafür gibt es kaum. Manchmal sei es zum Verwundern, daß
ein einziges Durchschnittsleben dafür hinreiche, um soviel zu erfassen, daß man
hier mit einigem Erfolg arbeiten könne. Es kommen allerdings trübe Stunden, wie
sie ja jeder hat, wo man glaubt, nicht das geringste erzielt zu haben, wo es
einem scheint, als hätten nur die von Anfang an für einen guten Ausgang
bestimmten Processe ein gutes Ende genommen, wie es auch ohne Mithilfe
geschehen wäre, während alle andern verloren gegangen sind, trotz alles
Nebenherlaufens, aller Mühe, aller kleinen scheinbaren Erfolge, über die man
solche Freude hatte. Dann scheint einem allerdings nichts mehr sicher und man
würde auf bestimmte Fragen hin nicht einmal zu leugnen wagen, daß man ihrem
Wesen nach gut verlaufende Processe gerade durch die Mithilfe auf Abwege
gebracht hat. Auch das ist ja eine Art Selbstvertrauen, aber es ist das einzige
das dann übrig bleibt. Solchen Anfällen – es sind natürlich nur Anfälle nichts
weiter – sind Advokaten besonders dann ausgesetzt, wenn ihnen ein Proceß, den sie
weit genug und zufriedenstellend geführt haben, plötzlich aus der Hand genommen
wird. Das ist wohl das Ärgste, das einem Advokaten geschehen kann. Nicht etwa
durch den Angeklagten wird ihnen der Proceß entzogen, das geschieht wohl
niemals, ein Angeklagter, der einmal einen bestimmten Advokaten genommen hat,
muß bei ihm bleiben geschehe was immer. Wie könnte er sich überhaupt, wenn er
einmal Hilfe in Anspruch genommen hat, allein noch erhalten. Das geschieht also
nicht, wohl aber geschieht es manchmal, daß der Proceß eine Richtung nimmt, wo
der Advokat nicht mehr mitkommen darf. Der Proceß und der Angeklagte und alles
wird dem Advokaten einfach entzogen; dann können auch die besten Beziehungen zu
den Beamten nicht mehr helfen, denn sie selbst wissen nichts. Der Proceß ist
eben in ein Stadium getreten, wo keine Hilfe mehr geleistet werden darf, wo ihn
unzugängliche Gerichtshöfe bearbeiten, wo auch der Angeklagte für den Advokaten
nicht mehr erreichbar ist. Man kommt dann eines Tages nachhause und findet auf seinem
Tisch alle die vielen Eingaben, die man mit allem Fleiß und mit den schönsten
Hoffnungen in dieser Sache gemacht hat, sie sind zurückgestellt worden, da sie
in das neue Proceßstadium nicht übertragen werden dürfen, es sind wertlose
Fetzen. Dabei muß der Proceß noch nicht verloren sein, durchaus nicht,
wenigstens liegt kein entscheidender Grund für diese Annahme vor, man weiß bloß
nichts mehr von dem Proceß und wird auch nichts mehr von ihm erfahren. Nun sind
ja solche Fälle glücklicher Weise Ausnahmen und selbst wenn K.’s Proceß ein
solcher Fall sein sollte, sei er doch vorläufig noch weit von einem solchen
Stadium entfernt. Hier sei also noch reichliche Gelegenheit für Advokatenarbeit
gegeben und daß sie ausgenützt werde, dessen dürfe K. sicher sein. Die Eingabe
sei wie erwähnt noch nicht überreicht, das eile aber auch nicht, viel wichtiger
seien die einleitenden Besprechungen mit maßgebenden Beamten und die hätten
schon stattgefunden. Mit verschiedenem Erfolg, wie offen zugestanden werden
soll. Es sei viel besser vorläufig Einzelheiten nicht zu verraten, durch die K.
nur ungünstig beeinflußt und allzu hoffnungsfreudig oder allzu ängstlich
gemacht werden könnte, nur soviel sei gesagt, daß sich einzelne sehr günstig
ausgesprochen und sich auch sehr bereitwillig gezeigt haben, während andere
sich weniger günstig geäußert aber doch ihre Mithilfe keineswegs verweigert
haben. Das Ergebnis sei also im Ganzen sehr erfreulich, nur dürfe man daraus
keine besondern Schlüsse ziehn, da alle Vorverhandlungen ähnlich beginnen und
durchaus erst die weitere Entwicklung den Wert dieser Vorverhandlungen zeigt.
Jedenfalls sei noch nichts verloren und wenn es noch gelingen sollte, den
Kanzleidirektor trotz allem zu gewinnen – es sei schon verschiedenes zu diesem
Zwecke eingeleitet – dann sei das Ganze, wie die Chirurgen sagen, eine reine
Wunde und man könne getrost das Folgende erwarten.
In
solchen und ähnlichen Reden war der Advokat unerschöpflich. Sie wiederholten sich
bei jedem Besuch. Immer gab es Fortschritte, niemals aber konnte die Art dieser
Fortschritte mitgeteilt werden. Immerfort wurde an der ersten Eingabe
gearbeitet, aber sie wurde nicht fertig, was sich meistens beim nächsten Besuch
als großer Vorteil herausstellte, da die letzte Zeit, was man nicht hatte
voraussehen können, für ihre Übergabe sehr ungünstig gewesen wäre. Bemerkte K.
manchmal, ganz ermattet von den Reden, daß es doch selbst unter
Berücksichtigung aller Schwierigkeiten, sehr langsam vorwärtsgehe, wurde ihm
entgegnet, es gehe gar nicht langsam vorwärts, wohl aber wäre man schon viel
weiter, wenn K. sich rechtzeitig an den Advokaten gewendet hätte. Das hatte er
aber leider versäumt und dieses Versäumnis werde auch noch weitere Nachteile
bringen, nicht nur zeitliche.
Die
einzige wohltätige Unterbrechung dieser Besuche war Leni, die es immer so
einzurichten wußte, daß sie dem Advokaten in Anwesenheit K.’s den Tee brachte.
Dann stand sie hinter K., sah scheinbar zu, wie der Advokat mit einer Art Gier
tief zur Tasse herabgebeugt den Tee eingoß und trank, und ließ im Geheimen ihre
Hand von K. erfassen. Es herrschte völliges Schweigen. Der Advokat trank, K.
drückte Lenis Hand und Leni wagte es manchmal K.’s Haare sanft zu streicheln.
“Du bist noch hier?” fragte der Advokat, nachdem er fertig war. “Ich wollte das
Geschirr wegnehmen,” sagte Leni, es gab noch einen letzten Händedruck, der
Advokat wischte sich den Mund und begann mit neuer Kraft auf K. einzureden.
War
es Trost oder Verzweiflung, was der Advokat erreichen wollte? K. wußte es
nicht, wohl aber hielt er es bald für feststehend, daß seine Verteidigung nicht
in guten Händen war. Es mochte ja alles richtig sein, was der Advokat erzählte,
wenn es auch durchsichtig war, daß er sich möglichst in den Vordergrund stellen
wollte und wahrscheinlich noch niemals einen so großen Proceß geführt hatte,
wie es K.’s Proceß seiner Meinung nach war. Verdächtig aber blieben die
unaufhörlich hervorgehobenen persönlichen Beziehungen zu den Beamten. Mußten
sie denn ausschließlich zu K.’s Nutzen ausgebeutet werden? Der Advokat vergaß
nie zu bemerken, daß es sich nur um niedrige Beamte handelte, also um Beamte in
sehr abhängiger Stellung, für deren Fortkommen gewisse Wendungen der Processe
wahrscheinlich von Bedeutung sein konnten. Benützten sie vielleicht den
Advokaten dazu, um solche für den Angeklagten natürlich immer ungünstige
Wendungen zu erzielen? Vielleicht taten sie das nicht in jedem Proceß, gewiß,
das war nicht wahrscheinlich, es gab dann wohl wieder Processe, in deren
Verlauf sie dem Advokaten für seine Dienste Vorteile einräumten, denn es mußte
ihnen ja auch daran gelegen sein, seinen Ruf ungeschädigt zu erhalten. Verhielt
es sich aber wirklich so, in welcher Weise würden sie bei K.’s Proceß
eingreifen, der wie der Advokat erklärte ein sehr schwieriger also wichtiger
Proceß war und gleich anfangs bei Gericht große Aufmerksamkeit erregt hatte? Es
konnte nicht sehr zweifelhaft sein, was sie tun würden. Anzeichen dessen konnte
man ja schon darin sehn, daß die erste Eingabe noch immer nicht überreicht war,
trotzdem der Proceß schon Monate dauerte und daß sich alles den Angaben des
Advokaten nach in den Anfängen befand, was natürlich sehr geeignet war, den
Angeklagten einzuschläfern und hilflos zu erhalten, um ihn dann plötzlich mit
der Entscheidung zu überfallen oder wenigstens mit der Bekanntmachung daß die
zu seinen Ungunsten abgeschlossene Untersuchung an die höhern Behörden
weitergegeben werde.
Es
war unbedingt nötig, daß K. selbst eingriff. Gerade in Zuständen großer
Müdigkeit, wie an diesem Wintervormittag, wo ihm alles willenlos durch den Kopf
zog, war diese Überzeugung unabweisbar. Die Verachtung die er früher für den
Proceß gehabt hatte galt nicht mehr. Wäre er allein in der Welt gewesen, hätte
er den Proceß leicht mißachten können, wenn es allerdings auch sicher war, daß
dann der Proceß überhaupt nicht entstanden wäre. Jetzt aber hatte ihn der Onkel
schon zum Advokaten gezogen, Familienrücksichten sprachen mit; seine Stellung
war nicht mehr vollständig unabhängig von dem Verlauf des Processes, er selbst
hatte unvorsichtiger Weise mit einer gewissen unerklärlichen Genugtuung vor
Bekannten den Proceß erwähnt, andere hatten auf unbekannte Weise davon
erfahren, das Verhältnis zu Fräulein Bürstner schien entsprechend dem Proceß zu
schwanken – kurz, er hatte kaum mehr die Wahl den Proceß anzunehmen oder
abzulehnen, er stand mitten darin und mußte sich wehren. War er müde dann war
es schlimm.
Zu
übertriebener Sorge war allerdings vorläufig kein Grund. Er hatte es verstanden,
sich in der Bank in verhältnismäßig kurzer Zeit zu seiner hohen Stellung
emporzuarbeiten und sich von allen anerkannt in dieser Stellung zu erhalten, er
mußte jetzt nur diese Fähigkeiten, die ihm das ermöglicht hatten, ein wenig dem
Proceß zuwenden und es war kein Zweifel, daß es gut ausgehn mußte. Vor allem
war es, wenn etwas erreicht werden sollte, notwendig jeden Gedanken an eine
mögliche Schuld von vornherein abzulehnen. Es gab keine Schuld. Der Proceß war
nichts anderes, als ein großes Geschäft, wie er es schon oft mit Vorteil für
die Bank abgeschlossen hatte, ein Geschäft, innerhalb dessen, wie dies die
Regel war, verschiedene Gefahren lauerten, die eben abgewehrt werden mußten. Zu
diesem Zwecke durfte man allerdings nicht mit Gedanken an irgendeine Schuld
spielen, sondern den Gedanken an den eigenen Vorteil möglichst festhalten. Von
diesem Gesichtspunkt aus war es auch unvermeidlich, dem Advokaten die
Vertretung sehr bald, am besten noch an diesem Abend zu entziehn. Es war zwar
nach seinen Erzählungen etwas unerhörtes und wahrscheinlich sehr beleidigendes,
aber K. konnte nicht dulden, daß seinen Anstrengungen in dem Proceß Hindernisse
begegneten, die vielleicht von seinem eigenen Advokaten veranlaßt waren. War
aber einmal der Advokat abgeschüttelt, dann mußte die Eingabe sofort überreicht
und womöglich jeden Tag darauf gedrängt werden, daß man sie berücksichtige. Zu
diesem Zwecke würde es natürlich nicht genügen, daß K. wie die andern im Gang
saß und den Hut unter die Bank stellte. Er selbst oder die Frauen oder andere
Boten mußten Tag für Tag die Beamten überlaufen und sie zwingen, statt durch
das Gitter auf den Gang zu schauen, sich zu ihrem Tisch zu setzen und K.’s
Eingabe zu studieren. Von diesen Anstrengungen dürfte man nicht ablassen, alles
müßte organisiert und überwacht werden, das Gericht sollte einmal auf einen
Angeklagten stoßen, der sein Recht zu wahren verstand.
Wenn
sich aber auch K. dies alles durchzuführen getraute, die Schwierigkeit der
Abfassung der Eingabe war überwältigend. Früher, etwa noch vor einer Woche
hatte er nur mit einem Gefühl der Scham daran denken können, daß er einmal
genötigt sein könnte, eine solche Eingabe selbst zu machen, daß dies auch
schwierig sein konnte, daran hatte er gar nicht gedacht. Er erinnerte sich, wie
er einmal an einem Vormittag, als er gerade mit Arbeit überhäuft war, plötzlich
alles zur Seite geschoben und den Schreibblock vorgenommen hatte, um
versuchsweise den Gedankengang einer derartigen Eingabe zu entwerfen und ihn
vielleicht dem schwerfälligen Advokaten zur Verfügung zu stellen, und wie
gerade in diesem Augenblick, die Tür des Direktionszimmers sich öffnete und der
Direktor-Stellvertreter mit großem Gelächter eintrat. Es war für K. damals sehr
peinlich gewesen, trotzdem der Direktor-Stellvertreter natürlich nicht über die
Eingabe gelacht hatte, von der er nichts wußte, sondern über einen Börsenwitz,
den er eben gehört hatte, einen Witz, der zum Verständnis eine Zeichnung
erforderte, die nun der Direktor-Stellvertreter, über K.’s Tisch gebeugt mit
K.’s Bleistift, den er ihm aus der Hand nahm, auf dem Schreibblock ausführte,
der für die Eingabe bestimmt gewesen war.
Heute
wußte K. nichts mehr von Scham, die Eingabe mußte gemacht werden. Wenn er im
Bureau keine Zeit für sie fand, was sehr wahrscheinlich war, dann mußte er sie
zuhause in den Nächten machen. Würden auch die Nächte nicht genügen, dann mußte
er einen Urlaub nehmen. Nur nicht auf halbem Wege stehn bleiben, das war nicht
nur in Geschäften sondern immer und überall das Unsinnigste. Die Eingabe
bedeutete freilich eine fast endlose Arbeit. Man mußte keinen sehr ängstlichen
Charakter haben und konnte doch leicht zu dem Glauben kommen, daß es unmöglich
war die Eingabe jemals fertigzustellen. Nicht aus Faulheit oder Hinterlist, die
den Advokaten allein an der Fertigstellung hindern konnten, sondern weil in
Unkenntnis der vorhandenen Anklage und gar ihrer möglichen Erweiterungen das
ganze Leben in den kleinsten Handlungen und Ereignissen in die Erinnerung
zurückgebracht, dargestellt und von allen Seiten überprüft werden mußte. Und
wie traurig war eine solche Arbeit überdies. Sie war vielleicht geeignet einmal
nach der Pensionierung den kindisch gewordenen Geist zu beschäftigen und ihm zu
helfen, die langen Tage hinzubringen. Aber jetzt, wo K. alle Gedanken zu seiner
Arbeit brauchte, wo jede Stunde, da er noch im Aufstieg war und schon für den
Direktor-Stellvertreter eine Drohung bedeutete, mit größter Schnelligkeit
vergieng und wo er die kurzen Abende und Nächte als junger Mensch genießen
wollte, jetzt sollte er mit der Verfassung dieser Eingabe beginnen. Wieder
gieng sein Denken in Klagen aus. Fast unwillkürlich, nur um dem ein Ende zu
machen, tastete er mit dem Finger nach dem Knopf der elektrischen Glocke, die
ins Vorzimmer führte. Während er ihn niederdrückte blickte er zur Uhr auf. Es
war elf Uhr, zwei Stunden, eine lange kostbare Zeit hatte er verträumt und war
natürlich noch matter als vorher. Immerhin war die Zeit nicht verloren, er
hatte Entschlüsse gefaßt, die wertvoll sein konnten. Der Diener brachte außer
verschiedener Post zwei Visitkarten von Herren, die schon längere Zeit auf K.
warteten. Es waren gerade sehr wichtige Kundschaften der Bank, die man
eigentlich auf keinen Fall hätte warten lassen sollen. Warum kamen sie zu so
ungelegener Zeit und warum, so schienen wieder die Herren hinter der
geschlossenen Tür zu fragen, verwendete der fleißige K. für
Privatangelegenheiten die beste Geschäftszeit. Müde von dem Vorhergegangenen
und müde das Folgende erwartend stand K. auf, um den Ersten zu empfangen.
Es
war ein kleiner munterer Herr, ein Fabrikant, den K. gut kannte. Er bedauerte,
K. in wichtiger Arbeit gestört zu haben und K. bedauerte seinerseits, daß er
den Fabrikanten so lange hatte warten lassen. Schon dieses Bedauern aber sprach
er in derartig mechanischer Weise und mit fast falscher Betonung aus, daß der
Fabrikant, wenn er nicht ganz von der Geschäftssache eingenommen gewesen wäre,
es hätte bemerken müssen. Statt dessen zog er eilig Rechnungen und Tabellen aus
allen Taschen, breitete sie vor K. aus, erklärte verschiedene Posten,
verbesserte einen kleinen Rechenfehler, der ihm sogar bei diesem flüchtigen
Überblick aufgefallen war, erinnerte K. an ein ähnliches Geschäft, das er mit
ihm vor etwa einem Jahr abgeschlossen hatte, erwähnte nebenbei, daß sich
diesmal eine andere Bank unter größten Opfern um das Geschäft bewerbe und
verstummte schließlich, um nun K.’s Meinung zu erfahren. K. hatte auch
tatsächlich im Anfang die Rede des Fabrikanten gut verfolgt, der Gedanke an das
wichtige Geschäft hatte dann auch ihn ergriffen, nur leider nicht für die
Dauer, er war bald vom Zuhören abgekommen, hatte dann noch ein Weilchen zu den
lauteren Ausrufen des Fabrikanten mit dem Kopf genickt, hatte aber schließlich
auch das unterlassen und sich darauf eingeschränkt, den kahlen auf die Papiere
hinabgebeugten Kopf anzusehn und sich zu fragen, wann der Fabrikant endlich
erkennen werde, daß seine ganze Rede nutzlos sei. Als er nun verstummte,
glaubte K. zuerst wirklich, es geschehe dies deshalb, um ihm Gelegenheit zu dem
Eingeständnis zu geben, daß er nicht fähig sei zuzuhören. Nur mit Bedauern
bemerkte er aber an dem gespannten Blick des offenbar auf alle Entgegnungen
gefaßten Fabrikanten daß die geschäftliche Besprechung fortgesetzt werden
müsse. Er neigte also den Kopf wie vor einem Befehl und begann mit dem
Bleistift langsam über den Papieren hin-und herzufahren, hie und da hielt er
inne und starrte eine Ziffer an. Der Fabrikant vermutete Einwände, vielleicht
waren die Ziffern wirklich nicht feststehend, vielleicht waren sie nicht das
Entscheidende, jedenfalls bedeckte der Fabrikant die Papiere mit der Hand und
begann von neuem, ganz nahe an K. heranrückend, eine allgemeine Darstellung des
Geschäftes. “Es ist schwierig,” sagte K., rümpfte die Lippen und sank, da die
Papiere, das einzig Faßbare, verdeckt waren, haltlos gegen die Seitenlehne. Er
blickte sogar nur schwach auf, als sich die Tür des Direktionszimmers öffnete
und dort nicht ganz deutlich, etwa wie hinter einem Gazeschleier der
Direktor-Stellvertreter erschien. K. dachte nicht weiter darüber nach, sondern
verfolgte nur die unmittelbare Wirkung, die für ihn sehr erfreulich war. Denn
sofort hüpfte der Fabrikant vom Sessel auf und eilte dem
Direktor-Stellvertreter entgegen, K. aber hätte ihn noch zehnmal flinker machen
sollen, denn er fürchtete, der Direktor-Stellvertreter könnte wieder
verschwinden. Es war unnütze Furcht, die Herren trafen sich, reichten einander
die Hände und giengen gemeinsam auf K.’s Schreibtisch zu. Der Fabrikant
beklagte sich daß er beim Prokuristen so wenig Neigung für das Geschäft
gefunden habe und zeigte auf K., der sich unter dem Blick des
Direktor-Stellvertreters wieder über die Papiere beugte. Als dann die zwei sich
an den Schreibtisch lehnten und der Fabrikant sich daran machte, nun den
Direktor-Stellvertreter für sich zu erobern, war es K. als werde über seinem
Kopf von zwei Männern, deren Größe er sich übertrieben vorstellte, über ihn
selbst verhandelt. Langsam suchte er mit vorsichtig aufwärts gedrehten Augen zu
erfahren, was sich oben ereignete, nahm vom Schreibtisch ohne hinzusehn eines
der Papiere, legte es auf die flache Hand und hob es allmählich, während er
selbst aufstand zu den Herren hinauf. Er dachte hiebei an nichts bestimmtes,
sondern handelte nur in dem Gefühl, daß er sich so verhalten mußte, wenn er
einmal die große Eingabe fertiggestellt hätte, die ihn gänzlich entlasten
sollte. Der Direktor-Stellvertreter, der sich an dem Gespräch mit aller
Aufmerksamkeit beteiligte, sah nur flüchtig auf das papier, überlas gar nicht,
was dort stand, denn was dem Prokuristen wichtig war, war ihm unwichtig, nahm
es aus K.’s Hand, sagte: “Danke, ich weiß schon alles” und legte es ruhig
wieder auf den Tisch zurück. K. sah ihn verbittert von der Seite an. Der
Direktor-Stellvertreter aber merkte es gar nicht oder wurde, wenn er es merkte
dadurch nur aufgemuntert, lachte öfters laut auf, brachte einmal durch eine
schlagfertige Entgegnung den Fabrikanten in deutliche Verlegenheit, aus der er
ihn aber sofort riß, indem er sich selbst einen Einwand machte und lud ihn
schließlich ein, in sein Bureau hinüber zu kommen, wo sie die Angelegenheit zu
Ende führen könnten. “Es ist eine sehr wichtige Sache,” sagte er zum
Fabrikanten, “ich sehe das vollständig ein. Und dem Herrn Prokuristen” – selbst
bei dieser Bemerkung redete er eigentlich nur zum Fabrikanten – “wird es gewiß
lieb sein, wenn wir es ihm abnehmen. Die Sache verlangt ruhige Überlegung. Er
aber scheint heute sehr überlastet zu sein, auch warten ja einige Leute im
Vorzimmer schon stundenlang auf ihn.” K. hatte gerade noch genügend Fassung
sich vom Direktor-Stellvertreter wegzudrehn und sein freundliches aber starres
Lächeln nur dem Fabrikanten zuzuwenden, sonst griff er gar nicht ein, stützte
sich ein wenig vorgebeugt mit beiden Händen auf den Schreibtisch wie ein Kommis
hinter dem Pult und sah zu, wie die zwei Herren unter weiteren Reden die
Papiere vom Tisch nahmen und im Direktionszimmer verschwanden. In der Tür
drehte sich noch der Fabrikant um, sagte, er verabschiede sich noch nicht,
sondern werde natürlich dem Herrn Prokuristen über den Erfolg der Besprechung
berichten, auch habe er ihm noch eine andere kleine Mitteilung zu machen.
Endlich
war K. allein. Er dachte gar nicht daran irgendeine andere Partei vorzulassen
und nur undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, wie angenehm es sei, daß die Leute
draußen in dem Glauben waren, er verhandle noch mit dem Fabrikanten und es
könne aus diesem Grunde niemand, nicht einmal der Diener, bei ihm eintreten. Er
gieng zum Fenster, setzte sich auf die Brüstung, hielt sich mit einer Hand an
der Klinke fest und sah auf den Platz hinaus. Der Schnee fiel noch immer, es
hatte sich noch gar nicht aufgehellt.
Lange
saß er so, ohne zu wissen, was ihm eigentlich Sorgen machte, nur von Zeit zu
Zeit blickte er ein wenig erschreckt über die Schulter hinweg zur Vorzimmertür,
wo er irrtümlicher Weise ein Geräusch zu hören geglaubt hatte. Da aber niemand
kam, wurde er ruhiger, gieng zum Waschtisch, wusch sich mit kaltem Wasser und
kehrte mit freierem Kopf zu seinem Fensterplatz zurück. Der Entschluß, seine
Verteidigung selbst in die Hand zu nehmen, stellte sich ihm nun als
schwerwiegender dar, als er ursprünglich angenommen hatte. Solange er die
Verteidigung auf den Advokaten überwälzt hatte, war er doch noch vom Proceß im
Grunde wenig betroffen gewesen, er hatte ihn von der Ferne beobachtet und hatte
unmittelbar von ihm kaum erreicht werden können, er hatte nachsehn können wann
er wollte, wie seine Sache stand, aber er hatte auch den Kopf wieder
zurückziehn können, wann er wollte. Jetzt hingegen wenn er seine Verteidigung
selbst führen würde, mußte er sich wenigstens für den Augenblick ganz und gar
dem Gericht aussetzen, der Erfolg dessen sollte ja für später seine
vollständige und endgiltige Befreiung sein, aber um diese zu erreichen, mußte
er sich vorläufig jedenfalls in viel größere Gefahr begeben als bisher. Hätte
er daran zweifeln wollen, so hätte ihn das heutige Beisammensein mit dem
Direktor-Stellvertreter und dem Fabrikanten hinreichend vom Gegenteil
überzeugen können. Wie war er doch dagesessen, schon vom bloßen Entschluß sich
selbst zu verteidigen gänzlich benommen? Wie sollte es aber später werden? Was
für Tage standen ihm bevor! Würde er den Weg finden, der durch alles hindurch
zum guten Ende führte? Bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung – und
alles andere war sinnlos – bedeutete nicht eine sorgfältige Verteidigung
gleichzeitig die Notwendigkeit sich von allem andern möglichst abzuschließen?
Würde er das glücklich überstehn? Und wie sollte ihm die Durchführung dessen in
der Bank gelingen? Es handelte sich ja nicht nur um die Eingabe, für die ein
Urlaub vielleicht genügt hätte, trotzdem die Bitte um einen Urlaub gerade jetzt
ein großes Wagnis gewesen wäre, es handelte sich doch um einen ganzen Proceß, dessen
Dauer unabsehbar war. Was für ein Hindernis war plötzlich in K.’s Laufbahn
geworfen worden!
Und
jetzt sollte er für die Bank arbeiten? – Er sah auf den Schreibtisch hin. –
Jetzt sollte er Parteien vorlassen und mit ihnen verhandeln? Während sein
Proceß weiterrollte, während oben auf dem Dachboden die Gerichtsbeamten über
den Schriften dieses Processes saßen, sollte er die Geschäfte der Bank
besorgen? Sah es nicht aus, wie eine Folter, die vom Gericht anerkannt, mit dem
Proceß zusammenhieng und ihn begleitete? Und würde man etwa in der Bank bei der
Beurteilung seiner Arbeit seine besondere Lage berücksichtigen? Niemand und
niemals. Ganz unbekannt war ja sein Proceß nicht, wenn es auch noch nicht ganz
klar war, wer davon wußte und wieviel. Bis zum Direktor-Stellvertreter aber war
das Gerücht hoffentlich noch nicht gedrungen, sonst hätte man schon deutlich
sehen müssen, wie er es ohne jede Kollegialität und Menschlichkeit gegen K.
ausnützen würde. Und der Direktor? Gewiß er war K. gut gesinnt und er hätte wahrscheinlich,
sobald er vom Proceß erfahren hätte, soweit es an ihm lag, manche
Erleichterungen für K. schaffen wollen, aber er wäre damit gewiß nicht
durchgedrungen, denn er unterlag jetzt, da das Gegengewicht das K. bisher
gebildet hatte, schwächer zu werden anfieng, immer mehr dem Einfluß des
Direktor-Stellvertreters, der außerdem auch den leidenden Zustand des Direktors
zur Stärkung der eigenen Macht ausnützte. Was hatte also K. zu erhoffen?
Vielleicht schwächte er durch solche Überlegungen seine Widerstandskraft, aber
es war doch auch notwendig, sich selbst nicht zu täuschen und alles so klar zu
sehn, als es augenblicklich möglich war.
Ohne
besondern Grund, nur um vorläufig noch nicht zum Schreibtisch zurückkehren zu
müssen, öffnete er das Fenster. Es ließ sich nur schwer öffnen, er mußte mit
beiden Händen die Klinke drehn. Dann zog durch das Fenster in dessen ganzer
Breite und Höhe der mit Rauch vermischte Nebel in das Zimmer und füllte es mit
einem leichten Brandgeruch. Auch einige Schneeflocken wurden hereingeweht. “Ein
häßlicher Herbst,” sagte hinter K. der Fabrikant, der vom
Direktor-Stellvertreter kommend unbemerkt ins Zimmer getreten war. K. nickte
und sah unruhig auf die Aktentasche des Fabrikanten, aus der dieser nun wohl
die Papiere herausziehn würde um K. das Ergebnis der Verhandlungen mit dem
Direktor-Stellvertreter mitzuteilen. Der Fabrikant aber folgte K.’s Blick,
klopfte auf seine Tasche und sagte ohne sie zu öffnen: “Sie wollen hören, wie
es ausgefallen ist. Mittelgut. Ich trage schon fast den Geschäftsabschluß in
der Tasche. Ein reizender Mensch, Ihr Direktor-Stellvertreter, aber durchaus
nicht ungefährlich.” Er lachte, schüttelte K.’s Hand und wollte auch ihn zum
Lachen bringen. Aber K. schien es nun wieder verdächtig, daß ihm der Fabrikant
die Papiere nicht zeigen wollte und er fand an der Bemerkung des Fabrikanten
nichts zum Lachen. “Herr Prokurist,” sagte der Fabrikant, “Sie leiden wohl
unter dem Wetter. Sie sehn heute so bedrückt aus.” “Ja,” sagte K. und griff mit
der Hand an die Schläfe, “Kopfschmerzen, Familiensorgen.” “Sehr richtig,” sagte
der Fabrikant, der ein eiliger Mensch war und niemanden ruhig anhören konnte,
“jeder hat sein Kreuz zu tragen.” Unwillkürlich hatte K. einen Schritt gegen
die Tür gemacht, als wolle er den Fabrikanten hinausbegleiten, dieser aber
sagte: “Ich hätte Herr Prokurist noch eine kleine Mitteilung für Sie. Ich
fürchte sehr, daß ich Sie gerade heute damit vielleicht belästige, aber ich war
schon zweimal in der letzten Zeit bei Ihnen und habe jedesmal daran vergessen.
Schiebe ich es aber noch weiterhin auf, verliert es wahrscheinlich vollständig
seinen Zweck. Das wäre aber schade, denn im Grunde ist meine Mitteilung
vielleicht doch nicht wertlos.” Ehe K. Zeit hatte zu antworten, trat der
Fabrikant nahe an ihn heran, klopfte mit dem Fingerknöchel leicht an seine
Brust und sagte leise: “Sie haben einen Proceß nicht wahr?” K. trat zurück und
rief sofort: “Das hat Ihnen der Direktor-Stellvertreter gesagt.” “Ach nein,”
sagte der Fabrikant, “woher sollte denn der Stellvertreter es wissen?” “Und
Sie?” fragte K. schon viel gefaßter. “Ich erfahre hie und da etwas von dem
Gericht,” sagte der Fabrikant. “Das betrifft eben die Mitteilung, die ich Ihnen
machen wollte.” “So viele Leute sind mit dem Gericht in Verbindung!” sagte K.
mit gesenktem Kopf und führte den Fabrikanten zum Schreibtisch. Sie setzten
sich wieder wie früher und der Fabrikant sagte: “Es ist leider nicht sehr viel,
was ich Ihnen mitteilen kann. Aber in solchen Dingen soll man nicht das
geringste vernachlässigen. Außerdem drängt es mich aber Ihnen irgendwie zu
helfen und sei meine Hilfe noch so bescheiden. Wir waren doch bisher gute
Geschäftsfreunde, nicht? Nun also.” K. wollte sich wegen seines Verhaltens bei
der heutigen Besprechung entschuldigen, aber der Fabrikant duldete keine
Unterbrechung, schob die Aktentasche hoch unter die Achsel, um zu zeigen, daß
er Eile habe und fuhr fort: “Von Ihrem Proceß weiß ich durch einen gewissen
Titorelli. Es ist ein Maler, Titorelli ist nur sein Künstlername, seinen wirklichen
Namen kenne ich gar nicht. Er kommt schon seit Jahren von Zeit zu Zeit in mein
Bureau und bringt kleine Bilder mit, für die ich ihm – er ist fast ein Bettler
– immer eine Art Almosen gebe. Es sind übrigens hübsche Bilder,
Heidelandschaften und dergleichen. Diese Verkäufe – wir hatten uns schon beide
daran gewöhnt – giengen ganz glatt vor sich. Einmal aber wiederholten sich
diese Besuche doch zu oft, ich machte ihm Vorwürfe, wir kamen ins Gespräch, es
interessierte mich, wie er sich allein durch Malen erhalten könne und ich
erfuhr nun zu meinem Staunen, daß seine Haupteinnahmsquelle das Porträtmalen
sei. Er arbeite für das Gericht, sagte er. Für welches Gericht fragte ich. Und
nun erzählte er mir von dem Gericht. Sie werden sich wohl am besten vorstellen können
wie erstaunt ich über diese Erzählungen war. Seitdem höre ich bei jedem seiner
Besuche irgendwelche Neuigkeiten vom Gericht und bekomme so allmählich einen
gewissen Einblick in die Sache. Allerdings ist Titorelli geschwätzig und ich
muß ihn oft abwehren, nicht nur weil er gewiß auch lügt, sondern vor allem weil
ein Geschäftsmann wie ich, der unter den eigenen Geschäftssorgen fast
zusammenbricht, sich nicht noch viel um fremde Dinge kümmern kann. Aber das nur
nebenbei. Vielleicht – so dachte ich jetzt – kann Ihnen Titorelli ein wenig
behilflich sein, er kennt viele Richter und wenn er selbst auch keinen großen
Einfluß haben sollte, so kann er Ihnen doch Ratschläge geben, wie man
verschiedenen einflußreichen Leuten beikommen kann. Und wenn auch diese Ratschläge
an und für sich nicht entscheidend sein sollten, so werden sie doch meiner
Meinung nach in Ihrem Besitz von großer Bedeutung sein. Sie sind ja fast ein
Advokat. Ich pflege immer zu sagen: Prokurist K. ist fast ein Advokat. Oh, ich
habe keine Sorgen wegen Ihres Processes. Wollen Sie nun aber zu Titorelli
gehen? Auf meine Empfehlung hin wird er gewiß alles tun, was ihm möglich ist.
Ich denke wirklich Sie sollten hingehn. Es muß natürlich nicht heute sein,
einmal, gelegentlich. Allerdings sind Sie – das will ich noch sagen – dadurch,
daß gerade ich Ihnen diesen Rat gebe, nicht im geringsten verpflichtet, auch
wirklich zu Titorelli hinzugehn. Nein, wenn Sie Titorelli entbehren zu können
glauben, ist es gewiß besser, ihn ganz beiseite zu lassen. Vielleicht haben Sie
schon einen ganz genauen Plan und Titorelli könnte ihn stören. Nein, dann gehn
Sie natürlich auf keinen Fall hin. Es kostet gewiß auch Überwindung sich von
einem solchen Burschen Ratschläge geben zu lassen. Nun wie Sie wollen. Hier ist
das Empfehlungsschreiben und hier die Adresse.”
Enttäuscht
nahm K. den Brief und steckte ihn in die Tasche. Selbst im günstigsten Falle
war der Vorteil, den ihm die Empfehlung bringen konnte, unverhältnismäßig
kleiner als der Schaden, der darin lag, daß der Fabrikant von seinem Proceß
wußte und daß der Maler die Nachricht weiter verbreitete. Er konnte sich kaum
dazu zwingen dem Fabrikanten, der schon auf dem Weg zur Türe war, mit ein paar
Worten zu danken. “Ich werde hingehn,” sagte er, als er sich bei der Tür vom
Fabrikanten verabschiedete, “oder ihm, da ich jetzt sehr beschäftigt bin,
schreiben, er möge einmal zu mir ins Bureau kommen.” “Ich wußte ja,” sagte der
Fabrikant, “daß Sie den besten Ausweg finden würden. Allerdings dachte ich, daß
Sie es lieber vermeiden wollen, Leute wie diesen Titorelli in die Bank
einzuladen, um mit ihm hier über den Proceß zu sprechen. Es ist auch nicht
immer vorteilhaft Briefe an solche Leute aus der Hand zu geben. Aber Sie haben
gewiß alles durchgedacht und wissen was Sie tun dürfen.” K. nickte und
begleitete den Fabrikanten noch durch das Vorzimmer. Aber trotz äußerlicher
Ruhe war er über sich sehr erschrocken. Daß er Titorelli schreiben würde, hatte
er eigentlich nur gesagt, um dem Fabrikanten irgendwie zu zeigen, daß er die
Empfehlung zu schätzen wisse und die Möglichkeiten mit Titorelli
zusammenzukommen sofort überlege, aber wenn er Titorellis Beistand für wertvoll
angesehen hätte, hätte er auch nicht gezögert, ihm wirklich zu schreiben. Die
Gefahren aber, die das zur Folge haben könnte, hatte er erst durch die
Bemerkung des Fabrikanten erkannt. Konnte er sich auf seinen eigenen Verstand
tatsächlich schon so wenig verlassen? Wenn es möglich war, daß er einen
fragwürdigen Menschen durch einen deutlichen Brief in die Bank einlud, um von
ihm nur durch eine Tür vom Direktor-Stellvertreter getrennt Ratschläge wegen
seines Processes zu erbitten, war es dann nicht möglich und sogar sehr
wahrscheinlich, daß er auch andere Gefahren übersah oder in sie hineinrannte?
Nicht immer stand jemand neben ihm, um ihn zu warnen. Und gerade jetzt, wo er
mit gesammelten Kräften auftreten sollte, mußten derartige ihm bisher fremde
Zweifel an seiner eigenen Wachsamkeit auftreten. Sollten die Schwierigkeiten,
die er bei Ausführung seiner Bureauarbeit fühlte, nun auch im Proceß beginnen?
Jetzt allerdings begriff er es gar nicht mehr wie es möglich gewesen war, daß
er an Titorelli hatte schreiben und ihn in die Bank einladen wollen.
Er
schüttelte noch den Kopf darüber, als der Diener an seine Seite trat und ihn
auf drei Herren aufmerksam machte, die hier im Vorzimmer auf einer Bank saßen.
Sie warteten schon lange darauf, zu K. vorgelassen zu werden. Jetzt da der
Diener mit K. sprach, waren sie aufgestanden und jeder wollte eine günstige
Gelegenheit ausnützen, um sich vor den andern an K. heranzumachen. Da man von
seiten der Bank so rücksichtslos war, sie hier im Wartezimmer ihre Zeit
verlieren zu lassen, wollten auch sie keine Rücksicht mehr üben. “Herr
Prokurist,” sagte schon der eine. Aber K. hatte sich vom Diener den Winterrock
bringen lassen und sagte, während er ihn mit Hilfe des Dieners anzog zu allen
dreien: “Verzeihen Sie meine Herren, ich habe augenblicklich leider keine Zeit,
Sie zu empfangen. Ich bitte Sie sehr um Verzeihung, aber ich habe einen dringenden
Geschäftsgang zu erledigen und muß sofort weggehn. Sie haben ja selbst gesehn,
wie lange ich jetzt aufgehalten wurde. Wären Sie so freundlich, morgen oder
wann immer wiederzukommen? Oder wollen wir die Sachen vielleicht telephonisch
besprechen? Oder wollen Sie mir vielleicht jetzt kurz sagen, um was es sich
handelt und ich gebe Ihnen dann eine ausführliche schriftliche Antwort. Am
besten wäre es allerdings Sie kämen nächstens.” Diese Vorschläge K.’s brachten
die Herren, die nun vollständig nutzlos gewartet haben sollten, in solches
Staunen, daß sie einander stumm ansahen. “Wir sind also einig?” fragte K. der
sich nach dem Diener umgewendet hatte, der ihm nun auch den Hut brachte. Durch
die offene Tür von K.’s Zimmer sah man, wie sich draußen der Schneefall sehr
verstärkt hatte. K. schlug daher den Mantelkragen in die Höhe und knöpfte ihn
hoch unter dem Halse zu.
Da
trat gerade aus dem Nebenzimmer der Direktor-Stellvertreter, sah lächelnd K. im
Winterrock mit den Herren verhandeln und fragte: “Sie gehn jetzt weg Herr
Prokurist?” “Ja,” sagte K. und richtete sich auf, “ich habe einen Geschäftsgang
zu machen.” Aber der Direktor-Stellvertreter hatte sich schon den Herren
zugewendet. “Und die Herren” fragte er. “Ich glaube Sie warten schon lange.”
“Wir haben uns schon geeinigt,” sagte K. Aber nun ließen sich die Herren nicht
mehr halten, umringten K. und erklärten daß sie nicht stundenlang gewartet
hätten, wenn ihre Angelegenheiten nicht wichtig wären und nicht jetzt undzwar
ausführlich unter vier Augen besprochen werden müßten. Der
Direktor-Stellvertreter hörte ihnen ein Weilchen zu, betrachtete auch K., der
den Hut in der Hand hielt und ihn stellenweise von Staub reinigte, und sagte
dann: “Meine Herren es gibt ja einen sehr einfachen Ausweg. Wenn Sie mit mir vorlieb
nehmen wollen, übernehme ich sehr gerne die Verhandlungen statt des Herrn
Prokuristen. Ihre Angelegenheiten müssen natürlich sofort besprochen werden.
Wir sind Geschäftsleute wie Sie und wissen die Zeit von Geschäftsleuten richtig
zu bewerten. Wollen Sie hier eintreten?” Und er öffnete die Tür, die zu dem
Vorzimmer seines Bureaus führte.
Wie
sich doch der Direktor-Stellvertreter alles anzueignen verstand, was K. jetzt
notgedrungen aufgeben mußte! Gab aber K. nicht mehr auf, als unbedingt nötig
war? Während er mit unbestimmten und wie er sich eingestehen mußte sehr
geringen Hoffnungen zu einem unbekannten Maler lief, erlitt hier sein Ansehen
eine unheilbare Schädigung. Es wäre wahrscheinlich viel besser gewesen, den
Winterrock wieder auszuziehn und wenigstens die zwei Herren, die ja nebenan
doch noch warten mußten, für sich zurückzugewinnen. K. hätte es vielleicht auch
versucht, wenn er nicht jetzt in seinem Zimmer den Direktor-Stellvertreter
erblickt hätte, wie er im Bücherständer, als wäre es sein eigener, etwas
suchte. Als K. sich erregt der Türe näherte, rief er: “Ah, Sie sind noch nicht
weggegangen.” Er wandte ihm sein Gesicht zu, dessen viele straffe Falten nicht
Alter sondern Kraft zu beweisen schienen, und fieng sofort wieder zu suchen an.
“Ich suche eine Vertragsabschrift,” sagte er, “die sich wie der Vertreter der
Firma behauptet, bei Ihnen befinden soll. Wollen Sie mir nicht suchen helfen?”
K. machte einen Schritt, aber der Direktor-Stellvertreter sagte: “Danke ich
habe es schon gefunden” und kehrte mit einem großen Paket Schriften, das nicht
nur die Vertragsabschrift, sondern gewiß noch vieles andere enthielt, wieder in
sein Zimmer zurück.
“Jetzt
bin ich ihm nicht gewachsen,” sagte sich K., “wenn aber meine persönlichen
Schwierigkeiten einmal beseitigt sein werden, dann soll er wahrhaftig der erste
sein, der es zu fühlen bekommt undzwar möglichst bitter.” Durch diesen Gedanken
ein wenig beruhigt, gab K. dem Diener, der schon lange die Tür zum Korridor für
ihn offenhielt, den Auftrag, dem Direktor gelegentlich die Meldung zu machen
daß er sich auf einem Geschäftsgang befinde, und verließ fast glücklich darüber
sich eine Zeitlang vollständiger seiner Sache widmen zu können die Bank.
Er
fuhr sofort zum Maler, der in einer Vorstadt wohnte, die jener in welcher sich
die Gerichtskanzleien befanden vollständig entgegengesetzt war. Es war eine
noch ärmere Gegend; die Häuser noch dunkler, die Gassen voll Schmutz, der auf
dem zerflossenen Schnee langsam umhertrieb. Im Hause in dem der Maler wohnte
war nur ein Flügel des großen Tores geöffnet, in den andern aber war unten an
der Mauer eine Lücke gebrochen, aus der gerade als sich K. näherte eine
widerliche gelbe rauchende Flüssigkeit herausschoß, vor der sich eine Ratte in
den nahen Kanal flüchtete. Unten an der Treppe lag ein kleines Kind bäuchlings
auf der Erde und weinte, aber man hörte es kaum infolge des alles übertönenden
Lärms, der aus einer Klempfnerwerkstätte auf der andern Seite des Torganges
kam. Die Tür der Werkstätte war offen, drei Gehilfen standen im Halbkreis um
irgendein Werkstück auf das sie mit den Hämmern schlugen. Eine große Platte
Weißblech, die an der Wand hieng, warf ein bleiches Licht das zwischen zwei
Gehilfen eindrang und die Gesichter und Arbeitsschürzen erhellte. K. hatte für
alles nur einen flüchtigen Blick, er wollte möglichst rasch hier fertig werden,
nur den Maler mit paar Worten ausforschen und sofort wieder in die Bank
zurückgehn. Wenn er hier nur den kleinsten Erfolg hatte, sollte das auf seine
heutige Arbeit in der Bank noch eine gute Wirkung ausüben. Im dritten Stockwerk
mußte er seinen Schritt mäßigen, er war ganz außer Atem, die Treppen ebenso wie
die Stockwerke waren übermäßig hoch und der Maler sollte ganz oben in einer
Dachkammer wohnen. Auch war die Luft sehr drückend, es gab keinen Treppenhof,
die enge Treppe war auf beiden Seiten von Mauern eingeschlossen, in denen nur
hie und da fast ganz oben kleine Fenster angebracht waren. Gerade als K. ein
wenig stehen blieb, liefen paar kleine Mädchen aus einer Wohnung heraus und eilten
lachend die Treppe weiter hinauf. K. folgte ihnen langsam, holte eines der
Mädchen ein, das gestolpert und hinter den andern zurückgeblieben war, und
fragte es, während sie nebeneinander weiterstiegen: “Wohnt hier ein Maler
Titorelli?” Das Mädchen, ein kaum dreizehnjähriges etwas buckliges Mädchen,
stieß ihn darauf mit dem Elbogen an und sah von der Seite zu ihm auf. Weder
ihre Jugend noch ihr Körperfehler hatte verhindern können, daß sie schon ganz
verdorben war. Sie lächelte nicht einmal sondern sah K. ernst mit scharfem
aufforderndem Blicke an. K. tat als hätte er ihr Benehmen nicht bemerkt und
fragte: “Kennst Du den Maler Titorelli?” Sie nickte und fragte ihrerseits: “Was
wollen Sie von ihm?” K. schien es vorteilhaft sich noch schnell ein wenig über
Titorelli zu unterrichten: “Ich will mich von ihm malen lassen,” sagte er.
“Malen lassen?” fragte sie, öffnete übermäßig den Mund, schlug leicht mit der
Hand gegen K., als hätte er etwas außerordentlich überraschendes oder
ungeschicktes gesagt, hob mit beiden Händen ihr ohnedies sehr kurzes Röckchen
und lief so schnell sie konnte hinter den andern Mädchen, deren Geschrei schon
undeutlich in der Höhe sich verlor. Bei der nächsten Wendung der Treppe aber
traf K. schon wieder alle Mädchen. Sie waren offenbar von der Buckligen von
K.’s Absicht verständigt worden und erwarteten ihn. Sie standen zu beiden
Seiten der Treppe, drückten sich an die Mauer, damit K. bequem zwischen ihnen
durchkomme und glätteten mit der Hand ihre Schürzen. Alle Gesichter wie auch diese
Spalierbildung stellten eine Mischung von Kindlichkeit und Verworfenheit dar.
Oben an der Spitze der Mädchen, die sich jetzt hinter K. lachend
zusammenschlossen, war die Bucklige, welche die Führung übernahm. K. hatte es
ihr zu verdanken, daß er gleich den richtigen Weg fand. Er wollte nämlich
geradeaus weitersteigen, sie aber zeigte ihm daß er eine Abzweigung der Treppe
wählen müsse um zu Titorelli zu kommen. Die Treppe die zu ihm führte, war
besonders schmal, sehr lang, ohne Biegung, in ihrer ganzen Länge zu übersehn
und oben unmittelbar von Titorellis Tür abgeschlossen. Diese Tür, die durch ein
kleines, schief über ihr eingesetztes Oberlichtfenster im Gegensatz zur übrigen
Treppe verhältnismäßig hell beleuchtet wurde, war aus nicht übertünchten Balken
zusammengesetzt, auf die der Name Titorelli mit roter Farbe in breiten
Pinselstrichen gemalt war. K. war mit seinem Gefolge noch kaum in der Mitte der
Treppe, als oben, offenbar veranlaßt durch das Geräusch der vielen Schritte,
die Tür ein wenig geöffnet wurde und ein wahrscheinlich nur mit einem Nachthemd
bekleideter Mann in der Türspalte erschien. “Oh!” rief er, als er die Menge
kommen sah und verschwand. Die Bucklige klatschte vor Freude in die Hände und
die übrigen Mädchen drängten hinter K., um ihn schneller vorwärtszutreiben.
Sie
waren aber noch nicht einmal hinaufgekommen, als oben der Maler die Tür
gänzlich aufriß und mit einer tiefen Verbeugung K. einlud einzutreten. Die
Mädchen dagegen wehrte er ab, er wollte keine von ihnen einlassen, so sehr sie baten
und so sehr sie versuchten, wenn schon nicht mit seiner Erlaubnis so gegen
seinen Willen einzudringen. Nur der Buckligen gelang es unter seinem
ausgestreckten Arm durchzuschlüpfen, aber der Maler jagte hinter ihr her,
packte sie bei den Röcken, wirbelte sie einmal um sich herum und setzte sie
dann vor der Tür bei den andern Mädchen ab, die es während der Maler seinen
Posten verlassen hatte doch nicht gewagt hatten die Schwelle zu überschreiten.
K. wußte nicht, wie er das Ganze beurteilen sollte, es hatte nämlich den
Anschein, als ob alles in freundschaftlichem Einvernehmen geschehe. Die Mädchen
bei der Tür streckten eines hinter dem andern die Hälse in die Höhe, riefen dem
Maler verschiedene scherzhaft gemeinte Worte zu, die K. nicht verstand und auch
der Maler lachte, während die Bucklige in seiner Hand fast flog. Dann schloß er
die Tür, verbeugte sich nochmals vor K., reichte ihm die Hand und sagte sich
vorstellend: “Kunstmaler Titorelli.” K. zeigte auf die Tür, hinter der die
Mädchen flüsterten, und sagte: “Sie scheinen im Hause sehr beliebt zu sein.”
“Ach, die Fratzen!” sagte der Maler und suchte vergebens sein Nachthemd am
Halse zuzuknöpfen. Er war im übrigen bloßfüßig und nur noch mit einer breiten
gelblichen Leinenhose bekleidet, die mit einem Riemen festgemacht war, dessen
langes Ende frei hin- und herschlug. “Diese Fratzen sind mir eine wahre Last,”
fuhr er fort, während er vom Nachthemd dessen letzter Knopf gerade abgerissen
war abließ, einen Sessel holte und K. zum Niedersetzen nötigte. “Ich habe eine
von ihnen – sie ist heute nicht einmal dabei – einmal gemalt und seitdem
verfolgen mich alle. Wenn ich selbst hier bin kommen sie nur herein, wenn ich
es erlaube, bin ich aber einmal weg, dann ist immer zumindest eine da. Sie
haben sich einen Schlüssel zu meiner Tür machen lassen, den sie untereinander
verleihen. Man kann sich kaum vorstellen wie lästig das ist. Ich komme z. B.
mit einer Dame die ich malen soll nachhause, öffne die Tür mit meinem Schlüssel
und finde etwa die Bucklige dort beim Tischchen wie sie sich mit dem Pinsel die
Lippen rot färbt, während ihre kleinen Geschwister, die sie zu beaufsichtigen
hat, sich herumtreiben und das Zimmer in allen Ecken verunreinigen. Oder ich
komme, wie es mir erst gestern geschehen ist, spät abends nachhause –
entschuldigen Sie bitte mit Rücksicht darauf meinen Zustand und die Unordnung
im Zimmer – also ich komme spät abends nachhause und will ins Bett steigen, da
zwickt mich etwas ins Bein, ich schaue unter das Bett und ziehe wieder so ein
Ding heraus. Warum sie sich so zu mir drängen weiß ich nicht, daß ich sie nicht
zu mir zu locken suche, dürften Sie eben bemerkt haben. Natürlich bin ich
dadurch auch in meiner Arbeit gestört. Wäre mir dieses Atelier nicht umsonst
zur Verfügung gestellt, ich wäre schon längst ausgezogen.” Gerade rief hinter
der Tür ein Stimmchen, zart und ängstlich: “Titorelli, dürfen wir schon
kommen?” “Nein,” antwortete der Maler. “Ich allein auch nicht?” fragte es
wieder. “Auch nicht,” sagte der Maler, gieng zur Tür und sperrte sie ab.
K.
hatte sich inzwischen im Zimmer umgesehen, er wäre niemals selbst auf den
Gedanken gekommen, daß man dieses elende kleine Zimmer ein Atelier nennen
könnte. Mehr als zwei lange Schritte konnte man der Länge und Quere nach kaum
hier machen. Alles, Fußboden, Wände und Zimmerdecke war aus Holz, zwischen den
Balken sah man schmale Ritzen. K. gegenüber stand an der Wand das Bett, das mit
verschiedenfarbigem Bettzeug überladen war. In der Mitte des Zimmers war auf
einer Staffelei ein Bild, das mit einem Hemd verhüllt war, dessen Ärmel bis zum
Boden baumelten. Hinter K. war das Fenster, durch das man im Nebel nicht weiter
sehen konnte, als über das mit Schnee bedeckte Dach des Nachbarhauses.
Das
Umdrehn des Schlüssels im Schloß erinnerte K. daran, daß er bald hatte weggehn
wollen. Er zog daher den Brief des Fabrikanten aus der Tasche, reichte ihn dem
Maler und sagte: “Ich habe durch diesen Herrn Ihren Bekannten von Ihnen
erfahren und bin auf seinen Rat hin gekommen.” Der Maler las den Brief flüchtig
durch und warf ihn aufs Bett. Hätte der Fabrikant nicht auf das bestimmteste
von Titorelli als von seinem Bekannten gesprochen, als von einem armen
Menschen, der auf seine Almosen angewiesen war, so hätte man jetzt wirklich
glauben können, Titorelli kenne den Fabrikanten nicht oder wisse sich an ihn
wenigstens nicht zu erinnern. Überdies fragte nun der Maler: “Wollen Sie Bilder
kaufen oder sich selbst malen lassen?” K. sah den Maler erstaunt an. Was stand
denn eigentlich in dem Brief? K. hatte es als selbstverständlich angenommen,
daß der Fabrikant in dem Brief den Maler davon unterrichtet hatte, daß K.
nichts anderes wollte, als sich hier wegen seines Processes zu erkundigen. Er
war doch gar zu eilig und unüberlegt hierhergelaufen! Aber er mußte jetzt dem
Maler irgendwie antworten und sagte mit einem Blick auf die Staffelei: “Sie
arbeiten gerade an einem Bild?” “Ja,” sagte der Maler und warf das Hemd, das
über der Staffelei hieng, dem Brief nach auf das Bett. “Es ist ein Porträt.
Eine gute Arbeit, aber noch nicht ganz fertig.” Der Zufall war K. günstig, die
Möglichkeit vom Gericht zu reden, wurde ihm förmlich dargeboten, denn es war
offenbar das Porträt eines Richters. Es war übrigens dem Bild im Arbeitszimmer
des Advokaten auffallend ähnlich. Es handelte sich hier zwar um einen ganz
andern Richter, einen dicken Mann mit schwarzem buschigen Vollbart, der
seitlich weit die Wangen hinaufreichte, auch war jenes Bild ein Ölbild, dieses
aber mit Pastellfarben schwach und undeutlich angesetzt. Aber alles übrige war
ähnlich, denn auch hier wollte sich gerade der Richter von seinem Tronsessel,
dessen Seitenlehnen er festhielt, drohend erheben. “Das ist ja ein Richter,”
hatte K. gleich sagen wollen, hielt sich dann aber vorläufig noch zurück und
näherte sich dem Bild als wolle er es in den Einzelheiten studieren. Eine große
Figur die in der Mitte über der Rückenlehne des Tronsessels stand konnte er
sich nicht erklären und fragte den Maler nach ihr. “Sie muß noch ein wenig
ausgearbeitet werden,” antwortete der Maler, holte von einem Tischchen einen
Pastellstift und strichelte mit ihm ,ein wenig an den Rändern der Figur, ohne
sie aber dadurch für K. deutlicher zu machen. “Es ist die Gerechtigkeit,” sagte
der Maler schließlich. “Jetzt erkenne ich sie schon,” sagte K., “hier ist die
Binde um die Augen und hier die Wage. Aber sind nicht an den Fersen Flügel und
befindet sie sich nicht im Lauf?” “Ja,” sagte der Maler, “ich mußte es über
Auftrag so malen, es ist eigentlich die Gerechtigkeit und die Siegesgöttin in
einem.” “Das ist keine gute Verbindung,” sagte K. lächelnd, “die Gerechtigkeit
muß ruhen, sonst schwankt die Wage und es ist kein gerechtes Urteil möglich.”
“Ich füge mich darin meinem Auftraggeber,” sagte der Maler. “Ja gewiß,” sagte
K., der mit seiner Bemerkung niemanden hatte kränken wollen. “Sie haben die
Figur so gemalt, wie sie auf dem Tronsessel wirklich steht.” “Nein,” sagte der
Maler, “ich habe weder die Figur noch den Tronsessel gesehn, das alles ist
Erfindung, aber es wurde mir angegeben, was ich zu malen habe.” “Wie?” fragte
K., er tat absichtlich, als verstehe er den Maler nicht völlig, “es ist doch
ein Richter, der auf dem Richterstuhl sitzt.” “Ja,” sagte der Maler, “aber es
ist kein hoher Richter und er ist niemals auf einem solchen Tronsessel
gesessen.” “Und läßt sich doch in so feierlicher Haltung malen? Er sitzt ja da
wie ein Gerichtspräsident.” “Ja, eitel sind die Herren,” sagte der Maler. “Aber
sie haben die höhere Erlaubnis sich so malen zu lassen. Jedem ist genau
vorgeschrieben, wie er sich malen lassen darf. Nur kann man leider gerade nach
diesem Bild die Einzelheiten der Tracht und des Sitzes nicht beurteilen, die
Pastellfarben sind für solche Darstellungen nicht geeignet.” “Ja,” sagte K.,
“es ist sonderbar, daß es in Pastellfarben gemalt ist.” “Der Richter wünschte
es so,” sagte der Maler, “es ist für eine Dame bestimmt.” Der Anblick des
Bildes schien ihm Lust zur Arbeit gemacht zu haben, er krempelte die Hemdärmel
aufwärts, nahm einige Stifte in die Hand und K. sah zu, wie unter den
zitternden Spitzen der Stifte anschließend an den Kopf des Richters ein
rötlicher Schatten sich bildete, der strahlenförmig gegen den Rand des Bildes
vergieng. Allmählich umgab dieses Spiel des Schattens den Kopf wie ein Schmuck
oder eine hohe Auszeichnung. Um die Figur der Gerechtigkeit aber blieb es bis
auf eine unmerkliche Tönung hell, in dieser Helligkeit schien die Figur
besonders vorzudringen, sie erinnerte kaum mehr an die Göttin der
Gerechtigkeit, aber auch nicht an die des Sieges, sie sah jetzt vielmehr
vollkommen wie die Göttin der Jagd aus. Die Arbeit des Malers zog K. mehr an
als er wollte; schließlich aber machte er sich doch Vorwürfe, daß er solange
schon hier war und im Grunde noch nichts für seine eigene Sache unternommen
hatte. “Wie heißt dieser Richter?” fragte er plötzlich. “Das darf ich nicht
sagen,” antwortete der Maler, er war tief zum Bild hinabgebeugt und
vernachlässigte deutlich seinen Gast, den er doch zuerst so rücksichtsvoll
empfangen hatte. K. hielt das für eine Laune und ärgerte sich darüber weil er
dadurch Zeit verlor. “Sie sind wohl ein Vertrauensmann des Gerichtes?” fragte
er. Sofort legte der Maler die Stifte beiseite, richtete sich auf, rieb die
Hände an einander und sah K. lächelnd an. “Nur immer gleich mit der Wahrheit
heraus,” sagte er, “Sie wollen etwas über das Gericht erfahren, wie es ja auch
in Ihrem Empfehlungsschreiben steht, und haben zunächst über meine Bilder
gesprochen um mich zu gewinnen. Aber ich nehme das nicht übel, Sie konnten ja
nicht wissen, daß das bei mir unangebracht ist. Oh bitte!” sagte er scharf
abwehrend, als K. etwas einwenden wollte. Und fuhr dann fort: “Im übrigen haben
Sie mit Ihrer Bemerkung vollständig recht, ich bin ein Vertrauensmann des
Gerichtes.” Er machte eine Pause, als wolle er K. Zeit lassen, sich mit dieser
Tatsache abzufinden. Man hörte jetzt wieder hinter der Tür die Mädchen. Sie
drängten sich wahrscheinlich um das Schlüsselloch, vielleicht konnte man auch
durch die Ritzen ins Zimmer hereinsehn. K. unterließ es sich irgendwie zu
entschuldigen denn er wollte den Maler nicht ablenken, wohl aber wollte er
nicht, daß der Maler sich allzu überhebe und sich auf diese Weise gewissermaßen
unerreichbar mache, er fragte deshalb: “Ist das eine öffentlich anerkannte
Stellung?” “Nein,” sagte der Maler kurz, als sei ihm dadurch die weitere Rede
verschlagen. K. wollte ihn aber nicht verstummen lassen und sagte: “Nun, oft
sind derartige nicht anerkannte Stellungen einflußreicher als die anerkannten.”
“Das ist eben bei mir der Fall,” sagte der Maler und nickte mit
zusammengezogener Stirn. “Ich sprach gestern mit dem Fabrikanten über Ihren
Fall, er fragte mich ob ich Ihnen nicht helfen wollte, ich antwortete: ‚Der
Mann kann ja einmal zu mir kommen‘ und nun freue ich mich, Sie so bald hier zu
sehn. Die Sache scheint Ihnen ja sehr nahe zu gehn, worüber ich mich natürlich
gar nicht wundere. Wollen Sie vielleicht zunächst Ihren Rock ablegen?” Trotzdem
K. beabsichtigte nur ganz kurze Zeit hier zu bleiben, war ihm diese
Aufforderung des Malers doch sehr willkommen. Die Luft im Zimmer war ihm
allmählich drückend geworden, öfters hatte er schon verwundert auf einen
kleinen zweifellos nicht geheizten Eisenofen in der Ecke hingesehn, die Schwüle
im Zimmer war unerklärlich. Während er den Winterrock ablegte und auch noch den
Rock aufknöpfte, sagte der Maler sich entschuldigend: “Ich muß Wärme haben. Es
ist hier doch sehr behaglich, nicht? Das Zimmer ist in dieser Hinsicht sehr gut
gelegen.” K. sagte dazu nichts, aber es war nicht eigentlich die Wärme, die ihm
Unbehagen machte, es war vielmehr die dumpfe das Atmen fast behindernde Luft,
das Zimmer war wohl schon lange nicht gelüftet. Diese Unannehmlichkeit wurde
für K. dadurch noch verstärkt, daß ihn der Maler bat sich auf das Bett zu
setzen, während er selbst sich auf den einzigen Stuhl des Zimmers vor der
Staffelei niedersetzte. Außerdem schien es der Maler mißzuverstehn, warum K.
nur am Bettrand blieb, er bat vielmehr, K. möchte es sich bequem machen und
gieng, da K. zögerte, selbst hin und drängte ihn tief in die Betten und Pölster
hinein. Dann kehrte er wieder zu seinem Sessel zurück und stellte endlich die
erste sachliche Frage, die K. alles andere vergessen ließ. “Sind Sie
unschuldig?” fragte er. “Ja,” sagte K. Die Beantwortung dieser Frage machte ihm
geradezu Freude, besonders da sie gegenüber einem Privatmann, also ohne jede
Verantwortung erfolgte. Noch niemand hatte ihn so offen gefragt. Um diese
Freude auszukosten, fügte er noch hinzu: “Ich bin vollständig unschuldig.”
“So,” sagte der Maler, senkte den Kopf und schien nachzudenken. Plötzlich hob
er wieder den Kopf und sagte: “Wenn Sie unschuldig sind, dann ist ja die Sache
sehr einfach.” K.’s Blick trübte sich, dieser angebliche Vertrauensmann des
Gerichtes redete wie ein unwissendes Kind. “Meine Unschuld vereinfacht die
Sache nicht,” sagte K. Er mußte trotz allem lächeln und schüttelte langsam den
Kopf. “Es kommt auf viele Feinheiten an, in denen sich das Gericht verliert.
Zum Schluß aber zieht es von irgendwoher wo ursprünglich gar nichts gewesen
ist, eine große Schuld hervor.” “Ja, ja gewiß,” sagte der Maler, als störe K.
unnötiger Weise seinen Gedankengang. “Sie sind aber doch unschuldig?” “Nun ja,”
sagte K. “Das ist die Hauptsache,” sagte der Maler. Er war durch Gegengründe
nicht zu beeinflussen, nur war es trotz seiner Entschiedenheit nicht klar, ob
er aus Überzeugung oder nur aus Gleichgültigkeit so redete. K. wollte das
zunächst feststellen und sagte deshalb: “Sie kennen ja gewiß das Gericht viel
besser als ich, ich weiß nicht viel mehr als was ich darüber, allerdings von
ganz verschiedenen Leuten gehört habe. Darin stimmten aber alle überein, daß
leichtsinnige Anklagen nicht erhoben werden und daß das Gericht, wenn es einmal
anklagt, fest von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist und von dieser
Überzeugung nur schwer abgebracht werden kann.” “Schwer?” fragte der Maler und
warf eine Hand in die Höhe. “Niemals ist das Gericht davon abzubringen. Wenn
ich hier alle Richter neben einander auf eine Leinwand male und Sie werden sich
vor dieser Leinwand verteidigen, so werden Sie mehr Erfolg haben als vor dem
wirklichen Gericht.” “Ja,” sagte K. für sich und vergaß, daß er den Maler nur
hatte ausforschen wollen.
Wieder
begann ein Mädchen hinter der Tür zu fragen: “Titorelli, wird er denn nicht
schon bald weggehn.” “Schweigt,” rief der Maler zur Tür hin, “seht Ihr denn
nicht, daß ich mit dem Herrn eine Besprechung habe.” Aber das Mädchen gab sich
damit nicht zufrieden sondern fragte: “Du wirst ihn malen?” Und als der Maler
nicht antwortete sagte sie noch: “Bitte mal’ ihn nicht, einen so häßlichen Menschen.”
Ein Durcheinander unverständlicher zustimmender Zurufe folgte. Der Maler machte
einen Sprung zur Tür, öffnete sie bis zu einem Spalt – man sah die bittend
vorgestreckten gefalteten Hände der Mädchen – und sagte: “Wenn Ihr nicht still
seid, werfe ich Euch alle die Treppe hinunter. Setzt Euch hier auf die Stufen
und verhaltet Euch ruhig.” Wahrscheinlich folgten sie nicht gleich, so daß er
kommandieren mußte. “Nieder auf die Stufen!” Erst dann wurde es still.
“Verzeihen
Sie,” sagte der Maler als er zu K. wieder zurückkehrte. K. hatte sich kaum zur
Tür hingewendet, er hatte es vollständig dem Maler überlassen, ob und wie er
ihn in Schutz nehmen wollte. Er machte auch jetzt kaum eine Bewegung, als sich
der Maler zu ihm niederbeugte und ihm, um draußen nicht gehört zu werden ins
Ohr flüsterte: “Auch diese Mädchen gehören zum Gericht.” “Wie?” fragte K., wich
mit dem Kopf zur Seite und sah den Maler an. Dieser aber setzte sich wieder auf
seinen Sessel und sagte halb im Scherz halb zur Erklärung: “Es gehört ja alles
zum Gericht.” “Das habe ich noch nicht bemerkt,” sagte K. kurz, die allgemeine
Bemerkung des Malers nahm dem Hinweis auf die Mädchen alles Beunruhigende.
Trotzdem sah K. ein Weilchen lang zur Tür hin, hinter der die Mädchen jetzt
still auf den Stufen saßen. Nur eines hatte einen Strohhalm durch eine Ritze
zwischen den Balken gesteckt und führte ihn langsam auf und ab.
“Sie
scheinen noch keinen Überblick über das Gericht zu haben,” sagte der Maler, er
hatte die Beine weit auseinander gestreckt und klatschte mit den Fußspitzen auf
den Boden. “Da Sie aber unschuldig sind, werden Sie ihn auch nicht benötigen.
Ich allein hole Sie heraus.” “Wie wollen Sie das tun?” fragte K. “Da Sie doch
vor kurzem selbst gesagt haben, daß das Gericht für Beweisgründe vollständig
unzugänglich ist.” “Unzugänglich nur für Beweisgründe, die man vor dem Gericht
vorbringt,” sagte der Maler und hob den Zeigefinger, als habe K. eine feine
Unterscheidung nicht bemerkt. “Anders verhält es sich aber damit, was man in
dieser Hinsicht hinter dem öffentlichen Gericht versucht, also in den
Beratungszimmern, in den Korridoren oder z. B. auch hier im Atelier.” Was der
Maler jetzt sagte schien K. nicht mehr so unglaubwürdig, es zeigte vielmehr
eine große Übereinstimmung mit dem, was K. auch von andern Leuten gehört hatte.
Ja, es war sogar sehr hoffnungsvoll. Waren die Richter durch persönliche
Beziehungen wirklich so leicht zu lenken, wie es der Advokat dargestellt hatte,
dann waren die Beziehungen des Malers zu den eitlen Richtern besonders wichtig
und jedenfalls keineswegs zu unterschätzen. Dann fügte sich der Maler sehr gut
in den Kreis von Helfern, die K. allmählich um sich versammelte. Man hatte
einmal in der Bank sein Organisationstalent gerühmt, hier, wo er ganz allein
auf sich gestellt war, zeigte sich eine gute Gelegenheit es auf das Äußerste zu
erproben. Der Maler beobachtete die Wirkung, die seine Erklärung auf K. gemacht
hatte und sagte dann mit einer gewissen Ängstlichkeit: “Fällt es Ihnen nicht
auf daß ich fast wie ein Jurist spreche? Es ist der ununterbrochene Verkehr mit
den Herren vom Gericht, der mich so beeinflußt. Ich habe natürlich viel Gewinn
davon, aber der künstlerische Schwung geht zum großen Teil verloren.” “Wie sind
Sie denn zum erstenmal mit den Richtern in Verbindung gekommen?” fragte K., er
wollte zuerst das Vertrauen des Malers gewinnen, bevor er ihn geradezu in seine
Dienste nahm. “Das war sehr einfach,” sagte der Maler, “ich habe diese
Verbindung geerbt. Schon mein Vater war Gerichtsmaler. Es ist das eine Stellung
die sich immer vererbt. Man kann dafür neue Leute nicht brauchen. Es sind
nämlich für das Malen der verschiedenen Beamtengrade so verschiedene vielfache
und vor allem geheime Regeln aufgestellt, daß sie überhaupt nicht außerhalb
bestimmter Familien bekannt werden. Dort in der Schublade z. B. habe ich die
Aufzeichnungen meines Vaters, die ich niemandem zeige. Aber nur wer sie kennt
ist zum Malen von Richtern befähigt. Jedoch selbst wenn ich sie verlieren
würde, blieben mir noch so viele Regeln, die ich allein in meinem Kopfe trage,
daß mir niemand meine Stellung streitig machen könnte. Es will doch jeder
Richter so gemalt werden wie die alten großen Richter gemalt worden sind und
das kann nur ich.” “Das ist beneidenswert,” sagte K., der an seine Stellung in
der Bank dachte, “Ihre Stellung ist also unerschütterlich?” “Ja
unerschütterlich,” sagte der Maler und hob stolz die Achseln. “Deshalb kann ich
es auch wagen hie und da einem armen Mann, der einen Proceß hat, zu helfen.”
“Und wie tun Sie das?” fragte K., als sei es nicht er, den der Maler soeben
einen armen Mann genannt hatte. Der Maler aber ließ sich nicht ablenken,
sondern sagte: “In Ihrem Fall z. B. werde ich, da Sie vollständig unschuldig
sind, Folgendes unternehmen.” Die wiederholte Erwähnung seiner Unschuld wurde
K. schon lästig. Ihm schien es manchmal als mache der Maler durch solche
Bemerkungen einen günstigen Ausgang des Processes zur Voraussetzung seiner
Hilfe, die dadurch natürlich in sich selbst zusammenfiel. Trotz dieser Zweifel
bezwang sich aber K. und unterbrach den Maler nicht. Verzichten wollte er auf
die Hilfe des Malers nicht, dazu war er entschlossen, auch schien ihm diese
Hilfe durchaus nicht fragwürdiger als die des Advokaten zu sein. K. zog sie
jener sogar beiweitem vor, weil sie harmloser und offener dargeboten wurde.
Der
Maler hatte seinen Sessel näher zum Bett gezogen und fuhr mit gedämpfter Stimme
fort: “Ich habe vergessen Sie zunächst zu fragen, welche Art der Befreiung Sie
wünschen. Es gibt drei Möglichkeiten, nämlich die wirkliche Freisprechung, die
scheinbare Freisprechung und die Verschleppung. Die wirkliche Freisprechung ist
natürlich das Beste, nur habe ich nicht den geringsten Einfluß auf diese Art
der Lösung. Es gibt meiner Meinung nach überhaupt keine einzelne Person, die auf
die wirkliche Freisprechung Einfluß hätte. Hier entscheidet wahrscheinlich nur
die Unschuld des Angeklagten. Da Sie unschuldig sind, wäre es wirklich möglich,
daß Sie sich allein auf Ihre Unschuld verlassen. Dann brauchen Sie aber weder
mich noch irgendeine andere Hilfe.”
Diese
geordnete Darstellung verblüffte K. anfangs, dann aber sagte er ebenso leise
wie der Maler: “Ich glaube Sie widersprechen sich.” “Wie denn?” fragte der
Maler geduldig und lehnte sich lächelnd zurück. Dieses Lächeln erweckte in K. das
Gefühl, als ob er jetzt daran gehe, nicht in den Worten des Malers sondern in
dem Gerichtsverfahren selbst Widersprüche zu entdecken. Trotzdem wich er aber
nicht zurück und sagte: “Sie haben früher die Bemerkung gemacht, daß das
Gericht für Beweisgründe unzugänglich ist, später haben Sie dies auf das
öffentliche Gericht eingeschränkt und jetzt sagen Sie sogar, daß der
Unschuldige vor dem Gericht keine Hilfe braucht. Darin liegt schon ein
Widerspruch. Außerdem aber haben Sie früher gesagt, daß man die Richter
persönlich beeinflussen kann, stellen aber jetzt in Abrede, daß die wirkliche
Freisprechung, wie Sie sie nennen, jemals durch persönliche Beeinflussung zu
erreichen ist. Darin liegt der zweite Widerspruch.” “Diese Widersprüche sind
leicht aufzuklären,” sagte der Maler. “Es ist hier von zwei verschiedenen
Dingen die Rede, von dem was im Gesetz steht und von dem was ich persönlich
erfahren habe, das dürfen Sie nicht verwechseln. Im Gesetz, ich habe es
allerdings nicht gelesen, steht natürlich einerseits daß der Unschuldige
freigesprochen wird, andererseits steht dort aber nicht, daß die Richter
beeinflußt werden können. Nun habe aber ich gerade das Gegenteil dessen
erfahren. Ich weiß von keiner wirklichen Freisprechung, wohl aber von vielen
Beeinflussungen. Es ist natürlich möglich daß in allen mir bekannten Fällen
keine Unschuld vorhanden war. Aber ist das nicht unwahrscheinlich? In so vielen
Fällen keine einzige Unschuld? Schon als Kind hörte ich dem Vater genau zu,
wenn er zuhause von Processen erzählte, auch die Richter, die in sein Atelier
kamen, erzählten vom Gericht, man spricht in unsern Kreisen überhaupt von
nichts anderem, kaum bekam ich die Möglichkeit selbst zu Gericht zu gehn,
nützte ich sie immer aus, unzählbare Processe habe ich in wichtigen Stadien
angehört und soweit sie sichtbar sind verfolgt, und – ich muß es zugeben –
nicht einen einzigen wirklichen Freispruch erlebt.” “Keinen einzigen Freispruch
also,” sagte K. als rede er zu sich selbst und zu seinen Hoffnungen. “Das
bestätigt aber die Meinung die ich von dem Gericht schon habe. Es ist also auch
von dieser Seite zwecklos. Ein einziger Henker könnte das ganze Gericht
ersetzen.” “Sie dürfen nicht verallgemeinern,” sagte der Maler unzufrieden,
“ich habe ja nur von meinen Erfahrungen gesprochen.” “Das genügt doch,” sagte
K., “oder haben Sie von Freisprüchen aus früherer Zeit gehört?” “Solche
Freisprüche,” antwortete der Maler, “soll es allerdings gegeben haben. Nur ist
es sehr schwer das festzustellen. Die abschließenden Entscheidungen des Gerichtes
werden nicht veröffentlicht, sie sind nicht einmal den Richtern zugänglich,
infolgedessen haben sich über alte Gerichtsfälle nur Legenden erhalten. Diese
enthalten allerdings sogar in der Mehrzahl wirkliche Freisprechungen, man kann
sie glauben, nachweisbar sind sie aber nicht. Trotzdem muß man sie nicht ganz
vernachlässigen, eine gewisse Wahrheit enthalten sie wohl gewiß, auch sind sie
sehr schön, ich selbst habe einige Bilder gemalt, die solche Legenden zum
Inhalt haben.” “Bloße Legenden ändern meine Meinung nicht,” sagte K., “man kann
sich wohl auch vor Gericht auf diese Legenden nicht berufen?” Der Maler lachte.
“Nein, das kann man nicht,” sagte er. “Dann ist es nutzlos darüber zu reden,”
sagte K., er wollte vorläufig alle Meinungen des Malers hinnehmen, selbst wenn
er sie für unwahrscheinlich hielt und sie andern Berichten widersprachen. Er
hatte jetzt nicht die Zeit alles was der Maler sagte auf die Wahrheit hin zu
überprüfen oder gar zu widerlegen, es war schon das Äußerste erreicht, wenn er
den Maler dazu bewog, ihm in irgendeiner, sei es auch in einer nicht
entscheidenden Weise zu helfen. Darum sagte er: “Sehn wir also von der
wirklichen Freisprechung ab, Sie erwähnten aber noch zwei andere
Möglichkeiten.” “Die scheinbare Freisprechung und die Verschleppung. Um die
allein kann es sich handeln,” sagte der Maler. “Wollen Sie aber nicht, ehe wir
davon reden, den Rock ausziehn. Es ist Ihnen wohl heiß.” “Ja,” sagte K., der
bisher auf nichts als auf die Erklärungen des Malers geachtet hatte, dem aber
jetzt, da er an die Hitze erinnert worden war, starker Schweiß auf der Stirn
ausbrach. “Es ist fast unerträglich.” Der Maler nickte, als verstehe er K.’s
Unbehagen sehr gut. “Könnte man nicht das Fenster öffnen?” fragte K. “Nein,”
sagte der Maler. “Es ist bloß eine fest eingesetzte Glasscheibe, man kann es
nicht öffnen.” Jetzt erkannte K., daß er die ganze Zeit über darauf gehofft
hatte, plötzlich werde der Maler oder er zum Fenster gehn und es aufreißen. Er
war darauf vorbereitet, selbst den Nebel mit offenem Mund einzuatmen. Das
Gefühl hier von der Luft vollständig abgesperrt zu sein verursachte ihm
Schwindel. Er schlug leicht mit der Hand auf das Federbett neben sich und sagte
mit schwacher Stimme: “Das ist ja unbequem und ungesund.” “Oh nein,” sagte der
Maler zur Verteidigung seines Fensters. “Dadurch daß es nicht aufgemacht werden
kann, wird, trotzdem es nur eine einfache Scheibe ist, die Wärme hier besser
festgehalten als durch ein Doppelfenster. Will ich aber lüften, was nicht sehr
notwendig ist, da durch die Balkenritzen überall Luft eindringt, kann ich eine
meiner Türen oder sogar beide öffnen.” K. durch diese Erklärung ein wenig
getröstet blickte herum, um die zweite Tür zu finden. Der Maler bemerkte das
und sagte: “Sie ist hinter Ihnen, ich mußte sie durch das Bett verstellen.”
Jetzt erst sah K. die kleine Türe in der Wand. “Es ist eben hier alles viel zu
klein für ein Atelier,” sagte der Maler, als wolle er einem Tadel K.’s
zuvorkommen. “Ich mußte mich einrichten so gut es gieng. Das Bett vor der Tür
steht natürlich an einem sehr schlechten Platz. Der Richter z. B. den ich jetzt
male, kommt immer durch die Tür beim Bett und ich habe ihm auch einen Schlüssel
von dieser Tür gegeben, damit er auch wenn ich nicht zuhause bin, hier im
Atelier auf mich warten kann. Nun kommt er aber gewöhnlich früh am Morgen
während ich noch schlafe. Es reißt mich natürlich immer aus dem tiefsten Schlaf
wenn sich neben dem Bett die Türe öffnet. Sie würden jede Ehrfurcht vor den
Richtern verlieren, wenn Sie die Flüche hören würden, mit denen ich ihn
empfange, wenn früh er über mein Bett steigt. Ich könnte ihm allerdings den
Schlüssel wegnehmen, aber es würde dadurch nur ärger werden. Man kann hier alle
Türen mit der geringsten Anstrengung aus den Angeln brechen.” Während dieser
ganzen Rede überlegte K. ob er den Rock ausziehn sollte, er sah aber
schließlich ein, daß er wenn er es nicht tat unfähig war, hier noch länger zu
bleiben, er zog daher den Rock aus, legte ihn aber über die Knie, um ihn falls
die Besprechung zuende wäre, sofort wieder anziehn zu können. Kaum hatte er den
Rock ausgezogen, rief eines der Mädchen: “Er hat schon den Rock ausgezogen” und
man hörte wie sich alle zu den Ritzen drängten, um das Schauspiel selbst zu
sehn. “Die Mädchen glauben nämlich,” sagte der Maler, “daß ich Sie malen werde
und daß Sie sich deshalb ausziehn.” “So,” sagte K. nur wenig belustigt, denn er
fühlte sich nicht viel besser als früher trotzdem er jetzt in Hemdärmeln dasaß.
Fast mürrisch fragte er: “Wie nannten Sie die zwei andern Möglichkeiten?” Er
hatte die Ausdrücke schon wieder vergessen. “Die scheinbare Freisprechung und
die Verschleppung,” sagte der Maler. “Es liegt an Ihnen, was Sie davon wählen.
Beides ist durch meine Hilfe erreichbar, natürlich nicht ohne Mühe, der
Unterschied in dieser Hinsicht ist der, daß die scheinbare Freisprechung eine
gesammelte zeitweilige, die Verschleppung eine viel geringere aber dauernde
Anstrengung verlangt. Zunächst also die scheinbare Freisprechung. Wenn Sie
diese wünschen sollten, schreibe ich auf einem Bogen Papier eine Bestätigung
Ihrer Unschuld auf. Der Text für eine solche Bestätigung ist mir von meinem
Vater überliefert und ganz unangreifbar. Mit dieser Bestätigung mache ich nun
einen Rundgang bei den mir bekannten Richtern. Ich fange also etwa damit an,
daß ich dem Richter, den ich jetzt male, heute abend wenn er zur Sitzung kommt,
die Bestätigung vorlege. Ich lege ihm die Bestätigung vor, erkläre ihm daß Sie
unschuldig sind und verbürge mich für Ihre Unschuld. Das ist aber keine bloß
äußerliche, sondern eine wirkliche bindende Bürgschaft.” In den Blicken des
Malers lag es wie ein Vorwurf, daß K. ihm die Last einer solchen Bürgschaft
auferlegen wolle. “Das wäre ja sehr freundlich,” sagte K. “Und der Richter
würde Ihnen glauben und mich trotzdem nicht wirklich freisprechen?” “Wie ich
schon sagte,” antwortete der Maler. “Übrigens ist es durchaus nicht sicher, daß
jeder mir glauben würde, mancher Richter wird z. B. verlangen, daß ich Sie
selbst zu ihm hinführe. Dann müßten Sie also einmal mitkommen. Allerdings ist
in einem solchen Fall die Sache schon halb gewonnen, besonders da ich Sie
natürlich vorher genau darüber unterrichten würde, wie Sie sich bei dem
betreffenden Richter zu verhalten haben. Schlimmer ist es bei den Richtern, die
mich – auch das wird vorkommen – von vornherein abweisen. Auf diese müssen wir,
wenn ich es auch an mehrfachen Versuchen gewiß nicht fehlen lassen werde,
verzichten, wir dürfen das aber auch, denn einzelne Richter können hier nicht
den Ausschlag geben. Wenn ich nun auf dieser Bestätigung eine genügende Anzahl
von Unterschriften der Richter habe, gehe ich mit dieser Bestätigung zu dem
Richter, der Ihren Proceß gerade führt. Möglicherweise habe ich auch seine
Unterschrift, dann entwickelt sich alles noch ein wenig rascher, als sonst. Im
allgemeinen gibt es dann aber überhaupt nicht mehr viel Hindernisse, es ist
dann für den Angeklagten die Zeit der höchsten Zuversicht. Es ist merkwürdig
aber wahr, die Leute sind in dieser Zeit zuversichtlicher als nach dem
Freispruch. Es bedarf jetzt keiner besondern Mühe mehr. Der Richter besitzt in
der Bestätigung die Bürgschaft einer Anzahl von Richtern, kann Sie unbesorgt
freisprechen und wird es allerdings nach Durchführung verschiedener
Formalitäten mir und andern Bekannten zu Gefallen zweifellos tun. Sie aber
treten aus dem Gericht und sind frei.” “Dann bin ich also frei,” sagte K.
zögernd. “Ja,” sagte der Maler, “aber nur scheinbar frei oder besser
ausgedrückt zeitweilig frei. Die untersten Richter nämlich, zu denen meine
Bekannten gehören, haben nicht das Recht endgiltig freizusprechen, dieses Recht
hat nur das oberste, für Sie, für mich und für uns alle ganz unerreichbare
Gericht. Wie es dort aussieht wissen wir nicht und wollen wir nebenbei gesagt
auch nicht wissen. Das große Recht, von der Anklage zu befreien haben also
unsere Richter nicht, wohl aber haben sie das Recht von der Anklage loszulösen.
Das heißt, wenn Sie auf diese Weise freigesprochen werden, sind Sie für den
Augenblick der Anklage entzogen, aber sie schwebt auch weiterhin über Ihnen und
kann, sobald nur der höhere Befehl kommt, sofort in Wirkung treten. Da ich mit
dem Gericht in so guter Verbindung stehe kann ich Ihnen auch sagen wie sich in
den Vorschriften für die Gerichtskanzleien der Unterschied zwischen der wirklichen
und der scheinbaren Freisprechung rein äußerlich zeigt. Bei einer wirklichen
Freisprechung sollen die Proceßakten vollständig abgelegt werden, sie
verschwinden gänzlich aus dem Verfahren, nicht nur die Anklage, auch der Proceß
und sogar der Freispruch sind vernichtet, alles ist vernichtet. Anders beim
scheinbaren Freispruch. Mit dem Akten ist keine weitere Veränderung vor sich
gegangen, als daß er um die Bestätigung der Unschuld, um den Freispruch und um
die Begründung des Freispruchs bereichert worden ist. Im übrigen aber bleibt er
im Verfahren, er wird wie es der ununterbrochene Verkehr der Gerichtskanzleien
erfordert, zu den höhern Gerichten weitergeleitet, kommt zu den niedrigern
zurück und pendelt so mit größern und kleinern Schwingungen, mit größern und
kleinern Stockungen auf und ab. Diese Wege sind unberechenbar. Von außen gesehn
kann es manchmal den Anschein bekommen, daß alles längst vergessen, der Akt
verloren und der Freispruch ein vollkommener ist. Ein Eingeweihter wird das
nicht glauben. Es geht kein Akt verloren, es gibt bei Gericht kein Vergessen.
Eines Tages – niemand erwartet es – nimmt irgendein Richter den Akt
aufmerksamer in die Hand, erkennt daß in diesem Fall die Anklage noch lebendig
ist und ordnet die sofortige Verhaftung an. Ich habe hier angenommen, daß
zwischen dem scheinbaren Freispruch und der neuen Verhaftung eine lange Zeit
vergeht, das ist möglich und ich weiß von solchen Fällen, es ist aber ebensogut
möglich, daß der Freigesprochene vom Gericht nachhause kommt und dort schon
Beauftragte warten, um ihn wieder zu verhaften. Dann ist natürlich das freie
Leben zuende.” “Und der Proceß beginnt von neuem?” fragte K. fast ungläubig.
“Allerdings,” sagte der Maler, “der Proceß beginnt von neuem, es besteht aber
wieder die Möglichkeit ebenso wie früher, einen scheinbaren Freispruch zu
erwirken. Man muß wieder alle Kräfte zusammennehmen und darf sich nicht
ergeben.” Das Letztere sagte der Maler vielleicht unter dem Eindruck, den K.,
der ein wenig zusammengesunken war, auf ihn machte. “Ist aber,” fragte K. als
wolle er jetzt irgendwelchen Enthüllungen des Malers zuvorkommen, “die
Erwirkung eines zweiten Freispruches nicht schwieriger als die des ersten?”
“Man kann,” antwortete der Maler, “in dieser Hinsicht nichts Bestimmtes sagen.
Sie meinen wohl daß die Richter durch die zweite Verhaftung in ihrem Urteil zu
Ungunsten des Angeklagten beeinflußt werden? Das ist nicht der Fall. Die
Richter haben ja schon beim Freispruch diese Verhaftung vorhergesehn. Dieser
Umstand wirkt also kaum ein. Wohl aber kann aus zahllosen sonstigen Gründen die
Stimmung der Richter sowie ihre rechtliche Beurteilung des Falles eine andere
geworden sein und die Bemühungen um den zweiten Freispruch müssen daher den
veränderten Umständen angepaßt werden und im allgemeinen ebenso kräftig sein
wie die vor dem ersten Freispruch.” “Aber dieser zweite Freispruch ist doch
wieder nicht endgiltig,” sagte K. und drehte abweisend den Kopf. “Natürlich
nicht,” sagte der Maler, “dem zweiten Freispruch folgt die dritte Verhaftung, dem
dritten Freispruch die vierte Verhaftung und so fort. Das liegt schon im
Begriff des scheinbaren Freispruchs.” K. schwieg. “Der scheinbare Freispruch
scheint Ihnen offenbar nicht vorteilhaft zu sein,” sagte der Maler, “vielleicht
entspricht Ihnen die Verschleppung besser. Soll ich Ihnen das Wesen der
Verschleppung erklären?” K. nickte. Der Maler hatte sich breit in seinem Sessel
zurückgelehnt, das Nachthemd war weit offen, er hatte eine Hand darunter
geschoben, mit der er über die Brust und die Seiten strich. “Die
Verschleppung,” sagte der Maler und sah einen Augenblick vor sich hin, als
suche er eine vollständig zutreffende Erklärung, “die Verschleppung besteht
darin, daß der Proceß dauernd im niedrigsten Proceßstadium erhalten wird. Um
dies zu erreichen ist es nötig, daß der Angeklagte und der Helfer, insbesondere
aber der Helfer in ununterbrochener persönlicher Fühlung mit dem Gerichte
bleibt. Ich wiederhole, es ist hiefür kein solcher Kraftaufwand nötig wie bei
der Erreichung eines scheinbaren Freispruchs, wohl aber ist eine viel größere
Aufmerksamkeit nötig. Man darf den Proceß nicht aus dem Auge verlieren, man muß
zu dem betreffenden Richter in regelmäßigen Zwischenräumen und außerdem bei
besondern Gelegenheiten gehn und ihn auf jede Weise sich freundlich zu erhalten
suchen; ist man mit dem Richter nicht persönlich bekannt, so muß man durch
bekannte Richter ihn beeinflussen lassen, ohne daß man etwa deshalb die
unmittelbaren Besprechungen aufgeben dürfte. Versäumt man in dieser Hinsicht
nichts, so kann man mit genügender Bestimmtheit annehmen, daß der Proceß über
sein erstes Stadium nicht hinauskommt. Der Proceß hört zwar nicht auf, aber der
Angeklagte ist vor einer Verurteilung fast ebenso gesichert, wie wenn er frei
wäre. Gegenüber dem scheinbaren Freispruch hat die Verschleppung den Vorteil,
daß die Zukunft des Angeklagten weniger unbestimmt ist, er bleibt vor dem
Schrecken der plötzlichen Verhaftungen bewahrt und muß nicht fürchten, etwa
gerade zu Zeiten, wo seine sonstigen Umstände dafür am wenigsten günstig sind,
die Anstrengungen und Aufregungen auf sich nehmen zu müssen, welche mit der
Erreichung des scheinbaren Freispruchs verbunden sind. Allerdings hat auch die
Verschleppung für den Angeklagten gewisse Nachteile die man nicht unterschätzen
darf. Ich denke hiebei nicht daran, daß hier der Angeklagte niemals frei ist,
das ist er ja auch bei der scheinbaren Freisprechung im eigentlichen Sinne
nicht. Es ist ein anderer Nachteil. Der Proceß kann nicht stillstehn, ohne daß
wenigstens scheinbare Gründe dafür vorliegen. Es muß deshalb im Proceß nach
außen hin etwas geschehn. Es müssen also von Zeit zu Zeit verschiedene
Anordnungen getroffen werden, der Angeklagte muß verhört werden, Untersuchungen
müssen stattfinden u. s. w. Der Proceß muß eben immerfort in dem kleinen Kreis,
auf den er künstlich eingeschränkt worden ist, gedreht werden. Das bringt
natürlich gewisse Unannehmlichkeiten für den Angeklagten mit sich, die Sie sich
aber wiederum nicht zu schlimm vorstellen dürfen. Es ist ja alles nur äußerlich,
die Verhöre beispielsweise sind also nur ganz kurz, wenn man einmal keine Zeit
oder keine Lust hat hinzugehn, darf man sich entschuldigen, man kann sogar bei
gewissen Richtern die Anordnungen für eine lange Zeit im voraus gemeinsam
festsetzen, es handelt sich im Wesen nur darum, daß man, da man Angeklagter
ist, von Zeit zu Zeit bei seinem Richter sich meldet.” Schon während der
letzten Worte hatte K. den Rock über den Arm gelegt und war aufgestanden. “Er
steht schon auf,” rief es sofort draußen vor der Tür. “Sie wollen schon
fortgehn?” fragte der Maler, der auch aufgestanden war. “Es ist gewiß die Luft,
die Sie von hier vertreibt. Es ist mir sehr peinlich. Ich hätte Ihnen auch noch
manches zu sagen. Ich mußte mich ganz kurz fassen. Ich hoffe aber verständlich
gewesen zu sein.” “Oja,” sagte K., dem von der Anstrengung mit der er sich zum
Zuhören gezwungen hatte der Kopf schmerzte. Trotz dieser Bestätigung sagte der
Maler alles nocheinmal zusammenfassend, als wolle er K. auf den Heimweg einen
Trost mitgeben: “Beide Metoden haben das Gemeinsame, daß sie eine Verurteilung
des Angeklagten verhindern.” “Sie verhindern aber auch die wirkliche
Freisprechung,” sagte K. leise, als schäme er sich das erkannt zu haben. “Sie
haben den Kern der Sache erfaßt,” sagte der Maler schnell. K. legte die Hand
auf seinen Winterrock, konnte sich aber nicht einmal entschließen, den Rock
anzuziehn. Am liebsten hätte er alles zusammengepackt und wäre damit an die
frische Luft gelaufen. Auch die Mädchen konnten ihn nicht dazu bewegen sich
anzuziehn, trotzdem sie verfrüht schon einander zuriefen, daß er sich anziehe.
Dem Maler lag daran K.’s Stimmung irgendwie zu deuten, er sagte deshalb: “Sie
haben sich wohl hinsichtlich meiner Vorschläge noch nicht entschieden. Ich
billige das. Ich hätte Ihnen sogar davon abgeraten sich sofort zu entscheiden.
Die Vorteile und Nachteile sind haarfein. Man muß alles genau abschätzen.
Allerdings darf man auch nicht zuviel Zeit verlieren.” “Ich werde bald
wiederkommen,” sagte K., der in einem plötzlichen Entschluß den Rock anzog, den
Mantel über die Schulter warf und zur Tür eilte, hinter der jetzt die Mädchen
zu schreien anfiengen. K. glaubte die schreienden Mädchen durch die Tür zu
sehn. “Sie müssen aber Wort halten,” sagte der Maler, der ihm nicht gefolgt war,
“sonst komme ich in die Bank, um selbst nachzufragen.” “Sperren Sie doch die
Tür auf,” sagte K. und riß an der Klinke, die die Mädchen, wie er an dem
Gegendruck merkte, draußen festhielten. “Wollen Sie von den Mädchen belästigt
werden?” fragte der Maler. “Benützen Sie doch lieber diesen Ausgang,” und er
zeigte auf die Tür hinter dem Bett. K. war damit einverstanden und sprang zum
Bett zurück. Aber statt die Tür dort zu öffnen, kroch der Maler unter das Bett
und fragte von unten: “Nur noch einen Augenblick. Wollen Sie nicht noch ein
Bild sehn, das ich Ihnen verkaufen könnte?” K. wollte nicht unhöflich sein, der
Maler hatte sich wirklich seiner angenommen und versprochen ihm weiterhin zu
helfen, auch war infolge der Vergeßlichkeit K.’s über die Entlohnung für die
Hilfe noch gar nicht gesprochen worden, deshalb konnte ihn K. jetzt nicht
abweisen und ließ sich das Bild zeigen, wenn er auch vor Ungeduld zitterte, aus
dem Atelier wegzukommen. Der Maler zog unter dem Bett einen Haufen ungerahmter
Bilder hervor, die so mit Staub bedeckt waren, daß dieser, als ihn der Maler
vom obersten Bild wegzublasen suchte, längere Zeit atemraubend K. vor den Augen
wirbelte. “Eine Heidelandschaft,” sagte der Maler und reichte K. das Bild. Es
stellte zwei schwache Bäume dar, die weit von einander entfernt im dunklen Gras
standen. Im Hintergrund war ein vielfarbiger Sonnenuntergang. “Schön,” sagte
K., “ich kaufe es.” K. hatte unbedacht sich so kurz geäußert, er war daher
froh, als der Maler statt dies übel zu nehmen, ein zweites Bild vom Boden
aufhob. “Hier ist ein Gegenstück zu diesem Bild,” sagte der Maler. Es mochte
als Gegenstück beabsichtigt sein, es war aber nicht der geringste Unterschied
gegenüber dem ersten Bild zu merken, hier waren die Bäume, hier das Gras und
dort der Sonnenuntergang. Aber K. lag wenig daran. “Es sind schöne
Landschaften,” sagte er, “ich kaufe beide und werde sie in meinem Bureau
aufhängen.” “Das Motiv scheint Ihnen zu gefallen,” sagte der Maler und holte
ein drittes Bild herauf, “es trifft sich gut, daß ich noch ein ähnliches Bild
hier habe.” Es war aber nicht ähnlich, es war vielmehr die völlig gleiche alte
Heidelandschaft. Der Maler nützte diese Gelegenheit alte Bilder zu verkaufen,
gut aus. “Ich nehme auch dieses noch,” sagte K. “Wieviel kosten die drei
Bilder?” “Darüber werden wir nächstens sprechen,” sagte der Maler, “Sie haben
jetzt Eile und wir bleiben doch in Verbindung. Im übrigen freut es mich, daß
Ihnen die Bilder gefallen, ich werde Ihnen alle Bilder mitgeben, die ich hier
unten habe. Es sind lauter Heidelandschaften, ich habe schon viele
Heidelandschaften gemalt. Manche Leute weisen solche Bilder ab, weil sie zu
düster sind, andere aber, und Sie gehören zu ihnen, lieben gerade das Düstere.”
Aber K. hatte jetzt keinen Sinn für die beruflichen Erfahrungen des
Bettelmalers. “Packen Sie alle Bilder ein,” rief er, dem Maler in die Rede
fallend, “morgen kommt mein Diener und wird sie holen.” “Es ist nicht nötig,”
sagte der Maler. “Ich hoffe ich werde Ihnen einen Träger verschaffen können,
der gleich mit Ihnen gehn wird.” Und er beugte sich endlich über das Bett und
sperrte die Tür auf. “Steigen Sie ohne Scheu auf das Bett,” sagte der Maler,
“das tut jeder der hier hereinkommt.” K. hätte auch ohne diese Aufforderung
keine Rücksicht genommen, er hatte sogar schon einen Fuß mitten auf das
Federbett gesetzt, da sah er durch die offene Tür hinaus und zog den Fuß wieder
zurück. “Was ist das?” fragte er den Maler. “Worüber staunen Sie?” fragte
dieser, seinerseits staunend. “Es sind die Gerichtskanzleien. Wußten Sie nicht,
daß hier Gerichtskanzleien sind? Gerichtskanzleien sind doch fast auf jedem
Dachboden, warum sollten sie gerade hier fehlen? Auch mein Atelier gehört
eigentlich zu den Gerichtskanzleien, das Gericht hat es mir aber zur Verfügung
gestellt.” K. erschrak nicht so sehr darüber, daß er auch hier
Gerichtskanzleien gefunden hatte, er erschrak hauptsächlich über sich, über
seine Unwissenheit in Gerichtssachen. Als eine Grundregel für das Verhalten
eines Angeklagten erschien es ihm, immer vorbereitet zu sein, sich niemals
überraschen zu lassen, nicht ahnungslos nach rechts zu schauen, wenn links der
Richter neben ihm stand – und gerade gegen diese Grundregel verstieß er immer
wieder. Vor ihm dehnte sich ein langer Gang, aus dem eine Luft wehte, mit der verglichen
die Luft im Atelier erfrischend war. Bänke waren zu beiden Seiten des Ganges
aufgestellt, genau so wie im Wartezimmer der Kanzlei, die für K. zuständig war.
Es schienen genaue Vorschriften für die Einrichtung von Kanzleien zu bestehn.
Augenblicklich war der Parteienverkehr hier nicht sehr groß. Ein Mann saß dort
halb liegend, das Gesicht hatte er auf der Bank in seine Arme vergraben und
schien zu schlafen; ein anderer stand im Halbdunkel am Ende des Ganges. K.
stieg nun über das Bett, der Maler folgte ihm mit den Bildern. Sie trafen bald
einen Gerichtsdiener – K. erkannte jetzt schon alle Gerichtsdiener an dem
Goldknopf, den diese an ihrem Civilanzug unter den gewöhnlichen Knöpfen hatten
– und der Maler gab ihm den Auftrag, K. mit den Bildern zu begleiten. K. wankte
mehr als er gieng, das Taschentuch hielt er an den Mund gedrückt. Sie waren
schon nahe dem Ausgang, da stürmten ihnen die Mädchen entgegen, die also K.
auch nicht erspart geblieben waren. Sie hatten offenbar gesehn, daß die zweite
Tür des Ateliers geöffnet worden war und hatten den Umweg gemacht, um von
dieser Seite einzudringen. “Ich kann Sie nicht mehr begleiten,” rief der Maler
lachend unter dem Andrang der Mädchen. “Auf Wiedersehn! Und überlegen Sie nicht
zu lange!” K. sah sich nicht einmal nach ihm um. Auf der Gasse nahm er den
ersten Wagen, der ihm in den Weg kam. Es lag ihm viel daran, den Diener
loszuwerden, dessen Goldknopf ihm unaufhörlich in die Augen stach, wenn er auch
sonst wahrscheinlich niemandem auffiel. In seiner Dienstfertigkeit wollte sich
der Diener noch auf den Kutschbock setzen, K. jagte ihn aber herunter. Mittag
war schon längst vorüber, als K. vor der Bank ankam. Er hätte gern die Bilder
im Wagen gelassen, fürchtete aber, bei irgendeiner Gelegenheit genötigt zu werden,
sich dem Maler gegenüber mit ihnen auszuweisen. Er ließ sie daher in sein
Bureau schaffen und versperrte sie in die unterste Lade seines Tisches, um sie
wenigstens für die allernächsten Tage vor den Blicken des
Direktor-Stellvertreters in Sicherheit zu bringen.
Kaufmann Block / Kündigung des Advokaten
Endlich
hatte sich K. doch entschlossen, dem Advokaten seine Vertretung zu entziehn.
Zweifel daran, ob es richtig war, so zu handeln, waren zwar nicht auszurotten,
aber die Überzeugung von der Notwendigkeit dessen überwog. Die Entschließung
hatte K. an dem Tage an dem er zum Advokaten gehen wollte, viel Arbeitskraft
entzogen, er arbeitete besonders langsam, er mußte sehr lange im Bureau bleiben
und es war schon zehn Uhr vorüber, als er endlich vor der Tür des Advokaten
stand. Noch ehe er läutete überlegte er, ob es nicht besser wäre, dem Advokaten
telephonisch oder brieflich zu kündigen, die persönliche Unterredung würde
gewiß sehr peinlich werden. Trotzdem wollte K. schließlich auf sie nicht
verzichten, bei jeder andern Art der Kündigung würde diese stillschweigend oder
mit ein paar förmlichen Worten angenommen werden und K. würde, wenn nicht etwa
Leni einiges erforschen könnte, niemals erfahren, wie der Advokat die Kündigung
aufgenommen hatte und was für Folgen für K. diese Kündigung nach der nicht
unwichtigen Meinung des Advokaten haben könnte. Saß aber der Advokat K.
gegenüber und wurde er von der Kündigung überrascht, so würde K., selbst wenn
der Advokat sich nicht viel entlocken ließ, aus seinem Gesicht und seinem
Benehmen alles was er wollte, leicht entnehmen können. Es war sogar nicht
ausgeschlossen, daß er überzeugt wurde, daß es doch gut wäre, dem Advokaten die
Verteidigung zu überlassen und daß er dann seine Kündigung zurückzog.
Das
erste Läuten an der Tür des Advokaten war, wie gewöhnlich, zwecklos. “Leni
könnte flinker sein,” dachte K. Aber es war schon ein Vorteil, wenn sich nicht
die andere Partei einmischte, wie sie es gewöhnlich tat, sei es daß der Mann im
Schlafrock oder sonst jemand zu belästigen anfieng. Während K. zum zweitenmal
den Knopf drückte, sah er nach der andern Tür zurück, diesmal aber blieb auch
sie geschlossen. Endlich erschienen an dem Guckfenster der Tür des Advokaten
zwei Augen, es waren aber nicht Leni’s Augen. Jemand schloß die Tür auf,
stemmte sich aber noch vorläufig gegen sie, rief in die Wohnung zurück “Er ist
es,” und öffnete erst dann vollständig. K. hatte gegen die Tür gedrängt, denn
schon hörte er wie hinter ihm in der Tür der andern Wohnung der Schlüssel
hastig im Schloß gedreht wurde. Als sich daher die Tür vor ihm endlich öffnete,
stürmte er geradezu ins Vorzimmer und sah noch, wie durch den Gang, der
zwischen den Zimmern hindurchführte, Leni, welcher der Warnungsruf des
Türöffners gegolten hatte, im Hemd davonlief. Er blickte ihr ein Weilchen nach
und sah sich dann nach dem Türöffner um. Es war ein kleiner dürrer Mann mit
Vollbart, er hielt eine Kerze in der Hand. “Sie sind hier angestellt?” fragte
K. “Nein,” antwortete der Mann, “ich bin hier fremd, der Advokat ist nur mein
Vertreter, ich bin hier wegen einer Rechtsangelegenheit.” “Ohne Rock?” fragte
K. und zeigte mit einer Handbewegung auf die mangelhafte Bekleidung des Mannes.
“Ach verzeihen Sie,” sagte der Mann und beleuchtete sich selbst mit der Kerze,
als sähe er selbst zum ersten Mal seinen Zustand. “Leni ist Ihre Geliebte?”
fragte K. kurz. Er hatte die Beine ein wenig gespreizt, die Hände in denen er
den Hut hielt, hinten verschlungen. Schon durch den Besitz eines starken
Überrocks fühlte er sich dem magern Kleinen sehr überlegen. “Oh Gott,” sagte
der und hob die eine Hand in erschrockener Abwehr vor das Gesicht, “nein, nein,
was denken Sie denn?” “Sie sehn glaubwürdig aus,” sagte K. lächelnd, “trotzdem
– kommen Sie.” Er winkte ihm mit dem Hut und ließ ihn vor sich gehn. “Wie
heißen Sie denn?” fragte K. auf dem Weg. “Block, Kaufmann Block,” sagte der
Kleine und drehte sich bei dieser Vorstellung nach K. um, stehen bleiben ließ
ihn aber K. nicht. “Ist das Ihr wirklicher Name?” fragte K. “Gewiß,” war die
Antwort, “warum haben Sie denn Zweifel?” “Ich dachte Sie könnten Grund haben
Ihren Namen zu verschweigen,” sagte K. Er fühlte sich so frei, wie man es sonst
nur ist, wenn man in der Fremde mit niedrigen Leuten spricht, alles was einen
selbst betrifft, bei sich behält, nur gleichmütig von den Interessen der andern
redet, sie dadurch vor sich selbst erhöht aber auch nach Belieben fallen lassen
kann. Bei der Tür des Arbeitszimmers des Advokaten blieb K. stehn, öffnete sie
und rief dem Kaufmann, der folgsam weiter gegangen war, zu: “Nicht so eilig!
Leuchten Sie hier.” K. dachte, Leni könnte sich hier versteckt haben, er ließ
den Kaufmann alle Winkel absuchen, aber das Zimmer war leer. Vor dem Bild des
Richters hielt K. den Kaufmann hinten an den Hosenträgern zurück. “Kennen Sie
den,” fragte er und zeigte mit dem Zeigefinger in die Höhe. Der Kaufmann hob
die Kerze, sah blinzelnd hinauf und sagte: “Es ist ein Richter.” “Ein hoher
Richter?” fragte K. und stellte sich seitlich vor den Kaufmann, um den
Eindruck, den das Bild auf ihn machte, zu beobachten. Der Kaufmann sah
bewundernd aufwärts. “Es ist ein hoher Richter,” sagte er. “Sie haben keinen
großen Einblick,” sagte K. “Unter den niedrigen Untersuchungsrichtern ist er
der niedrigste.” “Nun erinnere ich mich,” sagte der Kaufmann und senkte die
Kerze, “ich habe es auch schon gehört.” “Aber natürlich,” rief K., “ich vergaß
ja, natürlich müssen Sie es schon gehört haben.” “Aber warum denn, warum denn?”
fragte der Kaufmann, während er sich von K. mit den Händen angetrieben zur Tür
fortbewegte. Draußen auf dem Gang sagte K.: “Sie wissen doch, wo sich Leni
versteckt hat?” “Versteckt?” sagte der Kaufmann, “nein, sie dürfte aber in der
Küche sein und dem Advokaten eine Suppe kochen.” “Warum haben Sie das nicht
gleich gesagt?” fragte K. “Ich wollte Sie ja hinführen, Sie haben mich aber
wieder zurückgerufen,” antwortete der Kaufmann, wie verwirrt durch die
widersprechenden Befehle. “Sie glauben wohl sehr schlau zu sein,” sagte K.,
“führen Sie mich also!” In der Küche war K. noch nie gewesen, sie war
überraschend groß und reich ausgestattet. Allein der Herd war dreimal so groß
wie gewöhnliche Herde, von dem übrigen sah man keine Einzelheiten, denn die
Küche wurde jetzt nur von einer kleinen Lampe beleuchtet, die beim Eingang
hieng. Am Herd stand Leni in weißer Schürze wie immer und leerte Eier in einen
Topf aus, der auf einem Spiritusfeuer stand. “Guten Abend Josef,” sagte sie mit
einem Seitenblick. “Guten Abend,” sagte K. und zeigte mit einer Hand auf einen
abseits stehenden Sessel, auf den sich der Kaufmann setzen sollte, was dieser
auch tat. K. aber gieng ganz nahe hinter Leni, beugte sich über ihre Schulter
und fragte: “Wer ist der Mann?” Leni umfaßte K. mit einer Hand, die andere
quirlte die Suppe, zog ihn nach vorn zu sich und sagte: “Es ist ein
bedauernswerter Mensch, ein armer Kaufmann, ein gewisser Block. Sich ihn nur
an.” Sie blickten beide zurück. Der Kaufmann saß auf dem Sessel, auf den ihn K.
gewiesen hatte, er hatte die Kerze, deren Licht jetzt unnötig war ausgepustet
und drückte mit den Fingern den Docht, um den Rauch zu verhindern. “Du warst im
Hemd,” sagte K. und wendete ihren Kopf mit der Hand wieder dem Herd zu. Sie
schwieg. “Er ist Dein Geliebter?” fragte K. Sie wollte nach dem Suppentopf
greifen, aber K. nahm ihre beiden Hände und sagte: “Nun antworte!” Sie sagte:
“Komm ins Arbeitszimmer, ich werde Dir alles erklären.” “Nein,” sagte K., “ich
will daß Du es hier erklärst.” Sie hieng sich an ihn und wollte ihn küssen, K.
wehrte sie aber ab und sagte: “Ich will nicht, daß Du mich jetzt küßt.”
“Josef,” sagte Leni und sah K. bittend und doch offen in die Augen, “Du wirst
doch nicht auf Herrn Block eifersüchtig sein.” “Rudi,” sagte sie dann sich an
den Kaufmann wendend, “so hilf mir doch, Du siehst ich werde verdächtigt, laß
die Kerze.” Man hätte denken können, er hätte nicht achtgegeben, aber er war
vollständig eingeweiht. “Ich wüßte auch nicht, warum Sie eifersüchtig sein
sollten,” sagte er wenig schlagfertig. “Ich weiß es eigentlich auch nicht,”
sagte K. und sah den Kaufmann lächelnd an. Leni lachte laut, benützte die
Unaufmerksamkeit K.’s, um sich in seinen Arm einzuhängen und flüsterte: “Laß
ihn jetzt, Du siehst ja was für ein Mensch er ist. Ich habe mich seiner ein
wenig angenommen, weil er eine große Kundschaft des Advokaten ist, aus keinem
andern Grund. Und Du? Willst Du noch heute mit dem Advokaten sprechen? Er ist
heute sehr krank, aber wenn Du willst, melde ich Dich doch an. Über Nacht
bleibst Du aber bei mir, ganz gewiß. Du warst auch schon solange nicht bei uns,
selbst der Advokat hat nach Dir gefragt. Vernachlässige den Proceß nicht! Auch
ich habe Dir verschiedenes mitzuteilen, was ich erfahren habe. Nun aber zieh
fürs erste Deinen Mantel aus!” Sie half ihm ihn ausziehn, nahm ihm den Hut ab,
lief mit den Sachen ins Vorzimmer sie anzuhängen, lief dann wieder zurück und
sah nach der Suppe. “Soll ich zuerst Dich anmelden oder ihm zuerst die Suppe
bringen?” “Melde mich zuerst an,” sagte K. Er war ärgerlich, er hatte
ursprünglich beabsichtigt, mit Leni seine Angelegenheit insbesondere die
fragliche Kündigung genau zu besprechen, die Anwesenheit des Kaufmanns hatte
ihm aber die Lust dazu genommen. Jetzt aber hielt er seine Sache doch für zu
wichtig, als daß dieser kleine Kaufmann vielleicht entscheidend eingreifen
sollte und so rief er Leni, die schon auf dem Gang war, wieder zurück. “Bring
ihm doch zuerst die Suppe,” sagte er, “er soll sich für die Unterredung mit mir
stärken, er wird es nötig haben.” “Sie sind auch ein Klient des Advokaten,”
sagte wie zur Feststellung der Kaufmann leise aus seiner Ecke. Es wurde aber
nicht gut aufgenommen. “Was kümmert Sie denn das?” sagte K. und Leni sagte:
“Wirst Du still sein.” “Dann bringe ich ihm also zuerst die Suppe,” sagte Leni
zu K. und goß die Suppe auf einen Teller. “Es ist dann nur zu befürchten, daß
er bald einschläft, nach dem Essen schläft er bald ein.” “Das was ich ihm sagen
werde, wird ihn wacherhalten,” sagte K., er wollte immerfort durchblicken
lassen, daß er etwas Wichtiges mit dem Advokaten zu verhandeln beabsichtige, er
wollte von Leni gefragt werden, was es sei, und dann erst sie um Rat fragen.
Aber sie erfüllte pünktlich bloß die ausgesprochenen Befehle. Als sie mit der
Tasse an ihm vorübergieng, stieß sie absichtlich sanft an ihn und flüsterte:
“Bis er die Suppe gegessen hat, melde ich Dich gleich an, damit ich Dich
möglichst bald wieder bekomme.” “Geh nur,” sagte K., “geh nur.” “Sei doch
freundlicher,” sagte sie und drehte sich in der Tür mit der Tasse nochmals ganz
um.
K.
sah ihr nach; nun war es endgiltig beschlossen, daß der Advokat entlassen
würde, es war wohl auch besser, daß er vorher mit Leni nicht mehr darüber
sprechen konnte; sie hatte kaum den genügenden Überblick über das Ganze, hätte
gewiß abgeraten, hätte möglicherweise K. auch wirklich von der Kündigung
diesmal abgehalten, er wäre weiterhin in Zweifel und Unruhe geblieben und
schließlich hätte er nach einiger Zeit seinen Entschluß doch ausgeführt, denn
dieser Entschluß war allzu zwingend. Je früher er aber ausgeführt wurde, desto
mehr Schaden wurde abgehalten. Vielleicht wußte übrigens der Kaufmann etwas
darüber zu sagen.
K.
wandte sich um, kaum bemerkte das der Kaufmann als er sofort aufstehen wollte.
“Bleiben Sie sitzen,” sagte K. und zog einen Sessel neben ihn. “Sind Sie schon
ein alter Klient des Advokaten?” fragte K. “Ja,” sagte der Kaufmann, “ein sehr
alter Klient.” “Wie viel Jahre vertritt er Sie denn schon?” fragte K. “Ich weiß
nicht, wie Sie es meinen,” sagte der Kaufmann, “in geschäftlichen Rechtsangelegenheiten
– ich habe ein Getreidegeschäft – vertritt mich der Advokat schon seitdem ich
das Geschäft übernommen habe, also etwa seit zwanzig Jahren, in meinem eigenen
Proceß, auf den Sie wahrscheinlich anspielen, vertritt er mich auch seit
Beginn, es ist schon länger als fünf Jahre.” “Ja, weit über fünf Jahre,” fügte
er dann hinzu und zog eine alte Brieftasche hervor, “hier habe ich alles
aufgeschrieben, wenn Sie wollen sage ich Ihnen die genauen Daten. Es ist schwer
alles zu behalten. Mein Proceß dauert wahrscheinlich schon viel länger, er
begann kurz nach dem Tod meiner Frau und das ist schon länger als fünfeinhalb
Jahre.” K. rückte näher zu ihm. “Der Advokat übernimmt also auch gewöhnliche
Rechtssachen?” fragte er. Diese Verbindung der Gerichte und Rechtswissenschaften
schien K. ungemein beruhigend. “Gewiß,” sagte der Kaufmann und flüsterte dann
K. zu: “Man sagt sogar daß er in diesen Rechtssachen tüchtiger ist als in den
andern.” Aber dann schien er das Gesagte zu bereuen, er legte K. eine Hand auf
die Schulter und sagte: “Ich bitte Sie sehr, verraten Sie mich nicht.” K.
klopfte ihm zur Beruhigung auf den Schenkel und sagte: “Nein, ich bin kein
Verräter.” “Er ist nämlich rachsüchtig,” sagte der Kaufmann. “Gegen einen so
treuen Klienten wird er gewiß nichts tun,” sagte K. “Oh doch,” sagte der
Kaufmann, “wenn er aufgeregt ist kennt er keine Unterschiede, übrigens bin ich
ihm nicht eigentlich treu.” “Wieso denn nicht” fragte K. “Soll ich es Ihnen
anvertrauen,” fragte der Kaufmann zweifelnd. “Ich denke, Sie dürfen es,” sagte
K. “Nun,” sagte der Kaufmann, “ich werde es Ihnen zum Teil anvertrauen, Sie
müssen mir aber auch ein Geheimnis sagen, damit wir uns gegenüber dem Advokaten
gegenseitig festhalten.” “Sie sind sehr vorsichtig,” sagte K., “aber ich werde
Ihnen ein Geheimnis sagen, das Sie vollständig beruhigen wird. Worin besteht
also Ihre Untreue gegenüber dem Advokaten?” “Ich habe,” sagte der Kaufmann
zögernd und in einem Ton, als gestehe er etwas Unehrenhaftes ein, “ich habe
außer ihm noch andere Advokaten.” “Das ist doch nichts so schlimmes,” sagte K.
ein wenig enttäuscht. “Hier ja,” sagte der Kaufmann, der noch seit seinem
Geständnis schwer atmete, infolge K.’s Bemerkung aber mehr Vertrauen faßte. “Es
ist nicht erlaubt. Und am allerwenigsten ist es erlaubt, neben einem
sogenannten Advokaten auch noch Winkeladvokaten zu nehmen. Und gerade das habe
ich getan, ich habe außer ihm noch fünf Winkeladvokaten.” “Fünf.” rief K., erst
die Zahl setzte ihn in Erstaunen, “fünf Advokaten außer diesem?” Der Kaufmann
nickte: “Ich verhandle gerade noch mit einem sechsten.” “Aber wozu brauchen Sie
denn soviel Advokaten,” fragte K. “Ich brauche alle,” sagte der Kaufmann.
“Wollen Sie mir das nicht erklärend” fragte K. “Gern,” sagte der Kaufmann. “Vor
allem will ich doch meinen Proceß nicht verlieren, das ist doch
selbstverständlich. Infolgedessen darf ich nichts, was mir nützen könnte, außer
acht lassen; selbst wenn die Hoffnung auf Nutzen in einem bestimmten Fall nur
ganz gering ist, darf ich sie auch nicht verwerfen. Ich habe deshalb alles was
ich besitze auf den Proceß verwendet. So habe ich z. B. alles Geld meinem
Geschäft entzogen, früher füllten die Bureauräume meines Geschäftes fast ein
Stockwerk, heute genügt eine kleine Kammer im Hinterhaus, wo ich mit einem
Lehrjungen arbeite. Diesen Rückgang hat natürlich nicht nur die Entziehung des
Geldes verschuldet, sondern mehr noch die Entziehung meiner Arbeitskraft. Wenn
man für seinen Proceß etwas tun will, kann man sich mit anderem nur wenig
befassen.” “Sie arbeiten also auch selbst bei Gericht?” fragte K. “Gerade
darüber möchte ich gern etwas erfahren.” “Darüber kann ich nur wenig
berichten,” sagte der Kaufmann, “anfangs habe ich es wohl auch versucht, aber
ich habe bald wieder davon abgelassen. Es ist zu erschöpfend und bringt nicht
viel Erfolg. Selbst dort zu arbeiten und zu unterhandeln, hat sich wenigstens
für mich als ganz unmöglich erwiesen. Es ist ja dort schon das bloße Sitzen und
Warten eine große Anstrengung. Sie kennen ja selbst die schwere Luft in den
Kanzleien.” “Wieso wissen Sie denn, daß ich dort war?” fragte K. “Ich war
gerade im Wartezimmer, als Sie durchgiengen.” “Was für ein Zufall das ist!”
rief K. ganz hingenommen und ganz an die frühere Lächerlichkeit des Kaufmanns
vergessend, “Sie haben mich also gesehn! Sie waren im Wartezimmer, als ich
durchgieng. Ja ich bin dort einmal durchgegangen.” “Es ist kein so großer
Zufall,” sagte der Kaufmann, “ich bin dort fast jeden Tag.” “Ich werde nun
wahrscheinlich auch öfters hingehn müssen,” sagte K., “nur werde ich wohl kaum
mehr so ehrenvoll aufgenommen werden wie damals. Alle standen auf. Man dachte
wohl, ich sei ein Richter.” “Nein,” sagte der Kaufmann, “wir grüßten damals den
Gerichtsdiener. Daß Sie ein Angeklagter sind, das wußten wir. Solche
Nachrichten verbreiten sich sehr rasch.” “Das wußten Sie also schon,” sagte K.,
“dann erschien Ihnen aber mein Benehmen vielleicht hochmütig. Sprach man sich
nicht darüber aus?” “Nein,” sagte der Kaufmann, “im Gegenteil. Aber das sind
Dummheiten.” “Was für Dummheiten denn?” fragte K. “Warum fragen Sie danach”
sagte der Kaufmann ärgerlich, “Sie scheinen die Leute dort noch nicht zu kennen
und werden es vielleicht unrichtig auffassen. Sie müssen bedenken, daß in
diesem Verfahren immer wieder viele Dinge zur Sprache kommen, für die der Verstand
nicht mehr ausreicht, man ist einfach zu müde und abgelenkt für vieles und zum
Ersatz verlegt man sich auf den Aberglauben. Ich rede von den andern, bin aber
selbst gar nicht besser. Ein solcher Aberglaube ist es z. B. daß viele aus dem
Gesicht des Angeklagten, insbesondere aus der Zeichnung der Lippen den Ausgang
des Processes erkennen wollen. Diese Leute also haben behauptet, Sie würden
nach Ihren Lippen zu schließen, gewiß und bald verurteilt werden. Ich
wiederhole, es ist ein lächerlicher Aberglaube und in den meisten Fällen durch
die Tatsachen auch vollständig widerlegt, aber wenn man in jener Gesellschaft
lebt, ist es schwer sich solchen Meinungen zu entziehn. Denken Sie nur, wie
stark dieser Aberglaube wirken kann. Sie haben doch einen dort angesprochen,
nicht Er konnte Ihnen aber kaum antworten. Es gibt natürlich viele Gründe um
dort verwirrt zu sein, aber einer davon war auch der Anblick Ihrer Lippen. Er
hat später erzählt, er hätte auf Ihren Lippen auch das Zeichen seiner eigenen
Verurteilung zu sehen geglaubt.” “Meine Lippen” fragte K., zog einen
Taschenspiegel hervor und sah sich an. “Ich kann an meinen Lippen nichts
besonderes erkennen. Und Sie?” “Ich auch nicht,” sagte der Kaufmann, “ganz und
gar nicht.” “Wie abergläubisch diese Leute sind,” rief K. aus. “Sagte ich es
nicht?” fragte der Kaufmann. “Verkehren sie denn soviel untereinander und
tauschen sie ihre Meinungen aus?” sagte K. “Ich habe mich bisher ganz abseits
gehalten.” “Im allgemeinen verkehren sie nicht miteinander,” sagte der Kaufmann,
“das wäre nicht möglich, es sind ja so viele. Es gibt auch wenig gemeinsame
Interessen. Wenn manchmal in einer Gruppe der Glaube an ein gemeinsames
Interesse auftaucht, so erweist er sich bald als ein Irrtum. Gemeinsam läßt
sich gegen das Gericht nichts durchsetzen. Jeder Fall wird für sich untersucht,
es ist ja das sorgfältigste Gericht. Gemeinsam kann man also nichts
durchsetzen, nur ein einzelner erreicht manchmal etwas im Geheimen; erst wenn
es erreicht ist, erfahren es die andern; keiner weiß wie es geschehen ist. Es
gibt also keine Gemeinsamkeit, man kommt zwar hie und da in den Wartezimmern
zusammen, aber dort wird wenig besprochen. Die abergläubischen Meinungen
bestehen schon seit altersher und vermehren sich förmlich von selbst.” “Ich sah
die Herren dort im Wartezimmer,” sagte K., “ihr Warten kam mir so nutzlos vor.”
“Das Warten ist nicht nutzlos,” sagte der Kaufmann, “nutzlos ist nur das
selbstständige Eingreifen. Ich sagte schon, daß ich jetzt außer diesem noch
fünf Advokaten habe. Man sollte doch glauben – ich selbst glaubte es zuerst –
jetzt könnte ich ihnen die Sache vollständig überlassen. Das wäre aber ganz
falsch. Ich kann sie ihnen weniger überlassen, als wenn ich nur einen hätte.
Sie verstehn das wohl nicht” “Nein,” sagte K. und legte, um den Kaufmann an
seinem allzu schnellen Reden zu hindern, die Hand beruhigend auf seine Hand,
“ich möchte Sie nur bitten, ein wenig langsamer zu reden, es sind doch lauter
für mich sehr wichtige Dinge und ich kann Ihnen nicht recht folgen.” “Gut daß Sie
mich daran erinnern,” sagte der Kaufmann, “Sie sind ja ein Neuer, ein Junger.
Ihr Proceß ist ein halbes Jahr alt, nicht wahr? Ja ich habe davon gehört. Ein
so junger Proceß! Ich aber habe diese Dinge schon unzähligemal durchgedacht,
sie sind mir das Selbstverständlichste auf der Welt.” “Sie sind wohl froh, daß
Ihr Proceß schon so weit fortgeschritten ist” fragte K., er wollte nicht
geradezu fragen, wie die Angelegenheiten des Kaufmanns stünden. Er bekam aber
auch keine deutliche Antwort. “Ja, ich habe meinen Proceß fünf Jahre lang
fortgewälzt,” sagte der Kaufmann und senkte den Kopf, “es ist keine kleine
Leistung.” Dann schwieg er ein Weilchen. K. horchte, ob Leni nicht schon komme.
Einerseits wollte er nicht daß sie komme, denn er hatte noch vieles zu fragen
und wollte auch nicht von Leni in diesem vertraulichen Gespräch mit dem
Kaufmann angetroffen werden, andererseits aber ärgerte er sich darüber, daß sie
trotz seiner Anwesenheit solange beim Advokaten blieb, viel länger als zum
Reichen der Suppe nötig war. “Ich erinnere mich noch genau an die Zeit,” begann
der Kaufmann wieder und K. war gleich voll Aufmerksamkeit, “als mein Proceß
etwa so alt war wie jetzt Ihr Proceß. Ich hatte damals nur diesen Advokaten,
war aber nicht sehr mit ihm zufrieden.” “Hier erfahre ich ja alles,” dachte K.
und nickte lebhaft mit dem Kopf als könne er dadurch den Kaufmann aufmuntern,
alles Wissenswerte zu sagen. “Mein Proceß,” fuhr der Kaufmann fort, “kam nicht
vorwärts, es fanden zwar Untersuchungen statt, ich kam auch zu jeder, sammelte
Material, erlegte alle meine Geschäftsbücher bei Gericht, was wie ich später
erfuhr nicht einmal nötig war, ich lief immer wieder zum Advokaten, er brachte
auch verschiedene Eingaben ein –” “Verschiedene Eingaben?” fragte K. “Ja,
gewiß,” sagte der Kaufmann. “Das ist mir sehr wichtig,” sagte K., “in meinem
Fall arbeitet er noch immer an der ersten Eingabe. Er hat noch nichts getan.
Ich sehe jetzt, er vernachlässigt mich schändlich.” “Daß die Eingabe noch nicht
fertig ist, kann verschiedene berechtigte Gründe haben,” sagte der Kaufmann.
“Übrigens hat es sich bei meinen Eingaben später gezeigt, daß sie ganz wertlos
waren. Ich habe sogar eine durch das Entgegenkommen eines Gerichtsbeamten
selbst gelesen. Sie war zwar gelehrt, aber eigentlich inhaltslos. Vor allem
sehr viel Latein, das ich nicht verstehe, dann seitenlange allgemeine
Anrufungen des Gerichtes, dann Schmeicheleien für einzelne bestimmte Beamte,
die zwar nicht genannt waren, die aber ein Eingeweihter jedenfalls erraten
mußte, dann Selbstlob des Advokaten, wobei er sich auf geradezu hündische Weise
vor dem Gericht demütigte, und endlich Untersuchungen von Rechtsfällen aus
alter Zeit, die ähnlich dem meinigen sein sollten. Diese Untersuchungen waren
allerdings, soweit ich ihnen folgen konnte, sehr sorgfältig gemacht. Ich will
auch mit diesem allen kein Urteil über die Arbeit des Advokaten abgeben, auch
war die Eingabe, die ich gelesen habe, nur eine unter mehreren, jedenfalls
aber, und davon will ich jetzt sprechen, konnte ich damals in meinem Proceß
keinen Fortschritt sehn.” “Was für einen Fortschritt wollten Sie denn sehn?”
fragte K. “Sie fragen ganz vernünftig,” sagte der Kaufmann lächelnd, “man kann
in diesem Verfahren nur selten Fortschritte sehn. Aber damals wußte ich das
nicht. Ich bin Kaufmann und war es damals noch viel mehr als heute, ich wollte
greifbare Fortschritte haben, das Ganze sollte sich zum Ende neigen oder
wenigstens den regelrechten Aufstieg nehmen. Statt dessen gab es nur
Einvernahmen, die meist den gleichen Inhalt hatten; die Antworten hatte ich
schon bereit wie eine Litanei; mehrmals in der Woche kamen Gerichtsboten in
mein Geschäft, in meine Wohnung oder wo sie mich sonst antreffen konnten, das
war natürlich störend (heute ist es wenigstens in dieser Hinsicht viel besser,
der telephonische Anruf stört viel weniger), auch unter meinen
Geschäftsfreunden insbesondere aber unter meinen Verwandten fingen Gerüchte von
meinem Proceß sich zu verbreiten an, Schädigungen gab es also von allen Seiten,
aber nicht das geringste Anzeichen sprach dafür, daß auch nur die erste
Gerichtsverhandlung in der nächsten Zeit stattfinden würde. Ich ging also zum
Advokaten und beklagte mich. Er gab mir zwar lange Erklärungen, lehnte es aber
entschieden ab, etwas in meinem Sinne zu tun, niemand habe Einfluß auf die
Festsetzung der Verhandlung, in einer Eingabe darauf zu dringen – wie ich es
verlangte – sei einfach unerhört und würde mich und ihn verderben. Ich dachte:
Was dieser Advokat nicht will oder kann, wird ein anderer wollen und können.
Ich sah mich also nach andern Advokaten um. Ich will es gleich vorwegnehmen:
Keiner hat die Festsetzung der Hauptverhandlung verlangt oder durchgesetzt, es
ist, allerdings mit einem Vorbehalt, von dem ich noch sprechen werde, wirklich
unmöglich, hinsichtlich dieses Punktes hat mich also dieser Advokat nicht
getäuscht; im übrigen aber hatte ich es nicht zu bedauern, mich noch an andere
Advokaten gewendet zu haben. Sie dürften wohl von Dr. Huld auch schon manches
über die Winkeladvokaten gehört haben, er hat sie Ihnen wahrscheinlich als sehr
verächtlich dargestellt und das sind sie wirklich. Allerdings unterläuft ihm
immer, wenn er von ihnen spricht und sich und seine Kollegen zu ihnen in
Vergleich setzt, ein kleiner Fehler, auf den ich Sie ganz nebenbei auch aufmerksam
machen will. Er nennt dann immer die Advokaten seines Kreises zur
Unterscheidung die ‚großen Advokaten‘. Das ist falsch, es kann sich natürlich
jeder ‚groß‘ nennen, wenn es ihm beliebt, in diesem Fall aber entscheidet doch
nur der Gerichtsgebrauch. Nach diesem gibt es nämlich außer den Winkeladvokaten
noch kleine und große Advokaten. Dieser Advokat und seine Kollegen sind jedoch
nur die kleinen Advokaten, die großen Advokaten aber, von denen ich nur gehört
und die ich nie gesehn habe, stehen im Rang unvergleichlich höher über den
kleinen Advokaten, als diese über den verachteten Winkeladvokaten.” “Die großen
Advokaten?” fragte K. “Wer sind denn die? Wie kommt man zu ihnen?” “Sie haben
also noch nie von ihnen gehört,” sagte der Kaufmann. “Es gibt kaum einen
Angeklagten, der nicht nachdem er von ihnen erfahren hat eine Zeitlang von
ihnen träumen würde. Lassen Sie sich lieber nicht dazu verführen. Wer die
großen Advokaten sind weiß ich nicht und zu ihnen kommen, kann man wohl gar
nicht. Ich kenne keinen Fall, von dem sich mit Bestimmtheit sagen ließe, daß
sie eingegriffen hätten. Manchen verteidigen sie, aber durch eigenen Willen
kann man das nicht erreichen, sie verteidigen nur den, den sie verteidigen
wollen. Die Sache deren sie sich annehmen muß aber wohl über das niedrige
Gericht schon hinausgekommen sein. Im übrigen ist es besser nicht an sie zu
denken, denn sonst kommen einem die Besprechungen mit den andern Advokaten,
deren Ratschläge und deren Hilfeleistungen so widerlich und nutzlos vor, ich
habe es selbst erfahren, daß man am liebsten alles wegwerfen, sich zuhause ins
Bett legen und von nichts mehr hören wollte. Das wäre aber natürlich wieder das
Dümmste, auch hätte man im Bett nicht lange Ruhe.” “Sie dachten damals also
nicht an die großen Advokaten?” fragte K. “Nicht lange,” sagte der Kaufmann und
lächelte wieder, “vollständig vergessen kann man leider an sie nicht, besonders
die Nacht ist solchen Gedanken günstig. Aber damals wollte ich ja sofortige
Erfolge, ich gieng daher zu den Winkeladvokaten.”
“Wie
Ihr hier beieinander sitzt,” rief Leni, die mit der Tasse zurückgekommen war
und in der Tür stehen blieb. Sie saßen wirklich eng beisammen, bei der
kleinsten Wendung mußten sie mit den Köpfen aneinanderstoßen, der Kaufmann, der
abgesehen von seiner Kleinheit auch noch den Rücken gekrümmt hielt, hatte K.
gezwungen, sich auch tief zu bücken, wenn er alles hören wollte. “Noch ein
Weilchen,” rief K. Leni abwehrend zu und zuckte ungeduldig mit der Hand, die er
noch immer auf des Kaufmanns Hand liegen hatte. “Er wollte, daß ich ihm von
meinem Proceß erzähle,” sagte der Kaufmann zu Leni. “Erzähle nur, erzähle,”
sagte diese. Sie sprach mit dem Kaufmann liebevoll, aber doch auch
herablassend, K. gefiel das nicht; wie er jetzt erkannt hatte, hatte der Mann
doch einen gewissen Wert, zumindest hatte er Erfahrungen, die er gut
mitzuteilen verstand. Leni beurteilte ihn wahrscheinlich unrichtig. Er sah
ärgerlich zu, als Leni jetzt dem Kaufmann die Kerze, die er die ganze Zeit über
festgehalten hatte, abnahm, ihm die Hand mit ihrer Schürze abwischte und dann
neben ihm niederkniete, um etwas Wachs wegzukratzen, das von der Kerze auf
seine Hose getropft war. “Sie wollten mir von den Winkeladvokaten erzählen,”
sagte K. und schob ohne eine weitere Bemerkung Leni’s Hand weg. “Was willst Du
denn?” fragte Leni, schlug leicht nach K. und setzte ihre Arbeit fort. “Ja, von
den Winkeladvokaten,” sagte der Kaufmann und fuhr sich über die Stirn, als
denke er nach. K. wollte ihm nachhelfen und sagte: “Sie wollten sofortige
Erfolge haben und giengen deshalb zu den Winkeladvokaten.” “Ganz richtig,”
sagte der Kaufmann, setzte aber nicht fort. “Er will vielleicht vor Leni nicht
davon sprechen,” dachte K., bezwang seine Ungeduld das Weitere gleich jetzt zu
hören und drang nun nicht mehr weiter in ihn.
“Hast
Du mich angemeldet?” fragte er Leni. “Natürlich,” sagte diese, “er wartet auf
Dich. Laß jetzt Block, mit Block kannst Du auch später reden, er bleibt doch
hier.” K. zögerte noch. “Sie bleiben hier?” fragte er den Kaufmann, er wollte
dessen eigene Antwort, er wollte nicht, daß Leni vom Kaufmann wie von einem
Abwesenden spreche, er war heute gegen Leni voll geheimen Ärgers. Und wieder
antwortete nur Leni: “Er schläft hier öfters.” “Schläft hier?” rief K., er
hatte gedacht, der Kaufmann werde hier nur auf ihn warten, während er die
Unterredung mit dem Advokaten rasch erledigen würde, dann aber würden sie
gemeinsam fortgehn und alles gründlich und ungestört besprechen. “Ja,” sagte
Leni, “nicht jeder wird wie Du, Josef, zu beliebiger Stunde beim Advokaten
vorgelassen. Du scheinst Dich ja gar nicht darüber zu wundern, daß Dich der
Advokat trotz seiner Krankheit noch um elf Uhr nachts empfängt. Du nimmst das,
was Deine Freunde für Dich tun, doch als gar zu selbstverständlich an. Nun
Deine Freunde oder zumindest ich tun es gerne. Ich will keinen andern Dank und
brauche auch keinen andern, als daß Du mich lieb hast.” “Dich lieb haben?”
dachte K. im ersten Augenblick, erst dann gieng es ihm durch den Kopf: “Nun ja,
ich habe sie lieb.” Trotzdem sagte er, alles andere vernachlässigend: “Er
empfängt mich, weil ich sein Klient bin. Wenn auch dafür noch fremde Hilfe
nötig wäre, müßte man bei jedem Schritt immer gleichzeitig betteln und danken.”
“Wie schlimm er heute ist, nicht?” fragte Leni den Kaufmann. “Jetzt bin ich der
Abwesende,” dachte K. und wurde fast sogar auf den Kaufmann böse, als dieser
die Unhöflichkeit Leni’s übernehmend sagte: “Der Advokat empfängt ihn auch noch
aus andern Gründen. Sein Fall ist nämlich interessanter als der meine. Außerdem
aber ist sein Proceß in den Anfängen, also wahrscheinlich noch nicht sehr
verfahren, da beschäftigt sich der Advokat noch gern mit ihm. Später wird das
anders werden.” “Ja, ja,” sagte Leni und sah den Kaufmann lachend an, “wie er
schwatzt! Ihm darfst Du nämlich,” hiebei wandte sie sich an K., “gar nichts
glauben. So lieb er ist, so geschwätzig ist er. Vielleicht mag ihn der Advokat
auch deshalb nicht leiden. Jedenfalls empfängt er ihn nur, wenn er in Laune
ist. Ich habe mir schon viel Mühe gegeben, das zu ändern, aber es ist
unmöglich. Denke nur, manchmal melde ich Block an, er empfängt ihn aber erst am
dritten Tag nachher. Ist Block aber zu der Zeit wenn er vorgerufen wird, nicht
zur Stelle, so ist alles verloren und er muß von neuem angemeldet werden. Deshalb
habe ich Block erlaubt hier zu schlafen, es ist ja schon vorgekommen, daß er in
der Nacht um ihn geläutet hat. Jetzt ist also Block auch in der Nacht bereit.
Allerdings geschieht es jetzt wieder, daß der Advokat, wenn sich zeigt, daß
Block da ist, seinen Auftrag ihn vorzulassen, manchmal widerruft.” K. sah
fragend zum Kaufmann hin. Dieser nickte und sagte so offen wie er früher mit K.
gesprochen hatte, vielleicht war er zerstreut vor Beschämung: “Ja, man wird
später sehr abhängig von seinem Advokaten.” “Er klagt ja nur zum Schein,” sagte
Leni. “Er schläft ja hier sehr gern, wie er mir schon oft gestanden hat.” Sie
gieng zu einer kleinen Tür und stieß sie auf. “Willst Du sein Schlafzimmer
sehn?” fragte sie. K. gieng hin und sah von der Schwelle aus in den niedrigen
fensterlosen Raum, der von einem schmalen Bett vollständig ausgefüllt war. In
dieses Bett mußte man über den Bettpfosten steigen. Am Kopfende des Bettes war
eine Vertiefung in der Mauer, dort standen peinlich geordnet eine Kerze,
Tintenfaß und Feder, sowie ein Bündel Papiere, wahrscheinlich Proceßschriften.
“Sie schlafen im Dienstmädchenzimmer?” fragte K. und wendete sich zum Kaufmann
zurück. “Leni hat es mir eingeräumt,” antwortete der Kaufmann, “es ist sehr
vorteilhaft.” K. sah ihn lange an; der erste Eindruck, den er von dem Kaufmann
erhalten hatte, war vielleicht doch der richtige gewesen; Erfahrungen hatte er,
denn sein Proceß dauerte schon lange, aber er hatte diese Erfahrungen teuer
bezahlt. Plötzlich ertrug K. den Anblick des Kaufmanns nicht mehr. “Bring ihn
doch ins Bett,” rief er Leni zu, die ihn gar nicht zu verstehen schien. Er
selbst aber wollte zum Advokaten gehn und durch die Kündigung sich nicht nur
vom Advokaten sondern auch von Leni und dem Kaufmann befrein. Aber noch ehe er
zur Tür gekommen war, sprach ihn der Kaufmann mit leiser Stimme an: “Herr
Prokurist.” K. wandte sich mit bösem Gesichte um. “Sie haben an Ihr Versprechen
vergessen,” sagte der Kaufmann und streckte sich von seinem Sitz aus bittend K.
entgegen, “Sie wollten mir noch ein Geheimnis sagen.” “Wahrhaftig,” sagte K.
und streifte auch Leni, die ihn aufmerksam ansah, mit einem Blick, “also hören
Sie: es ist allerdings fast kein Geheimnis mehr. Ich gehe jetzt zum Advokaten
um ihn zu entlassen.” “Er entläßt ihn,” rief der Kaufmann, sprang vom Sessel
und lief mit erhobenen Armen in der Küche umher. Immer wieder rief er: “Er
entläßt den Advokaten.” Leni wollte gleich auf K. losfahren, aber der Kaufmann
kam ihr in den Weg, wofür sie ihm mit den Fäusten einen Hieb gab. Noch mit den
zu Fäusten geballten Händen lief sie dann hinter K., der aber einen großen
Vorsprung hatte. Er war schon in das Zimmer des Advokaten eingetreten als ihn
Leni einholte. Die Tür hatte er hinter sich fast geschlossen, aber Leni, die
mit dem Fuß den Türflügel offenhielt, faßte ihn beim Arm und wollte ihn
zurückziehen. Aber er drückte ihr Handgelenk so stark, daß sie unter einem
Seufzer ihn loslassen mußte. Ins Zimmer einzutreten wagte sie nicht gleich, K.
aber versperrte die Tür mit dem Schlüssel.
“Ich
warte schon sehr lange auf Sie,” sagte der Advokat vom Bett aus, legte ein
Schriftstück, das er beim Licht einer Kerze gelesen hatte, auf das
Nachttischchen, und setzte sich eine Brille auf, mit der er K. scharf ansah.
Statt sich zu entschuldigen, sagte K.: “Ich gehe bald wieder weg.” Der Advokat
hatte K.’s Bemerkung, weil sie keine Entschuldigung war, unbeachtet gelassen
und sagte: “Ich werde Sie nächstens zu dieser späten Stunde nicht mehr
vorlassen.” “Das kommt meinem Anliegen entgegen,” sagte K. Der Advokat sah ihn
fragend an. “Setzen Sie sich,” sagte er. “Weil Sie es wünschen,” sagte K., zog
einen Sessel zum Nachttischchen und setzte sich. “Es schien mir, daß Sie die
Tür abgesperrt haben,” sagte der Advokat. “Ja,” sagte K., “es war Leni’s
wegen.” Er hatte nicht die Absicht irgendjemanden zu schonen. Aber der Advokat
fragte: “War sie wieder zudringlich?” “Zudringlich?” fragte K. “Ja,” sagte der
Advokat, er lachte dabei, bekam einen Hustenanfall und begann nachdem dieser
vergangen war, wieder zu lachen.” Sie haben doch wohl ihre Zudringlichkeit
schon bemerkt?” fragte er und klopfte K. auf die Hand, die dieser zerstreut auf
das Nachttischchen gestützt hatte und die er jetzt rasch zurückzog. “Sie legen
dem nicht viel Bedeutung bei,” sagte der Advokat, als K. schwieg, “desto
besser. Sonst hätte ich mich vielleicht bei Ihnen entschuldigen müssen. Es ist
eine Sonderbarkeit Lenis, die ich ihr übrigens längst verziehen habe und von
der ich auch nicht reden würde, wenn Sie nicht eben jetzt die Tür abgesperrt
hätten. Diese Sonderbarkeit, Ihnen allerdings müßte ich sie wohl am wenigsten
erklären, aber Sie sehen mich so bestürzt an und deshalb tue ich es, diese
Sonderbarkeit besteht darin, daß Leni die meisten Angeklagten schön findet. Sie
hängt sich an alle, liebt alle, scheint allerdings auch von allen geliebt zu
werden; um mich zu unterhalten, erzählt sie mir dann, wenn ich es erlaube,
manchmal davon. Ich bin über das Ganze nicht so erstaunt wie Sie es zu sein
scheinen. Wenn man den richtigen Blick dafür hat, findet man die Angeklagten
wirklich oft schön. Das allerdings ist eine merkwürdige gewissermaßen
naturwissenschaftliche Erscheinung. Es tritt natürlich als Folge der Anklage
nicht etwa eine deutliche, genau zu bestimmende Veränderung des Aussehns ein.
Es ist doch nicht wie in andern Gerichtssachen, die meisten bleiben in ihrer
gewöhnlichen Lebensweise und werden, wenn sie einen guten Advokaten haben, der
für sie sorgt, durch den Proceß nicht sehr behindert. Trotzdem sind diejenigen,
welche darin Erfahrung haben, imstande aus der größten Menge die Angeklagten
Mann für Mann zu erkennen. Woran? werden Sie fragen. Meine Antwort wird Sie
nicht befriedigen. Die Angeklagten sind eben die Schönsten. Es kann nicht die
Schuld sein, die sie schön macht, denn – so muß wenigstens ich als Advokat
sprechen – es sind doch nicht alle schuldig, es kann auch nicht die künftige
Strafe sein, die sie jetzt schon schön macht, denn es werden doch nicht alle
bestraft, es kann also nur an dem gegen sie erhobenen Verfahren liegen, das
ihnen irgendwie anhaftet. Allerdings gibt es unter den Schönen auch besonders
schöne. Schön sind aber alle, selbst Block, dieser elende Wurm.”
K.
war, als der Advokat geendet hatte, vollständig gefaßt, er hatte sogar zu den
letzten Worten auffallend genickt und sich so selbst die Bestätigung seiner
alten Ansicht gegeben, nach welcher der Advokat ihn immer und so auch diesmal
durch allgemeine Mitteilungen, die nicht zur Sache gehörten, zu zerstreuen und
von der Hauptfrage, was er an tatsächlicher Arbeit für K.’s Sache getan hatte,
abzulenken suchte. Der Advokat merkte wohl, daß ihm K. diesmal mehr Widerstand
leistete als sonst, denn er verstummte jetzt, um K. die Möglichkeit zu geben,
selbst zu sprechen, und fragte dann, da K. stumm blieb: “Sind Sie heute mit
einer bestimmten Absicht zu mir gekommen?” “Ja,” sagte K. und blendete mit der
Hand ein wenig die Kerze ab, um den Advokaten besser zu sehn, “ich wollte Ihnen
sagen, daß ich Ihnen mit dem heutigen Tage meine Vertretung entziehe.”
“Verstehe ich Sie recht,” fragte der Advokat, erhob sich halb im Bett und
stützte sich mit einer Hand auf die Kissen. “Ich nehme es an,” sagte K., der
straff aufgerichtet wie auf der Lauer dasaß. “Nun wir können ja auch diesen
Plan besprechen,” sagte der Advokat nach einem Weilchen. “Es ist kein Plan
mehr,” sagte K. “Mag sein,” sagte der Advokat, “wir wollen aber trotzdem nichts
übereilen.” Er gebrauchte das Wort “wir”, als habe er nicht die Absicht K.
freizulassen und als wolle er, wenn er schon nicht sein Vertreter sein dürfe,
wenigstens sein Berater bleiben. “Es ist nichts übereilt,” sagte K., stand
langsam auf und trat hinter seinen Sessel, “es ist gut überlegt und vielleicht
sogar zu lange. Der Entschluß ist endgiltig.” “Dann erlauben Sie mir nur noch
einige Worte,” sagte der Advokat, hob das Federbett weg und setzte sich auf den
Bettrand. Seine nackten weißhaarigen Beine zitterten vor Kälte. Er bat K. ihm
vom Kanapee eine Decke zu reichen. K. holte die Decke und sagte: “Sie setzen
sich ganz unnötig einer Verkühlung aus.” “Der Anlaß ist wichtig genug,” sagte
der Advokat, während er mit dem Federbett den Oberkörper umhüllte und dann die
Beine in die Decke einwickelte. “Ihr Onkel ist mein Freund und auch Sie sind
mir im Laufe der Zeit lieb geworden. Ich gestehe das offen ein. Ich brauche
mich dessen nicht zu schämen.” Diese rührseligen Reden des alten Mannes waren
K. sehr unwillkommen, denn sie zwangen ihn zu einer ausführlicheren Erklärung,
die er gern vermieden hätte, und sie beirrten ihn außerdem, wie er sich offen
eingestand, wenn sie allerdings auch seinen Entschluß niemals rückgängig machen
konnten. “Ich danke Ihnen für Ihre freundliche Gesinnung,” sagte er, “ich
erkenne auch an, daß Sie sich meiner Sache so sehr angenommen haben, wie es
Ihnen möglich ist und wie es Ihnen für mich vorteilhaft scheint. Ich jedoch
habe in der letzten Zeit die Überzeugung gewonnen, daß das nicht genügend ist.
Ich werde natürlich niemals versuchen, Sie, einen so viel ältern und
erfahreneren Mann von meiner Ansicht überzeugen zu wollen; wenn ich es manchmal
unwillkürlich versucht habe so verzeihen Sie mir, die Sache aber ist, wie Sie
sich selbst ausdrückten, wichtig genug, und es ist meiner Überzeugung nach
notwendig viel kräftiger in den Proceß einzugreifen, als es bisher geschehen
ist.” “Ich verstehe Sie,” sagte der Advokat, “Sie sind ungeduldig.” “Ich bin
nicht ungeduldig,” sagte K. ein wenig gereizt und achtete nicht mehr so viel
auf seine Worte. “Sie dürften bei meinem ersten Besuch, als ich mit meinem
Onkel zu Ihnen kam, bemerkt haben, daß mir an dem Proceß nicht viel lag; wenn
man mich nicht gewissermaßen gewaltsam an ihn erinnerte, vergaß ich vollständig
an ihn. Aber mein Onkel bestand darauf, daß ich Ihnen meine Vertretung
übergebe, ich tat es, um ihm gefällig zu sein. Und nun hätte man doch erwarten
sollen, daß mir der Proceß noch leichter fallen würde als bis dahin, denn man
übergibt doch dem Advokaten die Vertretung, um die Last des Processes ein wenig
von sich abzuwälzen. Es geschah aber das Gegenteil. Niemals früher, hatte ich
so große Sorgen wegen des Processes, wie seit der Zeit, seitdem Sie mich
vertreten. Als ich allein war unternahm ich nichts in meiner Sache, aber ich
fühlte es kaum, jetzt dagegen hatte ich einen Vertreter, alles war dafür
eingerichtet, daß etwas geschehe, unaufhörlich und immer gespannter erwartete
ich Ihr Eingreifen, aber es blieb aus. Ich bekam von Ihnen allerdings
verschiedene Mitteilungen über das Gericht, die ich vielleicht von niemandem
sonst hätte bekommen können. Aber das kann mir nicht genügen, wenn mir jetzt
der Proceß, förmlich im Geheimen, immer näher an den Leib rückt.” K. hatte den
Sessel von sich gestoßen und stand, die Hände in den Rocktaschen aufrecht da.
“Von einem gewissen Zeitpunkt der Praxis an,” sagte der Advokat leise und
ruhig, “ereignet sich nichts wesentlich Neues mehr. Wie viele Parteien sind in
ähnlichen Stadien der Processe ähnlich wie Sie vor mir gestanden und haben
ähnlich gesprochen.” “Dann haben,” sagte K., “alle diese ähnlichen Parteien
ebenso recht gehabt wie ich. Das widerlegt mich gar nicht.” “Ich wollte Sie
damit nicht widerlegen,” sagte der Advokat, “ich wollte aber noch hinzufügen,
daß ich bei Ihnen mehr Urteilskraft erwartet hätte als bei andern, besonders da
ich Ihnen mehr Einblick in das Gerichtswesen und in meine Tätigkeit gegeben
habe, als ich es sonst Parteien gegenüber tue. Und nun muß ich sehn, daß Sie
trotz allem nicht genügend Vertrauen zu mir haben. Sie machen es mir nicht
leicht.” Wie sich der Advokat vor K. demütigte! Ohne jede Rücksicht auf die
Standesehre, die gewiß gerade in diesem Punkte am empfindlichsten ist. Und
warum tat er das? Er war doch dem Anschein nach ein vielbeschäftigter Advokat
und überdies ein reicher Mann, es konnte ihm an und für sich weder an dem
Verdienstentgang noch an dem Verlust eines Klienten viel liegen. Außerdem war
er kränklich und hätte selbst darauf bedacht sein sollen, daß ihm Arbeit
abgenommen werde. Und trotzdem hielt er K. so fest. Warum? War es persönliche
Anteilnahme für den Onkel oder sah er K.’s Proceß wirklich für so
außerordentlich an und hoffte sich darin auszuzeichnen entweder für K. oder –
diese Möglichkeit war eben niemals auszuschließen – für die Freunde beim
Gericht? An ihm selbst war nichts zu erkennen, so rücksichtslos prüfend ihn
auch K. ansah. Man hätte fast annehmen können, er warte mit absichtlich
verschlossener Miene die Wirkung seiner Worte ab. Aber er deutete offenbar das
Schweigen K.’s für sich allzu günstig, wenn er jetzt fortfuhr: “Sie werden
bemerkt haben, daß ich zwar eine große Kanzlei habe aber keine Hilfskräfte
beschäftige. Das war früher anders, es gab eine Zeit wo einige junge Juristen
für mich arbeiteten, heute arbeite ich allein. Es hängt dies zum Teil mit der
Änderung meiner Praxis zusammen, indem ich mich immer mehr auf Rechtssachen von
der Art der Ihrigen beschränkte, zum Teil mit der immer tiefern Erkenntnis, die
ich von diesen Rechtssachen erhielt. Ich fand, daß ich diese Arbeit niemandem
überlassen dürfe, wenn ich mich nicht an meinen Klienten und an der Aufgabe,
die ich übernommen hatte, versündigen wollte. Der Entschluß aber alle Arbeit
selbst zu leisten hatte die natürlichen Folgen: ich mußte fast alle Ansuchen um
Vertretungen abweisen und konnte nur denen nachgeben, die mir besonders
nahegiengen – nun es gibt ja genug Kreaturen und sogar ganz in der Nähe, die sich
auf jeden Brocken stürzen, den ich wegwerfe. Und außerdem wurde ich vor
Überanstrengung krank. Aber trotzdem bereue ich meinen Entschluß nicht, es ist
möglich, daß ich mehr Vertretungen hätte abweisen sollen, als ich getan habe,
daß ich aber den übernommenen Processen mich ganz hingegeben habe, hat sich als
unbedingt notwendig herausgestellt und durch die Erfolge belohnt. Ich habe
einmal in einer Schrift den Unterschied sehr schön ausgedrückt gefunden, der
zwischen der Vertretung in gewöhnlichen Rechtssachen und der Vertretung in
diesen Rechtssachen besteht. Es hieß dort: Der eine Advokat führt seinen
Klienten an einem Zwirnfaden bis zum Urteil, der andere aber hebt seinen
Klienten gleich auf die Schultern und trägt ihn zum Urteil und ohne ihn
abzusetzen noch darüber hinaus. So ist es. Aber es war nicht ganz richtig wenn
ich sagte, daß ich diese große Arbeit niemals bereue. Wenn sie, wie in Ihrem
Fall, so vollständig verkannt wird, dann, nun dann bereue ich fast.” K. wurde
durch diese Reden mehr ungeduldig als überzeugt. Er glaubte irgendwie aus dem
Tonfall des Advokaten herauszuhören, was ihn erwartete, wenn er nachgeben
würde, wieder würden die Vertröstungen beginnen, die Hinweise auf die
fortschreitende Eingabe, auf die gebesserte Stimmung der Gerichtsbeamten, aber
auch auf die großen Schwierigkeiten, die sich der Arbeit entgegenstellten, –
kurz das alles bis zum Überdruß Bekannte würde hervorgeholt werden, um K.
wieder mit unbestimmten Hoffnungen zu täuschen und mit unbestimmten Drohungen
zu quälen. Das mußte endgiltig verhindert werden, er sagte deshalb: “Was wollen
Sie in meiner Sache unternehmen, wenn Sie die Vertretung behalten.” Der Advokat
fügte sich sogar dieser beleidigenden Frage und antwortete: “In dem, was ich
für Sie bereits unternommen habe, weiter fortfahren.” “Ich wußte es ja,” sagte
K., “nun ist aber jedes weitere Wort überflüssig.” “Ich werde noch einen
Versuch machen,” sagte der Advokat, als geschehe, das was K. erregte, nicht K.
sondern ihm. “Ich habe nämlich die Vermutung, daß Sie nicht nur zu der falschen
Beurteilung meines Rechtsbeistandes, sondern auch zu Ihrem sonstigen Verhalten
dadurch verleitet werden, daß man Sie, trotzdem Sie Angeklagter sind, zu gut
behandelt oder richtiger ausgedrückt nachlässig, scheinbar nachlässig behandelt.
Auch dieses Letztere hat seinen Grund; es ist oft besser in Ketten als frei zu
sein. Aber ich möchte Ihnen doch zeigen, wie andere Angeklagte behandelt
werden, vielleicht gelingt es Ihnen, daraus eine Lehre zu nehmen. Ich werde
jetzt nämlich Block vorrufen, sperren Sie die Tür auf und setzen Sie sich hier
neben den Nachttisch.” “Gerne,” sagte K. und tat was der Advokat verlangt
hatte; zu lernen war er immer bereit. Um sich aber für jeden Fall zu sichern,
fragte er noch: “Sie haben aber zur Kenntnis genommen, daß ich Ihnen meine
Vertretung entziehe?” “Ja,” sagte der Advokat, “Sie können es aber heute noch
rückgängig machen.” Er legte sich wieder ins Bett zurück, zog das Federbett bis
zum Kinn und drehte sich der Wand zu. Dann läutete er.
Fast
gleichzeitig mit dem Glockenzeichen erschien Leni, sie suchte durch rasche
Blicke zu erfahren was geschehen war; daß K. ruhig beim Bett des Advokaten saß,
schien ihr beruhigend. Sie nickte K., der sie starr ansah, lächelnd zu. “Hole
Block,” sagte der Advokat. Statt ihn aber zu holen, trat sie nur vor die Tür,
rief: “Block! Zum Advokaten!” und schlüpfte dann, wahrscheinlich weil der
Advokat zur Wand abgekehrt blieb und sich um nichts kümmerte, hinter K.’s
Sessel. Sie störte ihn von nun ab, indem sie sich über die Sessellehne
vorbeugte oder mit den Händen allerdings sehr zart und vorsichtig, durch sein
Haar fuhr und über seine Wangen strich. Schließlich suchte K. sie daran zu
hindern, indem er sie bei einer Hand erfaßte, die sie ihm nach einigem
Widerstreben überließ.
Block
war auf den Anruf hin gleich gekommen, blieb aber vor der Tür stehn und schien
zu überlegen ob er eintreten sollte. Er zog die Augenbrauen hoch und neigte den
Kopf, als horche er ob sich der Befehl zum Advokaten zu kommen, wiederholen
würde. K. hätte ihn zum Eintreten aufmuntern können, aber er hatte sich
vorgenommen nicht nur mit dem Advokaten sondern mit allem was hier in der
Wohnung war endgiltig zu brechen und verhielt sich deshalb regungslos. Auch
Leni schwieg. Block merkte, daß ihn wenigstens niemand verjage, und trat auf
den Fußspitzen ein, das Gesicht gespannt, die Hände auf dem Rücken verkrampft.
Die Tür hatte er für einen möglichen Rückzug offengelassen. K. blickte er gar
nicht an, sondern immer nur das hohe Federbett, unter dem der Advokat, da er sich
ganz nahe an die Wand geschoben hatte, nicht einmal zu sehen war. Da hörte man
aber seine Stimme: “Block hier?” fragte er. Diese Frage gab Block, der schon
eine große Strecke weitergerückt war, förmlich einen Stoß in die Brust und dann
einen in den Rücken, er taumelte, blieb tief gebückt stehn und sagte: “Zu
dienen.” “Was willst Du?” fragte der Advokat, “Du kommst ungelegen.” “Wurde ich
nicht gerufen?” fragte Block, mehr sich selbst, als den Advokaten, hielt die
Hände zum Schutze vor und war bereit wegzulaufen. “Du wurdest gerufen,” sagte
der Advokat, “trotzdem kommst Du ungelegen.” Und nach einer Pause fügte er
hinzu: “Du kommst immer ungelegen.” Seitdem der Advokat sprach, sah Block nicht
mehr auf das Bett hin, er starrte vielmehr irgendwo in eine Ecke und lauschte
nur, als sei der Anblick des Sprechers zu blendend, als daß er ihn ertragen
könnte. Es war aber auch das Zuhören schwer, denn der Advokat sprach gegen die
Wand undzwar leise und schnell. “Wollt Ihr daß ich weggehe?” fragte Block. “Nun
bist Du einmal da,” sagte der Advokat. “Bleib!” Man hätte glauben können, der
Advokat habe nicht Blocks Wunsch erfüllt, sondern ihm etwa mit Prügeln gedroht,
denn jetzt fieng Block wirklich zu zittern an. “Ich war gestern,” sagte der
Advokat, “beim dritten Richter, meinem Freund, und habe allmählich das Gespräch
auf Dich gelenkt. Willst Du wissen, was er sagte?” “Oh bitte,” sagte Block. Da
der Advokat nicht gleich antwortete, wiederholte Block nochmals die Bitte und
neigte sich als wolle er niederknien. Da fuhr ihn aber K. an: “Was tust Du?”
rief er. Da ihn Leni an dem Ausruf hatte hindern wollen, faßte er auch ihre
zweite Hand. Es war nicht der Druck der Liebe, mit dem er sie festhielt, sie
seufzte auch öfters und suchte ihm die Hände zu entwinden. Für K.’s Ausruf aber
wurde Block gestraft, denn der Advokat fragte ihn: “Wer ist denn Dein Advokat?”
“Ihr seid es,” sagte Block. “Und außer mir?” fragte der Advokat. “Niemand außer
Euch,” sagte Block. “Dann folge auch niemandem sonst,” sagte der Advokat. Block
erkannte das vollständig an, er maß K. mit bösen Blicken und schüttelte heftig
gegen ihn den Kopf. Hätte man dieses Benehmen in Worte übersetzt so wären es
grobe Beschimpfungen gewesen. Mit diesem Menschen hatte K. freundschaftlich
über seine eigene Sache reden wollen! “Ich werde Dich nicht mehr stören,” sagte
K. in den Sessel zurückgelehnt. “Knie nieder oder krieche auf allen Vieren, tu
was Du willst, ich werde mich nicht darum kümmern.” Aber Block hatte doch
Ehrgefühl, wenigstens gegenüber K., denn er gieng mit den Fäusten fuchtelnd auf
ihn zu, und rief so laut als er es nur in der Nähe des Advokaten wagte: “Sie
dürfen nicht so mit mir reden, das ist nicht erlaubt. Warum beleidigen Sie
mich? Und überdies noch hier vor dem Herrn Advokaten, wo wir beide, Sie und ich,
nur aus Barmherzigkeit geduldet sind? Sie sind kein besserer Mensch als ich,
denn Sie sind auch angeklagt und haben auch einen Proceß. Wenn Sie aber
trotzdem noch ein Herr sind, dann bin ich ein ebensolcher Herr, wenn nicht gar
ein noch größerer. Und ich will auch als ein solcher angesprochen werden,
gerade von Ihnen. Wenn Sie sich aber dadurch für bevorzugt halten, daß Sie hier
ruhig sitzen und ruhig zuhören dürfen, während ich, wie Sie sich ausdrücken,
auf allen Vieren krieche, dann erinnere ich Sie an den alten Rechtsspruch: Für
den Verdächtigen ist Bewegung besser als Ruhe, denn der welcher ruht kann
immer, ohne es zu wissen auf einer Wagschale sein und mit seinen Sünden gewogen
werden.” K. sagte nichts, er staunte nur mit unbeweglichen Augen diesen verwirrten
Menschen an. Was für Veränderungen waren mit ihm nur schon in der letzten
Stunde vor sich gegangen! War es der Proceß, der ihn so hin und her warf und
ihn nicht erkennen ließ, wo Freund und wo Feind war? Sah er denn nicht, daß der
Advokat ihn absichtlich demütigte und diesmal nichts anderes bezweckte, als
sich vor K. mit seiner Macht zu brüsten und sich dadurch vielleicht auch K. zu
unterwerfen? Wenn Block aber nicht fähig war das zu erkennen, oder wenn er den
Advokaten so sehr fürchtete, daß ihm jene Erkenntnis nichts helfen konnte, wie
kam es daß er doch wieder so schlau oder so kühn war, den Advokaten zu betrügen
und ihm zu verschweigen, daß er außer ihm noch andere Advokaten für sich
arbeiten ließ. Und wieso wagte er es, K. anzugreifen, da dieser doch gleich
sein Geheimnis verraten konnte. Aber er wagte noch mehr, er gieng zum Bett des
Advokaten und begann sich nun auch dort über K. zu beschweren: “Herr Advokat,”
sagte er, “habt gehört, wie dieser Mann mit mir gesprochen hat. Man kann noch
die Stunden seines Processes zählen und schon will er mir, einem Mann, der fünf
Jahre im Processe steht, gute Lehren geben. Er beschimpft mich sogar. Weiß
nichts und beschimpft mich, der ich, soweit meine schwachen Kräfte reichen,
genau studiert habe, was Anstand, Pflicht und Gerichtsgebrauch verlangt.”
“Kümmere Dich um niemanden,” sagte der Advokat, “und tue was Dir richtig
scheint.” “Gewiß,” sagte Block, als spreche er sich selbst Mut zu, und kniete
unter einem kurzen Seitenblick nun knapp beim Bett nieder. “Ich knie schon,
mein Advokat,” sagte er. Der Advokat schwieg aber. Block streichelte mit einer
Hand vorsichtig das Federbett. In der Stille, die jetzt herrschte, sagte Leni,
indem sie sich von K.’s Händen befreite: “Du machst mir Schmerzen. Laß mich.
Ich gehe zu Block.” Sie ging hin und setzte sich auf den Bettrand. Block war
über ihr Kommen sehr erfreut, er bat sie gleich durch lebhafte aber stumme
Zeichen sich beim Advokaten für ihn einzusetzen. Er benötigte offenbar die
Mitteilungen des Advokaten sehr dringend aber vielleicht nur zu dem Zweck, um
sie durch seine übrigen Advokaten ausnützen zulassen. Leni wußte wahrscheinlich
genau wie man dem Advokaten beikommen könne, sie zeigte auf die Hand des
Advokaten und spitzte die Lippen wie zum Kuß. Gleich führte denn Block den
Handkuß aus und wiederholte ihn auf eine Aufforderung Lenis hin noch zweimal.
Aber der Advokat schwieg noch immer. Da beugte sich Leni über den Advokaten
hin, der schöne Wuchs ihres Körpers wurde sichtbar als sie sich so streckte,
und strich tief zu seinem Gesicht geneigt über sein langes weißes Haar. Das
zwang ihm nun doch eine Antwort ab. “Ich zögere es ihm mitzuteilen,” sagte der
Advokat und man sah, wie er den Kopf ein wenig schüttelte, vielleicht um des
Drucks von Leni’s Hand mehr teilhaftig zu werden. Block horchte mit gesenktem
Kopf, als übertrete er durch dieses Horchen ein Gebot. “Warum zögerst Du denn?”
fragte Leni. K. hatte das Gefühl, als höre er ein einstudiertes Gespräch, das
sich schon oft wiederholt hatte, das sich noch oft wiederholen würde und das
nur für Block seine Neuheit nicht verlieren konnte. “Wie hat er sich heute
verhalten?” fragte der Advokat statt zu antworten. Ehe sich Leni darüber
äußerte, sah sie zu Block hinunter und beobachtete ein Weilchen, wie er die
Hände ihr entgegenhob und bittend aneinander rieb. Schließlich nickte sie
ernst, wandte sich zum Advokaten und sagte: “Er war ruhig und fleißig.” Ein
alter Kaufmann, ein Mann mit langem Bart, flehte ein junges Mädchen um ein
günstiges Zeugnis an. Mochte er dabei auch Hintergedanken haben, nichts konnte
ihn in den Augen eines Mitmenschen rechtfertigen. Er entwürdigte fast den
Zuseher. K. begriff nicht, wie der Advokat daran hatte denken können, durch
diese Vorführung ihn zu gewinnen. Hätte er ihn nicht schon früher verjagt, er
hätte es durch diese Szene erreicht. So wirkte also die Methode des Advokaten,
welcher K. glücklicher Weise nicht lange genug ausgesetzt gewesen war, daß der
Klient schließlich an die ganze Welt vergaß und nur auf diesem Irrweg zum Ende
des Processes sich fortzuschleppen hoffte. Das war kein Klient mehr, das war
der Hund des Advokaten. Hätte ihm dieser befohlen, unter das Bett wie in eine
Hundehütte zu kriechen und von dort aus zu bellen, er hätte es mit Lust getan.
Als sei K. beauftragt, alles was hier gesprochen wurde, genau in sich
aufzunehmen, an einem höhern Ort die Anzeige davon zu erstatten und einen
Bericht abzulegen, hörte er prüfend und überlegen zu. “Was hat er während des
ganzen Tags getan?” fragte der Advokat. “Ich habe ihn,” sagte Leni, “damit er
mich bei der Arbeit nicht störe, in dem Dienstmädchenzimmer eingesperrt, wo er
sich ja gewöhnlich aufhält. Durch die Luke konnte ich von Zeit zu Zeit
nachsehn, was er machte. Er kniete immer auf dem Bett, hatte die Schriften, die
Du ihm geliehen hast, auf dem Fensterbrett aufgeschlagen und las in ihnen. Das
hat einen guten Eindruck auf mich gemacht; das Fenster führt nämlich nur in
einen Luftschacht und gibt fast kein Licht. Daß Block trotzdem las, zeigte mir,
wie folgsam er ist.” “Es freut mich das zu hören,” sagte der Advokat. “Hat er
aber auch mit Verständnis gelesen?” Block bewegte während dieses Gespräches
unaufhörlich die Lippen, offenbar formulierte er die Antworten, die er von Leni
erhoffte. “Darauf kann ich natürlich,” sagte Leni, “nicht mit Bestimmtheit
antworten. Jedenfalls habe ich gesehn, daß er gründlich las. Er hat den ganzen
Tag über die gleiche Seite gelesen und beim Lesen den Finger die Zeilen
entlanggeführt. Immer wenn ich zu ihm hineinsah, hat er geseufzt, als mache ihm
das Lesen viel Mühe. Die Schriften, die Du ihm geliehen hast, sind
wahrscheinlich schwer verständlich.” “Ja,” sagte der Advokat, “das sind sie
allerdings. Ich glaube auch nicht, daß er etwas von ihnen versteht. Sie sollen
ihm nur eine Ahnung davon geben, wie schwer der Kampf ist, den ich zu seiner
Verteidigung führe. Und für wen führe ich diesen schweren Kampf? Für – es ist
fast lächerlich es auszusprechen – für Block. Auch was das bedeutet soll er
begreifen lernen. Hat er ununterbrochen studiert?” “Fast ununterbrochen,”
antwortete Leni, “nur einmal hat er mich um Wasser zum Trinken gebeten. Da habe
ich ihm ein Glas durch die Luke gereicht. Um acht Uhr habe ich ihn dann
herausgelassen und ihm etwas zu essen gegeben.” Block streifte K. mit einem
Seitenblick, als werde hier Rühmendes von ihm erzählt und müsse auch auf K.
Eindruck machen. Er schien jetzt gute Hoffnungen zu haben, bewegte sich freier
und rückte auf den Knien hin und her. Desto deutlicher war es, wie er unter den
folgenden Worten des Advokaten erstarrte. “Du lobst ihn,” sagte der Advokat.
“Aber gerade das macht es mir schwer zu reden. Der Richter hat sich nämlich
nicht günstig ausgesprochen, weder über Block selbst noch über seinen Proceß.”
“Nicht günstig?” fragte Leni. “Wie ist das möglich?” Block sah sie mit einem so
gespannten Blick an, als traue er ihr die Fähigkeit zu, jetzt noch die längst
ausgesprochenen Worte des Richters zu seinen Gunsten zu wenden. “Nicht
günstig,” sagte der Advokat. “Er war sogar unangenehm berührt, als ich von
Block zu sprechen anfieng. ‚Reden Sie nicht von Block‘, sagte er. ‚Er ist mein
Klient‘, sagte ich. ‚Sie lassen sich mißbrauchen‘, sagte er. ‚Ich halte seine
Sache nicht für verloren‘, sagte ich. ‚Sie lassen sich mißbrauchen‘,
wiederholte er. ‚Ich glaube es nicht‘, sagte ich. ‚Block ist im Proceß fleißig
und immer hinter seiner Sache her. Er wohnt fast bei mir um immer auf dem
Laufenden zu sein. Solchen Eifer findet man nicht immer. Gewiß er ist
persönlich nicht angenehm, hat häßliche Umgangsformen und ist schmutzig, aber in
prozessualer Hinsicht ist er untadelhaft.‘ Ich sagte untadelhaft, ich übertrieb
absichtlich. Darauf sagte er: ‚Block ist bloß schlau. Er hat viel Erfahrung
angesammelt und versteht es den Proceß zu verschleppen. Aber seine Unwissenheit
ist noch viel größer als seine Schlauheit. Was würde er wohl dazu sagen, wenn
er erfahren würde, daß sein Proceß noch gar nicht begonnen hat, wenn man ihm
sagen würde, daß noch nicht einmal das Glockenzeichen zum Beginn des Processes
gegeben ist.‘ Ruhig Block,” sagte der Advokat, denn Block begann sich gerade
auf unsicheren Knien zu erheben und wollte offenbar um Aufklärung bitten. Es
war jetzt das erste Mal, daß sich der Advokat mit ausführlicheren Worten
geradezu an Block wendete. Mit müden Augen sah er halb ziellos, halb zu Block
hinunter, der unter diesem Blick wieder langsam in die Knie zurücksank. “Diese
Äußerung des Richters hat für Dich gar keine Bedeutung,” sagte der Advokat.
“Erschrick doch nicht bei jedem Wort. Wenn sich das wiederholt, werde ich Dir
gar nichts mehr verraten. Man kann keinen Satz beginnen, ohne daß Du einen
anschaust, als ob jetzt Dein Endurteil käme. Schäme Dich hier vor meinem
Klienten! Auch erschütterst Du das Vertrauen, das er in mich setzt. Was willst
Du denn? Noch lebst Du, noch stehst Du unter meinem Schutz. Sinnlose Angst! Du
hast irgendwo gelesen, daß das Endurteil in manchen Fällen unversehens komme
aus beliebigem Munde zu beliebiger Zeit. Mit vielen Vorbehalten ist das
allerdings wahr, ebenso wahr aber ist es, daß mich Deine Angst anwidert und daß
ich darin einen Mangel des notwendigen Vertrauens sehe. Was habe ich denn
gesagt? Ich habe die Äußerung eines Richters wiedergegeben. Du weißt, die
verschiedenen Ansichten häufen sich um das Verfahren bis zur
Undurchdringlichkeit. Dieser Richter z. B. nimmt den Anfang des Verfahrens zu
einem andern Zeitpunkt an als ich. Ein Meinungsunterschied, nichts weiter. In
einem gewissen Stadium des Processes wird nach altem Brauch ein Glockenzeichen
gegeben. Nach der Ansicht dieses Richters beginnt damit der Proceß. Ich kann
Dir jetzt nicht alles sagen, was dagegen spricht, Du würdest es auch nicht
verstehn, es genüge Dir, daß viel dagegen spricht.” Verlegen fuhr Block unten
mit den Fingern durch das Fell des Bettvorlegers, die Angst wegen des
Ausspruches des Richters ließ ihn zeitweise die eigene Untertänigkeit gegenüber
dem Advokaten vergessen, er dachte dann nur an sich und drehte die Worte des
Richters nach allen Seiten. “Block,” sagte Leni in warnendem Ton und zog ihn am
Rockkragen ein wenig in die Höhe. “Laß jetzt das Fell und höre dem Advokaten
zu.”
Im Dom
K.
bekam den Auftrag, einem italienischen Geschäftsfreund der Bank, der für sie
sehr wichtig war und sich zum ersten Mal in dieser Stadt aufhielt, einige
Kunstdenkmäler zu zeigen. Es war ein Auftrag, den er zu anderer Zeit gewiß für
ehrend gehalten hätte, den er aber jetzt, da er nur mit großer Anstrengung sein
Ansehen in der Bank noch wahren konnte, widerwillig übernahm. Jede Stunde, die
er dem Bureau entzogen wurde machte ihm Kummer; er konnte zwar die Bureauzeit
beiweitem nicht mehr so ausnützen wie früher, er brachte manche Stunden nur
unter dem notdürftigsten Anschein wirklicher Arbeit hin, aber desto größer
waren seine Sorgen, wenn er nicht im Bureau war. Er glaubte dann zu sehn, wie
der Direktor-Stellvertreter, der ja immer auf der Lauer gewesen war, von Zeit
zu Zeit in sein Bureau kam, sich an seinen Schreibtisch setzte, seine
Schriftstücke durchsuchte, Parteien, mit denen K. seit Jahren fast befreundet
gewesen war, empfieng und ihm abspenstig machte, ja vielleicht sogar Fehler
aufdeckte, von denen sich K. während der Arbeit jetzt immer aus tausend
Richtungen bedroht sah und die er nicht mehr vermeiden konnte. Wurde er daher
einmal sei es in noch so auszeichnender Weise zu einem Geschäftsweg oder gar zu
einer kleinen Reise beauftragt – solche Aufträge hatten sich in der letzten
Zeit ganz zufällig gehäuft – dann lag immerhin die Vermutung nahe, daß man ihn
für ein Weilchen aus dem Bureau entfernen und seine Arbeit überprüfen wolle
oder wenigstens daß man ihn im Bureau für leicht entbehrlich halte. Die meisten
dieser Aufträge hätte er ohne Schwierigkeit ablehnen können, aber er wagte es
nicht, denn, wenn seine Befürchtung auch nur im geringsten begründet war,
bedeutete die Ablehnung des Auftrags Geständnis seiner Angst. Aus diesem Grunde
nahm er solche Aufträge scheinbar gleichmütig hin und verschwieg sogar, als er
eine anstrengende zweitägige Geschäftsreise machen sollte, eine ernstliche
Verkühlung, um sich nur nicht der Gefahr auszusetzen, mit Berufung auf das
gerade herrschende regnerische Herbstwetter von der Reise abgehalten zu werden.
Als er von dieser Reise mit wütenden Kopfschmerzen zurückkehrte, erfuhr er, daß
er dazu bestimmt sei, am nächsten Tag den italienischen Geschäftsfreund zu
begleiten. Die Verlockung, sich wenigstens dieses eine Mal zu weigern, war sehr
groß, vor allem war das was man ihm hier zugedacht hatte, keine unmittelbar mit
dem Geschäft zusammenhängende Arbeit, die Erfüllung dieser gesellschaftlichen
Pflicht gegenüber dem Geschäftsfreund war an sich zweifellos wichtig genug, nur
nicht für K., der wohl wußte, daß er sich nur durch Arbeitserfolge erhalten
könne und daß es, wenn ihm das nicht gelingen würde, vollständig wertlos war,
wenn er diesen Italiener unerwarteter Weise sogar bezaubern sollte; er wollte
nicht einmal für einen Tag aus dem Bereich der Arbeit geschoben werden, denn
die Furcht nicht mehr zurückgelassen zu werden, war zu groß, eine Furcht, die
er sehr genau als übertrieben erkannte, die ihn aber doch beengte. In diesem
Fall allerdings war es fast unmöglich einen annehmbaren Einwand zu erfinden,
K.’s Kenntnis des Italienischen war zwar nicht sehr groß, aber immerhin
genügend; das Entscheidende aber war, daß K. aus früherer Zeit einige
kunsthistorische Kenntnisse besaß, was in äußerst übertriebener Weise dadurch
in der Bank bekannt geworden war, daß K. eine Zeitlang, übrigens auch nur aus
geschäftlichen Gründen, Mitglied des Vereins zur Erhaltung der städtischen
Kunstdenkmäler gewesen war. Nun war aber der Italiener, wie man gerüchtweise
erfahren hatte, ein Kunstliebhaber und die Wahl K.’s zu seinem Begleiter war
daher selbstverständlich.
Es
war ein sehr regnerischer stürmischer Morgen, als K. voll Ärger über den Tag
der ihm bevorstand schon um sieben Uhr ins Bureau kam, um wenigstens einige
Arbeit noch fertigzubringen, ehe der Besuch ihn allem entziehen würde. Er war
sehr müde, denn er hatte die halbe Nacht mit dem Studium einer italienischen
Grammatik verbracht, um sich ein wenig vorzubereiten, das Fenster an dem er in
der letzten Zeit viel zu oft zu sitzen pflegte, lockte ihn mehr als der
Schreibtisch, aber er widerstand und setzte sich zur Arbeit. Leider trat gerade
der Diener ein und meldete, der Herr Direktor habe ihn geschickt, um
nachzusehn, ob der Herr Prokurist schon hier sei; sei er hier, dann möge er so
freundlich sein und ins Empfangszimmer hinüberkommen, der Herr aus Italien sei
schon da. “Ich komme schon,” sagte K., steckte ein kleines Wörterbuch in die
Tasche, nahm ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten, das er für den
Fremden vorbereitet hatte unter den Arm, und gieng durch das Bureau des
Direktor-Stellvertreters in das Direktionszimmer. Er war glücklich darüber, so
früh ins Bureau gekommen zu sein und sofort zur Verfügung stehn zu können, was
wohl niemand ernstlich erwartet hatte. Das Bureau des Direktor-Stellvertreters
war natürlich noch leer, wie in tiefer Nacht, wahrscheinlich hatte der Diener
auch ihn ins Empfangszimmer berufen sollen, es war aber erfolglos gewesen. Als
K. ins Empfangszimmer eintrat erhoben sich die zwei Herren aus den tiefen
Fauteuils. Der Direktor lächelte freundlich, offenbar war er sehr erfreut über
K.’s Kommen, er besorgte sofort die Vorstellung, der Italiener schüttelte K.
kräftig die Hand und nannte lachend irgendjemanden einen Frühaufsteher, K.
verstand nicht genau wen er meinte, es war überdies ein sonderbares Wort,
dessen Sinn K. erst nach einem Weilchen erriet. Er antwortete mit einigen
glatten Sätzen, die der Italiener wieder lachend hinnahm, wobei er mehrmals mit
nervöser Hand über seinen graublauen buschigen Schnurrbart fuhr. Dieser Bart
war offenbar parfümiert, man war fast versucht, sich zu nähern und zu riechen.
Als sich alle gesetzt hatten und ein kleines einleitendes Gespräch begann,
bemerkte K. mit großem Unbehagen, daß er den Italiener nur bruchstückweise
verstand. Wenn er ganz ruhig sprach, verstand er ihn fast vollständig, das
waren aber nur seltene Ausnahmen, meistens quoll förmlich ihm die Rede aus dem
Mund, er schüttelte den Kopf wie vor Lust darüber. Bei solchen Reden aber
verwickelte er sich regelmäßig in irgendeinen Dialekt, der für K. nichts
Italienisches mehr hatte, den aber der Direktor nicht nur verstand sondern auch
sprach, was K. allerdings hätte voraussehn können, denn der Italiener stammte
aus Süditalien, wo auch der Direktor einige Jahre gewesen war. Jedenfalls
erkannte K. daß ihm die Möglichkeit sich mit dem Italiener zu verständigen, zum
größten Teil genommen war, denn auch dessen Französisch war nur schwer
verständlich, auch verdeckte der Bart die Lippenbewegungen, deren Anblick
vielleicht zum Verständnis geholfen hätte. K. begann viele Unannehmlichkeiten
vorauszusehn, vorläufig gab er es auf, den Italiener verstehen zu wollen – in
der Gegenwart des Direktors, der ihn so leicht verstand, wäre es unnötige
Anstrengung gewesen – und er beschränkte sich darauf, ihn verdrießlich zu
beobachten, wie er tief und doch leicht in dem Fauteuil ruhte, wie er öfters an
seinem kurzen, scharf geschnittenen Röckchen zupfte und wie er einmal mit
erhobenen Armen und lose in den Gelenken bewegten Händen irgendetwas
darzustellen versuchte das K. nicht begreifen konnte, trotzdem er vorgebeugt
die Hände nicht aus den Augen ließ. Schließlich machte sich bei K., der sonst
unbeschäftigt nur mechanisch mit den Blicken dem Hin und Her der Reden folgte,
die frühere Müdigkeit geltend und er ertappte sich einmal zu seinem Schrecken,
glücklicherweise noch rechtzeitig, darauf, daß er in der Zerstreutheit gerade
hatte aufstehen, sich umdrehn und weggehn wollen. Endlich sah der Italiener auf
die Uhr und sprang auf. Nachdem er sich vom Direktor verabschiedet hatte,
drängte er sich an K. undzwar so dicht, daß K. sein Fauteuil zurückschieben
mußte, um sich bewegen zu können. Der Direktor, der gewiß an K.’s Augen die Not
erkannte, in der er sich gegenüber diesem Italienisch befand, mischte sich in
das Gespräch undzwar so klug und so zart, daß es den Anschein hatte als füge er
nur kleine Ratschläge bei, während er in Wirklichkeit alles was der Italiener,
unermüdlich ihm in die Rede fallend vorbrachte, in aller Kürze K. verständlich
machte. K. erfuhr von ihm, daß der Italiener vorläufig noch einige Geschäfte zu
besorgen habe, daß er leider auch im Ganzen nur wenig Zeit haben werde, daß er
auch keinesfalls beabsichtige in Eile alle Sehenswürdigkeiten abzulaufen, daß
er sich vielmehr – allerdings nur wenn K. zustimme, bei ihm allein liege die
Entscheidung – entschlossen habe nur den Dom, diesen aber gründlich zu
besichtigen. Er freue sich ungemein diese Besichtigung in Begleitung eines so
gelehrten und liebenswürdigen Mannes – damit war K. gemeint, der mit nichts
anderem beschäftigt war, als den Italiener zu überhören und die Worte des
Direktors schnell aufzufassen – vornehmen zu können und er bitte ihn, wenn ihm
die Stunde gelegen sei, in zwei Stunden etwa um zehn Uhr sich im Dom
einzufinden. Er selbst hoffe um diese Zeit schon bestimmt dort sein zu können.
K. antwortete einiges Entsprechende, der Italiener drückte zuerst dem Direktor,
dann K., dann nochmals dem Direktor die Hand und gieng von beiden gefolgt, nur
noch halb ihnen zugewendet, im Reden aber noch immer nicht aussetzend, zur Tür.
K. blieb dann noch ein Weilchen mit dem Direktor beisammen, der heute besonders
leidend aussah. Er glaubte sich bei K. irgendwie entschuldigen zu müssen und
sagte – sie standen vertraulich nahe beisammen – zuerst hätte er beabsichtigt,
selbst mit dem Italiener zu gehn, dann aber – er gab keinen nähern Grund an –
habe er sich entschlossen, lieber K. zu schicken. Wenn er den Italiener nicht
gleich im Anfang verstehe, so müsse er sich dadurch nicht verblüffen lassen,
das Verständnis komme sehr rasch und wenn er auch viel überhaupt nicht
verstehen sollte, so sei es auch nicht so schlimm, denn für den Italiener sei
es nicht gar so wichtig verstanden zu werden. Übrigens sei K.’s Italienisch
überraschend gut und er werde sich gewiß ausgezeichnet mit der Sache abfinden.
Damit war K. verabschiedet. Die Zeit, die ihm noch freiblieb verbrachte er
damit seltene Vokabeln, die er zur Führung im Dom benötigte, aus dem Wörterbuch
herauszuschreiben. Es war eine äußerst lästige Arbeit, Diener brachten die
Post, Beamte kamen mit verschiedenen Anfragen und blieben, da sie K.
beschäftigt sahen, bei der Tür stehn, rührten sich aber nicht weg, bis sie K.
angehört hatte, der Direktor-Stellvertreter ließ es sich nicht entgehn K. zu
stören, kam öfters herein, nahm ihm das Wörterbuch aus der Hand und blätterte
offenbar ganz sinnlos darin, selbst Parteien tauchten wenn sich die Türe
öffnete im Halbdunkel des Vorzimmers auf und verbeugten sich zögernd, sie
wollten auf sich aufmerksam machen, waren aber dessen nicht sicher ob sie
gesehen wurden – das alles bewegte sich um K. als um seinen Mittelpunkt,
während er selbst die Wörter die er brauchte, zusammenstellte, dann im
Wörterbuch suchte, dann herausschrieb, dann sich in ihrer Aussprache übte und
schließlich auswendig zu lernen versuchte. Sein früheres gutes Gedächtnis
schien ihn aber ganz verlassen zu haben, manchmal wurde er auf den Italiener,
der ihm diese Anstrengung verursachte, so wütend, daß er das Wörterbuch unter
Papieren vergrub mit der festen Absicht sich nicht mehr vorzubereiten, dann
aber sah er ein, daß er doch nicht stumm mit dem Italiener vor den Kunstwerken
im Dom auf und abgehn könne und er zog mit noch größerer Wut das Wörterbuch wieder
hervor.
Gerade
um halb zehn als er weggehn wollte, erfolgte ein telephonischer Anruf, Leni
wünschte ihm guten Morgen und fragte nach seinem Befinden, K. dankte eilig und
bemerkte er könne sich jetzt unmöglich in ein Gespräch einlassen, denn er müsse
in den Dom. “In den Dom?” fragte Leni. “Nun ja, in den Dom.” “Warum denn in den
Dom?” fragte Leni. K. suchte es ihr in Kürze zu erklären, aber kaum hatte er
damit angefangen, sagte Leni plötzlich: “Sie hetzen Dich.” Bedauern, das er
nicht herausgefordert und nicht erwartet hatte, vertrug K. nicht, er
verabschiedete sich mit zwei Worten, sagte aber doch, während er den Hörer an
seinen Platz hängte, halb zu sich, halb zu dem fernen Mädchen, das er nicht
mehr hörte: “Ja, sie hetzen mich.”
Nun
war es aber schon spät, es bestand schon fast die Gefahr, daß er nicht
rechtzeitig ankam. Im Automobil fuhr er hin, im letzten Augenblick hatte er
sich noch an das Album erinnert, das er früh zu übergeben keine Gelegenheit
gefunden hatte und das er deshalb jetzt mitnahm. Er hielt es auf seinen Knien
und trommelte darauf unruhig während der ganzen Fahrt. Der Regen war schwächer
geworden, aber es war feucht, kühl und dunkel, man würde im Dom wenig sehn,
wohl aber würde sich dort infolge des langen Stehns auf den kalten Fliesen K.’s
Verkühlung sehr verschlimmern.
Der
Domplatz war ganz leer, K. erinnerte sich, daß es ihm schon als kleinem Kind
aufgefallen war, daß in den Häusern dieses engen Platzes immer fast alle
Fenstervorhänge herabgelassen waren. Bei dem heutigen Wetter war es allerdings
verständlicher als sonst. Auch im Dom schien es leer zu sein, es fiel natürlich
niemandem ein, jetzt hierherzukommen. K. durchlief beide Seitenschiffe, er traf
nur ein altes Weib, das eingehüllt in ein warmes Tuch vor einem Marienbild
kniete und es anblickte. Von weitem sah er dann noch einen hinkenden Diener in
einer Mauertür verschwinden. K. war pünktlich gekommen, gerade bei seinem
Eintritt hatte es elf geschlagen, der Italiener war aber noch nicht hier. K.
gieng zum Haupteingang zurück, stand dort eine Zeitlang unentschlossen und
machte dann im Regen einen Rundgang um den Dom, um nachzusehn, ob der Italiener
nicht vielleicht bei irgendeinem Seiteneingang warte. Er war nirgends zu
finden. Sollte der Direktor etwa die Zeitangabe mißverstanden haben? Wie konnte
man auch diesen Menschen richtig verstehn. Wie es aber auch sein mochte,
jedenfalls mußte K. zumindest eine halbe Stunde auf ihn warten. Da er müde war,
wollte er sich setzen, er gieng wieder in den Dom, fand auf einer Stufe einen
kleinen teppichartigen Fetzen, zog ihn mit der Fußspitze vor eine nahe Bank,
wickelte sich fester in seinen Mantel, schlug den Kragen in die Höhe und setzte
sich. Um sich zu zerstreuen schlug er das Album auf, blätterte darin ein wenig,
mußte aber bald aufhören, denn es wurde so dunkel, daß er, als er aufblickte,
in dem nahen Seitenschiff kaum eine Einzelheit unterscheiden konnte.
In
der Ferne funkelte auf dem Hauptaltar ein großes Dreieck von Kerzenlichtern, K.
hätte nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob er sie schon früher gesehen
hatte. Vielleicht waren sie erst jetzt angezündet worden. Die Kirchendiener
sind berufsmäßige Schleicher, man bemerkt sie nicht. Als sich K. zufällig
umdrehte, sah er nicht weit hinter sich eine hohe starke an einer Säule
befestigte Kerze gleichfalls brennen. So schön das war, zur Beleuchtung der
Altarbilder, die meistens in der Finsternis der Seitenaltäre hiengen, war das
gänzlich unzureichend, es vermehrte vielmehr die Finsternis. Es war vom
Italiener ebenso vernünftig als unhöflich gehandelt, daß er nicht gekommen war,
es wäre nichts zu sehn gewesen, man hätte sich damit begnügen müssen mit K.’s
elektrischer Taschenlampe einige Bilder zollweise abzusuchen. Um zu versuchen,
was man davon erwarten könnte, gieng K. zu einer nahen kleinen Seitenkapelle,
stieg paar Stufen bis zu einer niedrigen Marmorbrüstung und über sie vorgebeugt
beleuchtete er mit der Lampe das Altarbild. Störend schwebte das ewige Licht
davor. Das erste was K. sah und zum Teil erriet, war ein großer gepanzerter Ritter,
der am äußersten Rande des Bildes dargestellt war. Er stützte sich auf sein
Schwert, das er in den kahlen Boden vor sich – nur einige Grashalme kamen hie
und da hervor – gestoßen hatte. Er schien aufmerksam einen Vorgang zu
beobachten, der sich vor ihm abspielte. Es war erstaunlich, daß er so stehen
blieb und sich nicht näherte. Vielleicht war er dazu bestimmt, Wache zu stehn.
K., der schon lange keine Bilder gesehen hatte, betrachtete den Ritter längere
Zeit, trotzdem er immerfort mit den Augen zwinkern mußte, da er das grüne Licht
der Lampe nicht vertrug. Als er dann das Licht über den übrigen Teil des Bildes
streichen ließ, fand er eine Grablegung Christi in gewöhnlicher Auffassung, es
war übrigens ein neueres Bild. Er steckte die Lampe ein und kehrte wieder zu
seinem Platz zurück.
Es
war nun schon wahrscheinlich unnötig auf den Italiener zu warten, draußen war
aber gewiß strömender Regen und da es hier nicht so kalt war, wie K. erwartet
hatte, beschloß er vorläufig hier zu bleiben. In seiner Nachbarschaft war die
große Kanzel, auf ihrem kleinen runden Dach waren halb liegend zwei leere
goldene Kreuze angebracht, die sich mit ihrer äußersten Spitze überquerten. Die
Außenwand der Brüstung und ihr Übergang zur tragenden Säule war von grünem
Laubwerk gebildet in das kleine Engel griffen, bald lebhaft bald ruhend. K.
trat vor die Kanzel und untersuchte sie von allen Seiten, die Bearbeitung des
Steines war überaus sorgfältig, das tiefe Dunkel zwischen dem Laubwerk und
hinter ihm schien wie eingefangen und festgehalten, K. legte seine Hand in eine
solche Lücke und tastete dann den Stein vorsichtig ab, von dem Dasein dieser
Kanzel hatte er bisher gar nicht gewußt. Da bemerkte er zufällig hinter der
nächsten Bankreihe einen Kirchendiener, der dort in einem hängenden faltigen
schwarzen Rock stand, in der linken Hand eine Schnupftabakdose hielt und ihn
betrachtete. “Was will denn der Mann?” dachte K. “Bin ich ihm verdächtig Will
er ein Trinkgeld?” Als sich aber nun der Kirchendiener von K. bemerkt sah,
zeigte er mit der Rechten, zwischen zwei Fingern hielt er noch eine Prise
Tabak, in irgendeiner unbestimmten Richtung. Sein Benehmen war fast
unverständlich, K. wartete noch ein Weilchen, aber der Kirchendiener hörte
nicht auf mit der Hand etwas zu zeigen und bekräftigte es noch durch
Kopfnicken. “Was will er denn?” fragte K. leise, er wagte es nicht hier zu
rufen; dann aber zog er die Geldtasche und drängte sich durch die nächste Bank,
um zu dem Mann zu kommen. Doch dieser machte sofort eine abwehrende Bewegung
mit der Hand, zuckte die Schultern und hinkte davon. Mit einer ähnlichen
Gangart wie es dieses eilige Hinken war, hatte K. als Kind das Reiten auf
Pferden nachzuahmen versucht. “Ein kindischer Alter,” dachte K., “sein Verstand
reicht nur noch zum Kirchendienst aus. Wie er stehn bleibt wenn ich stehe und
wie er lauert, ob ich weitergehen will.” Lächelnd folgte K. dem Alten durch das
ganze Seitenschiff fast bis zur Höhe des Hauptaltars, der Alte hörte nicht auf,
etwas zu zeigen, aber K. drehte sich absichtlich nicht um, das Zeigen hatte
keinen andern Zweck als ihn von der Spur des Alten abzubringen. Schließlich
ließ er wirklich von ihm, er wollte ihn nicht zu sehr ängstigen, auch wollte er
die Erscheinung, für den Fall, daß der Italiener doch noch kommen sollte, nicht
ganz verscheuchen.
Als
er in das Hauptschiff trat, um seinen Platz zu suchen, auf dem er das Album
liegengelassen hatte, bemerkte er an einer Säule fast angrenzend an die Bänke
des Altarchors eine kleine Nebenkanzel, ganz einfach aus kahlem bleichem Stein.
Sie war so klein, daß sie aus der Ferne wie eine noch leere Nische erschien,
die für die Aufnahme einer Statue bestimmt war. Der Prediger konnte gewiß
keinen vollen Schritt von der Brüstung zurücktreten. Außerdem begann die
steinerne Einwölbung der Kanzel ungewöhnlich tief und stieg zwar ohne jeden
Schmuck aber derartig geschweift in die Höhe, daß ein mittelgroßer Mann dort
nicht aufrecht stehn konnte, sondern sich dauernd über die Brüstung vorbeugen
mußte. Das Ganze war wie zur Qual des Predigers bestimmt, es war unverständlich
wozu man diese Kanzel benötigte, da man doch die andere große und so kunstvoll
geschmückte zur Verfügung hatte.
K.
wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefallen, wenn nicht oben eine
Lampe befestigt gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer Predigt
bereitzustellen pflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In der
leeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an die Säule sich anschmiegend
zur Kanzel führte und so schmal war, als solle sie nicht für Menschen, sondern
nur zum Schmuck der Säule dienen. Aber unten an der Kanzel, K. lächelte vor
Staunen, stand wirklich der Geistliche, hielt die Hand am Geländer, bereit
aufzusteigen und sah auf K. hin. Dann nickte er ganz leicht mit dem Kopf,
worauf K. sich bekreuzigte und verbeugte, was er schon früher hätte tun sollen.
Der Geistliche gab sich einen kleinen Aufschwung und stieg mit kurzen,
schnellen Schritten die Kanzel hinauf. Sollte wirklich eine Predigt beginnen?
War vielleicht der Kirchendiener doch nicht so ganz vom Verstand verlassen und
hatte K. dem Prediger zutreiben wollen, was allerdings in der leeren Kirche
äußerst notwendig gewesen war. Übrigens gab es ja noch irgendwo vor einem
Marienbild ein altes Weib, das auch hätte kommen sollen. Und wenn es schon eine
Predigt sein sollte, warum wurde sie nicht von der Orgel eingeleitet. Aber die
blieb still und blinkte nur schwach aus der Finsternis ihrer großen Höhe.
K.
dachte daran, ob er sich jetzt nicht eiligst entfernen sollte, wenn er es jetzt
nicht tat, war keine Aussicht, daß er es während der Predigt tun könnte, er
mußte dann bleiben, solange sie dauerte, im Bureau verlor er so viel Zeit, auf
den Italiener zu warten war er längst nicht mehr verpflichtet, er sah auf seine
Uhr, es war elf. Aber konnte denn wirklich gepredigt werden? Konnte K. allein
die Gemeinde darstellend Wie, wenn er ein Fremder gewesen wäre, der nur die
Kirche besichtigen wollte? Im Grunde war er auch nichts anderes. Es war
unsinnig daran zu denken daß gepredigt werden sollte, jetzt um elf Uhr, an einem
Werketag bei graulichstem Wetter. Der Geistliche – ein Geistlicher war es
zweifellos, ein junger Mann mit glattem dunklem Gesicht – gieng offenbar nur
hinauf um die Lampe zu löschen, die irrtümlich angezündet worden war.
Es
war aber nicht so, der Geistliche prüfte vielmehr das Licht und schraubte es
noch ein wenig auf, dann drehte er sich langsam der Brüstung zu, die er vorn an
der kantigen Einfassung mit beiden Händen erfaßte. So stand er eine Zeitlang
und blickte ohne den Kopf zu rühren umher. K. war ein großes Stück
zurückgewichen und lehnte mit den Elbogen an der vordersten Kirchenbank. Mit
unsichern Augen sah er irgendwo, ohne den Ort genau zu bestimmen, den
Kirchendiener mit krummem Rücken friedlich wie nach beendeter Aufgabe sich
zusammenkauern. Was für eine Stille herrschte jetzt im Dom! Aber K. mußte sie
stören, er hatte nicht die Absicht hierzubleiben; wenn es die Pflicht des
Geistlichen war zu einer bestimmten Stunde ohne Rücksicht auf die Umstände zu
predigen, so mochte er es tun, es würde auch ohne K.’s Beistand gelingen,
ebenso wie die Anwesenheit K.’s die Wirkung gewiß nicht steigern würde. Langsam
setzte sich also K. in Gang, tastete sich auf den Fußspitzen an der Bank hin,
kam dann in den breiten Hauptweg und gieng auch dort ganz ungestört, nur daß
der steinerne Boden unter dem leisesten Schritt erklang und die Wölbungen
schwach aber ununterbrochen, in vielfachem gesetzmäßigem Fortschreiten davon
widerhallten. K. fühlte sich ein wenig verlassen, als er dort vom Geistlichen
vielleicht beobachtet zwischen den leeren Bänken allein hindurchgieng, auch
schien ihm die Größe des Doms gerade an der Grenze des für Menschen noch
Erträglichen zu liegen. Als er zu seinem frühern Platz kam, haschte er förmlich
ohne weitern Aufenthalt nach dem dort liegen gelassenen Album und nahm es an
sich. Fast hatte er schon das Gebiet der Bänke verlassen und näherte sich dem
freien Raum, der zwischen ihnen und dem Ausgang lag, als er zum ersten Mal die
Stimme des Geistlichen hörte. Eine mächtige geübte Stimme. Wie durchdrang sie
den zu ihrer Aufnahme bereiten Dom! Es war aber nicht die Gemeinde, die der
Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und es gab keine Ausflüchte, er rief:
“Josef K.!”
K.
stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er konnte
noch weitergehn und durch eine der drei kleinen dunklen Holztüren, die nicht
weit vor ihm waren, sich davon machen. Es würde eben bedeuten, daß er nicht
verstanden hatte oder daß er zwar verstanden hatte, sich aber darum nicht
kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten, denn dann
hatte er das Geständnis gemacht, daß er gut verstanden hatte, daß er wirklich
der Angerufene war und daß er auch folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals
gerufen, wäre K. gewiß fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch
wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehn, was der
Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber
deutlich zu sehn, daß er K.’s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches
Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig umgedreht hätte.
Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des Fingers näher gerufen.
Da jetzt alles offen geschehen konnte, lief er – er tat es auch aus Neugierde
und um die Angelegenheit abzukürzen – mit langen fliegenden Schritten der
Kanzel entgegen. Bei den ersten Bänken machte er halt, aber dem Geistlichen
schien die Entfernung noch zu groß, er streckte die Hand aus und zeigte mit dem
scharf gesenkten Zeigefinger auf eine Stelle knapp vor der Kanzel. K. folgte
auch darin, er mußte auf diesem Platz den Kopf schon weit zurückbeugen um den
Geistlichen noch zu sehn. “Du bist Josef K.,” sagte der Geistliche und erhob
eine Hand auf der Brüstung in einer unbestimmten Bewegung. “Ja,” sagte K., er
dachte daran wie offen er früher immer seinen Namen genannt hatte, seit einiger
Zeit war er ihm eine Last, auch kannten jetzt seinen Namen Leute, mit denen er
zum ersten Mal zusammenkam, wie schön war es sich zuerst vorzustellen und dann
erst gekannt zu werden. “Du bist angeklagt,” sagte der Geistliche besonders
leise. “Ja,” sagte K., “man hat mich davon verständigt.” “Dann bist Du der, den
ich suche,” sagte der Geistliche. “Ich bin der Gefängniskaplan.” “Ach so,”
sagte K. “Ich habe Dich hierherrufen lassen,” sagte der Geistliche, “um mit Dir
zu sprechen.” “Ich wußte es nicht,” sagte K. “Ich bin hierhergekommen, um einem
Italiener den Dom zu zeigen.” “Laß das Nebensächliche,” sagte der Geistliche.
“Was hältst Du in der Hand? Ist es ein Gebetbuch?” “Nein,” antwortete K., “es
ist ein Album der städtischen Sehenswürdigkeiten.” “Leg es aus der Hand,” sagte
der Geistliche. K. warf es so heftig weg, daß es aufklappte und mit zerdrückten
Blättern ein Stück über den Boden schleifte. “Weißt Du, daß Dein Proceß
schlecht steht?” fragte der Geistliche. “Es scheint mir auch so,” sagte K. “Ich
habe mir alle Mühe gegeben, bisher aber ohne Erfolg. Allerdings habe ich die
Eingabe noch nicht fertig.” “Wie stellst Du Dir das Ende vor,” fragte der
Geistliche. “Früher dachte ich es müsse gut enden,” sagte K., “jetzt zweifle
ich daran manchmal selbst. Ich weiß nicht, wie es enden wird. Weißt Du es?”
“Nein,” sagte der Geistliche, “aber ich fürchte es wird schlecht enden. Man
hält Dich für schuldig. Dein Proceß wird vielleicht über ein niedriges Gericht
gar nicht hinauskommen. Man hält wenigstens vorläufig Deine Schuld für
erwiesen.” “Ich bin aber nicht schuldig,” sagte K. “Es ist ein Irrtum. Wie kann
denn ein Mensch überhaupt schuldig sein. Wir sind hier doch alle Menschen,
einer wie der andere.” “Das ist richtig,” sagte der Geistliche, “aber so
pflegen die Schuldigen zu reden.” “Hast auch Du ein Vorurteil gegen mich?”
fragte K. “Ich habe kein Vorurteil gegen Dich,” sagte der Geistliche. “Ich
danke Dir,” sagte K. “Alle andern aber, die an dem Verfahren beteiligt sind
haben ein Vorurteil gegen mich. Sie flößen es auch den Unbeteiligten ein. Meine
Stellung wird immer schwieriger.” “Du mißverstehst die Tatsachen,” sagte der
Geistliche. “Das Urteil kommt nicht mit einemmal, das Verfahren geht allmählich
ins Urteil über.” “So ist es also,” sagte K. und senkte den Kopf. “Was willst
Du nächstens in Deiner Sache tun?” fragte der Geistliche. “Ich will noch Hilfe
suchen,” sagte K. und hob den Kopf um zu sehn wie der Geistliche es beurteile.
“Es gibt noch gewisse Möglichkeiten, die ich nicht ausgenützt habe.” “Du suchst
zuviel fremde Hilfe,” sagte der Geistliche mißbilligend, “und besonders bei
Frauen. Merkst Du denn nicht, daß es nicht die wahre Hilfe ist.” “Manchmal und
sogar oft könnte ich Dir recht geben,” sagte K., “aber nicht immer. Die Frauen
haben eine große Macht. Wenn ich einige Frauen, die ich kenne, dazu bewegen
könnte, gemeinschaftlich für mich zu arbeiten, müßte ich durchdringen.
Besonders bei diesem Gericht, das fast nur aus Frauenjägern besteht. Zeig dem
Untersuchungsrichter eine Frau aus der Ferne und er überrennt um nur
rechtzeitig hinzukommen, den Gerichtstisch und den Angeklagten.” Der Geistliche
neigte den Kopf zur Brüstung, jetzt erst schien die Überdachung der Kanzel ihn
niederzudrücken. Was für ein Unwetter mochte draußen sein? Das war kein trüber
Tag mehr, das war schon tiefe Nacht. Keine Glasmalerei der großen Fenster war
imstande, die dunkle Wand auch nur mit einem Schimmer zu unterbrechen. Und
gerade jetzt begann der Kirchendiener die Kerzen auf dem Hauptaltar eine nach
der andern auszulöschen. “Bist Du mir böse,” fragte K. den Geistlichen. “Du
weißt vielleicht nicht, was für einem Gericht Du dienst.” Er bekam keine
Antwort. “Es sind doch nur meine Erfahrungen,” sagte K. Oben blieb es noch
immer still. “Ich wollte Dich nicht beleidigen,” sagte K. Da schrie der
Geistliche zu K. hinunter: “Siehst Du denn nicht zwei Schritte weit?” Es war im
Zorn geschrien, aber gleichzeitig wie von einem, der jemanden fallen sieht und
weil er selbst erschrocken ist, unvorsichtig, ohne Willen schreit.
Nun
schwiegen beide lange. Gewiß konnte der Geistliche in dem Dunkel das unten
herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen im Licht der
kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht herunter? Eine
Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige Mitteilungen gemacht,
die ihm, wenn er sie genau beachten würde, wahrscheinlich mehr schaden als
nützen würden. Wohl aber schien K. die gute Absicht des Geistlichen zweifellos
zu sein, es war nicht unmöglich, daß er sich mit ihm, wenn er herunterkäme,
einigen würde, es war nicht unmöglich, daß er von ihm einen entscheidenden und
annehmbaren Rat bekäme, der ihm z. B. zeigen würde, nicht etwa wie der Proceß
zu beeinflussen war, sondern wie man aus dem Proceß ausbrechen, wie man ihn
umgehen, wie man außerhalb des Processes leben könnte. Diese Möglichkeit mußte
bestehn, K. hatte in der letzten Zeit öfters an sie gedacht. Wußte aber der
Geistliche eine solche Möglichkeit, würde er sie vielleicht, wenn man ihn darum
bat, verraten, trotzdem er selbst zum Gericht gehörte und trotzdem er, als K.
das Gericht angegriffen hatte, sein sanftes Wesen unterdrückt und K. sogar
angeschrien hatte.
“Willst
Du nicht hinunterkommen?” sagte K. “Es ist doch keine Predigt zu halten. Komm
zu mir hinunter.” “Jetzt kann ich schon kommen,” sagte der Geistliche, er
bereute vielleicht sein Schreien. Während er die Lampe von ihrem Haken löste,
sagte er: “Ich mußte zuerst aus der Entfernung mit Dir sprechen. Ich lasse mich
sonst zu leicht beeinflussen und vergesse meinen Dienst.”
K.
erwartete ihn unten an der Treppe. Der Geistliche streckte ihm schon von einer
obern Stufe im Hinuntergehn die Hand entgegen. “Hast Du ein wenig Zeit für mich?”
fragte K. “Soviel Zeit als Du brauchst,” sagte der Geistliche und reichte K.
die kleine Lampe damit er sie trage. Auch in der Nähe verlor sich eine gewisse
Feierlichkeit aus seinem Wesen nicht. “Du bist sehr freundlich zu mir,” sagte
K. Sie giengen nebeneinander im dunklen Seitenschiff auf und ab. “Du bist eine
Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören. Ich habe mehr Vertrauen zu Dir,
als zu irgendjemanden von ihnen, soviele ich schon kenne. Mit Dir kann ich
offen reden.” “Täusche Dich nicht,” sagte der Geistliche. “Worin sollte ich
mich denn täuschen?” fragte K. “In dem Gericht täuschst Du Dich,” sagte der
Geistliche, “in den einleitenden Schriften zum Gesetz heißt es von dieser
Täuschung: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann
vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er
ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann,
ob er also später werde eintreten dürfen. ‚Es ist möglich‘, sagt der Türhüter,
‚jetzt aber nicht.‘ Da das Tor zum Gesetz offensteht wie immer und der Türhüter
beiseite tritt, bückt sich der Mann, um durch das Tor in das Innere zu sehn.
Als der Türhüter das merkt, lacht er und sagt: ‚Wenn es Dich so lockt, versuche
es doch trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und
ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter einer
mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich
mehr ertragen.‘ Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet,
das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein denkt er, aber als er
jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase,
den langen dünnen schwarzen tartarischen Bart, entschließt er sich doch lieber
zu warten bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm
einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt
er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche eingelassen zu werden und ermüdet
den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit
ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber
teilnahmslose Fragen wie sie große Herren stellen und zum Schlusse sagt er ihm
immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. Der Mann, der sich für
seine Reise mit vielem ausgerüstet hat, verwendet alles und sei es noch so
wertvoll um den Türhüter zu bestechen. Dieser nimmt zwar alles an, aber sagt
dabei: ‚Ich nehme es nur an, damit Du nicht glaubst, etwas versäumt zu haben.‘
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann den Türhüter fast ununterbrochen.
Er vergißt die andern Türhüter und dieser erste scheint ihm das einzige
Hindernis für den Eintritt in das Gesetz. Er verflucht den unglücklichen
Zufall, in den ersten Jahren laut, später als er alt wird brummt er nur noch
vor sich hin. Er wird kindisch und da er in dem jahrelangen Studium des
Türhüters auch die Flöhe in seinem Pelzkragen erkannt hat, bittet er auch die
Flöhe ihm zu helfen und den Türhüter umzustimmen. Schließlich wird sein
Augenlicht schwach und er weiß nicht ob es um ihn wirklich dunkler wird oder ob
ihn nur seine Augen täuschen. Wohl aber erkennt er jetzt im Dunkel einen Glanz,
der unverlöschlich aus der Türe des Gesetzes bricht. Nun lebt er nicht mehr lange.
Vor seinem Tode sammeln sich in seinem Kopfe alle Erfahrungen der ganzen Zeit
zu einer Frage die er bisher an den Türhüter noch nicht gestellt hat. Er winkt
ihm zu, da er seinen erstarrenden Körper nicht mehr aufrichten kann. Der
Türhüter muß sich tief zu ihm hinunterneigen, denn die Größenunterschiede haben
sich sehr zuungunsten des Mannes verändert. ‚Was willst Du denn jetzt noch
wissen,‘ fragt der Türhüter, ‚Du bist unersättlich.‘ ‚Alle streben doch nach
dem Gesetz,‘ sagt der Mann, ‚wie so kommt es, daß in den vielen Jahren niemand
außer mir Einlaß verlangt hat.‘ Der Türhüter erkennt, daß der Mann schon am
Ende ist und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen brüllt er ihn an:
‚Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für
Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‘”
“Der
Türhüter hat also den Mann getäuscht,” sagte K. sofort, von der Geschichte sehr
stark angezogen. “Sei nicht übereilt,” sagte der Geistliche, “übernimm nicht
die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe Dir die Geschichte im Wortlaut der
Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts.” “Es ist aber klar,” sagte
K., “und Deine erste Deutung war ganz richtig. Der Türhüter hat die erlösende
Mitteilung erst dann gemacht, als sie dem Manne nichts mehr helfen konnte.” “Er
wurde nicht früher gefragt,” sagte der Geistliche, “bedenke auch daß er nur
Türhüter war und als solcher hat er seine Pflicht erfüllt.” “Warum glaubst Du
daß er seine Pflicht erfüllt hat?” fragte K., “er hat sie nicht erfüllt. Seine
Pflicht war es vielleicht alle Fremden abzuwehren, diesen Mann aber, für den
der Eingang bestimmt war, hätte er einlassen müssen.” “Du hast nicht genug
Achtung vor der Schrift und veränderst die Geschichte,” sagte der Geistliche.
“Die Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen
des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: ‚daß er
ihm jetzt den Eintritt nicht gewähren könne‘ und die andere: ‚dieser Eingang
war nur für Dich bestimmt‘. Bestände zwischen diesen Erklärungen ein
Widerspruch dann hättest Du recht und der Türhüter hätte den Mann getäuscht.
Nun besteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil die erste Erklärung deutet
sogar auf die zweite hin. Man könnte fast sagen der Türhüter gieng über seine
Pflicht hinaus, indem er dem Mann eine zukünftige Möglichkeit des Einlasses in
Aussicht stellte. Zu jener Zeit scheint es nur seine Pflicht gewesen zu sein,
den Mann abzuweisen. Und tatsächlich wundern sich viele Erklärer der Schrift
darüber, daß der Türhüter jene Andeutung überhaupt gemacht hat, denn er scheint
die Genauigkeit zu lieben und wacht streng über sein Amt. Durch viele Jahre
verläßt er seinen Posten nicht und schließt das Tor erst ganz zuletzt, er ist
sich der Wichtigkeit seines Dienstes sehr bewußt, denn er sagt ‚ich bin
mächtig‘, er hat Ehrfurcht vor den Vorgesetzten, denn er sagt ‚ich bin nur der
unterste Türhüter‘, er ist wo es um Pflichterfüllung geht weder zu rühren noch
zu erbittern, denn es heißt von dem Mann ‚er ermüdet den Türhüter durch seine
Bitten‘, er ist nicht geschwätzig, denn während der vielen Jahre stellt er nur
wie es heißt ‚teilnahmslose Fragen‘, er ist nicht bestechlich, denn er sagt
über ein Geschenk ‚ich nehme es nur an, damit Du nicht glaubst etwas versäumt
zu haben‘, schließlich deutet auch sein Äußeres auf einen pedantischen
Charakter hin, die große Spitznase und der lange dünne schwarze tartarische
Bart. Kann es einen pflichttreueren Türhüter geben? Nun mischen sich aber in
den Türhüter noch andere Wesenszüge ein, die für den, der Einlaß verlangt, sehr
günstig sind und welche es immerhin begreiflich machen, daß er in jener
Andeutung einer zukünftigen Möglichkeit über seine Pflicht etwas hinausgehn
konnte. Es ist nämlich nicht zu leugnen, daß er ein wenig einfältig und im
Zusammenhang damit ein wenig eingebildet ist. Wenn auch seine Äußerungen über
seine Macht und über die Macht der andern Türhüter und über deren sogar für ihn
unerträglichen Anblick – ich sage wenn auch alle diese Äußerungen an sich
richtig sein mögen, so zeigt doch die Art wie er diese Äußerungen vorbringt,
daß seine Auffassung durch Einfalt und Überhebung getrübt ist. Die Erklärer
sagen hiezu: Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehn der gleichen Sache
schließen einander nicht vollständig aus. Jedenfalls aber muß man annehmen, daß
jene Einfalt und Überhebung, so geringfügig sie sich vielleicht auch äußern,
doch die Bewachung des Einganges schwächen, es sind Lücken im Charakter des
Türhüters. Hiezu kommt noch daß der Türhüter seiner Naturanlage nach freundlich
zu sein scheint, er ist durchaus nicht immer Amtsperson. Gleich in den ersten
Augenblicken macht er den Spaß, daß er den Mann trotz des ausdrücklich aufrecht
erhaltenen Verbotes zum Eintritt einladet, dann schickt er ihn nicht etwa fort,
sondern gibt ihm wie es heißt einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür
sich niedersetzen. Die Geduld mit der er durch alle die Jahre die Bitten des
Mannes erträgt, die kleinen Verhöre, die Annahme der Geschenke, die
Vornehmheit, mit der er es zuläßt, daß der Mann neben ihm laut den
unglücklichen Zufall verflucht, der den Türhüter hier aufgestellt hat – alles
dieses läßt auf Regungen des Mitleids schließen. Nicht jeder Türhüter hätte so
gehandelt. Und schließlich beugt er sich noch auf einen Wink hin tief zu dem
Mann hinab, um ihm Gelegenheit zur letzten Frage zu geben. Nur eine schwache
Ungeduld – der Türhüter weiß ja daß alles zuende ist – spricht sich in den
Worten aus: ‚Du bist unersättlich‘. Manche gehn sogar in dieser Art der
Erklärung noch weiter und meinen, die Worte ‚Du bist unersättlich‘ drücken eine
Art freundschaftlicher Bewunderung aus, die allerdings von Herablassung nicht
frei ist. Jedenfalls schließt sich so die Gestalt des Türhüters anders ab, als
Du es glaubst.” “Du kennst die Geschichte genauer als ich und längere Zeit,”
sagte K. Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte K.: “Du glaubst also der Mann
wurde nicht getäuscht?” “Mißverstehe mich nicht,” sagte der Geistliche, “ich
zeige Dir nur die Meinungen, die darüber bestehn. Du mußt nicht zuviel auf
Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur
ein Ausdruck der Verzweiflung darüber. In diesem Falle gibt es sogar eine
Meinung nach welcher gerade der Türhüter der Getäuschte ist.” “Das ist eine
weitgehende Meinung,” sagte K. “Wie wird sie begründet?” “Die Begründung,”
antwortete der Geistliche, “geht von der Einfalt des Türhüters aus. Man sagt,
daß er das Innere des Gesetzes nicht kennt, sondern nur den Weg, den er vor dem
Eingang immer wieder abgehn muß. Die Vorstellungen die er von dem Innern hat
werden für kindlich gehalten und man nimmt an, daß er das wovor er dem Manne
Furcht machen will, selbst fürchtet. Ja er fürchtet es mehr als der Mann, denn
dieser will ja nichts anderes als eintreten, selbst als er von den
schrecklichen Türhütern des Innern gehört hat, der Türhüter dagegen will nicht
eintreten, wenigstens erfährt man nichts darüber. Andere sagen zwar, daß er
bereits im Innern gewesen sein muß, denn er ist doch einmal in den Dienst des
Gesetzes aufgenommen worden und das könne nur im Innern geschehen sein. Darauf
ist zu antworten, daß er wohl auch durch einen Ruf aus dem Innern zum Türhüter
bestellt worden sein könne und daß er zumindest tief im Innern nicht gewesen
sein dürfte, da er doch schon den Anblick des dritten Türhüters nicht mehr
ertragen kann. Außerdem aber wird auch nicht berichtet, daß er während der
vielen Jahre außer der Bemerkung über die Türhüter irgendetwas von dem Innern
erzählt hätte. Es könnte ihm verboten sein, aber auch vom Verbot hat er nichts
erzählt. Aus alledem schließt man, daß er über das Aussehn und die Bedeutung
des Innern nichts weiß und sich darüber in Täuschung befindet. Aber auch über
den Mann vom Lande soll er sich in Täuschung befinden, denn er ist diesem Mann
untergeordnet und weiß es nicht. Daß er den Mann als einen Untergeordneten
behandelt, erkennt man an vielem, das Dir noch erinnerlich sein dürfte. Daß er
ihm aber tatsächlich untergeordnet ist, soll nach dieser Meinung ebenso
deutlich hervorgehn. Vor allem ist der Freie dem Gebundenen übergeordnet. Nun
ist der Mann tatsächlich frei, er kann hingehn wohin er will, nur der Eingang
in das Gesetz ist ihm verboten und überdies nur von einem Einzelnen, vom
Türhüter. Wenn er sich auf den Schemel seitwärts vom Tor niedersetzt und dort
sein Leben lang bleibt, so geschieht dies freiwillig, die Geschichte erzählt
von keinem Zwang. Der Türhüter dagegen ist durch sein Amt an seinen Posten
gebunden, er darf sich nicht auswärts entfernen, allem Anschein nach aber auch
nicht in das Innere gehn, selbst wenn er es wollte. Außerdem ist er zwar im
Dienst des Gesetzes, dient aber nur für diesen Eingang, also auch nur für
diesen Mann für den dieser Eingang allein bestimmt ist. Auch aus diesem Grunde
ist er ihm untergeordnet. Es ist anzunehmen, daß er durch viele Jahre, durch
ein ganzes Mannesalter gewissermaßen nur leeren Dienst geleistet hat, denn es
wird gesagt, daß ein Mann kommt, also jemand im Mannesalter, daß also der
Türhüter lange warten mußte ehe sich sein Zweck erfüllte undzwar solange warten
mußte, als es dem Mann beliebte, der doch freiwillig kam. Aber auch das Ende
des Dienstes wird durch das Lebensende des Mannes bestimmt, bis zum Ende also
bleibt er ihm untergeordnet. Und immer wieder wird betont, daß von alledem der
Türhüter nichts zu wissen scheint. Daran wird aber nichts auffälliges gesehn,
denn nach dieser Meinung befindet sich der Türhüter noch in einer viel
schwerern Täuschung, sie betrifft seinen Dienst. Zuletzt spricht er nämlich vom
Eingang und sagt ‚Ich gehe jetzt und schließe ihn‘, aber am Anfang heißt es,
daß das Tor zum Gesetz offensteht wie immer, steht es aber immer offen, immer
d. h. unabhängig von der Lebensdauer des Mannes für den es bestimmt ist, dann
wird es auch der Türhüter nicht schließen können. Darüber gehn die Meinungen auseinander,
ob der Türhüter mit der Ankündigung daß er das Tor schließen wird, nur eine
Antwort geben oder seine Dienstpflicht betonen oder den Mann noch im letzten
Augenblick in Reue und Trauer setzen will. Darin aber sind viele einig, daß er
das Tor nicht wird schließen können. Sie glauben sogar, daß er wenigstens am
Ende auch in seinem Wissen dem Manne untergeordnet ist, denn dieser sieht den
Glanz der aus dem Eingang des Gesetzes bricht, während der Türhüter als solcher
wohl mit dem Rücken zum Eingang steht und auch durch keine Äußerung zeigt, daß
er eine Veränderung bemerkt hätte.” “Das ist gut begründet,” sagte K., der
einzelne Stellen aus der Erklärung des Geistlichen halblaut für sich wiederholt
hatte. “Es ist gut begründet und ich glaube nun auch daß der Türhüter getäuscht
ist. Dadurch bin ich aber von meiner frühern Meinung nicht abgekommen, denn
beide decken sich teilweise. Es ist unentscheidend, ob der Türhüter klar sieht
oder getäuscht wird. Ich sagte, der Mann wird getäuscht. Wenn der Türhüter klar
sieht, könnte man daran zweifeln, wenn der Türhüter aber getäuscht ist, dann
muß sich seine Täuschung notwendig auf den Mann übertragen. Der Türhüter ist
dann zwar kein Betrüger, aber so einfältig, daß er sofort aus dem Dienst gejagt
werden müßte. Du mußt doch bedenken, daß die Täuschung in der sich der Türhüter
befindet ihm nichts schadet, dem Mann aber tausendfach.” “Hier stößt Du auf
eine Gegenmeinung,” sagte der Geistliche. “Manche sagen nämlich, daß die
Geschichte niemandem ein Recht gibt über den Türhüter zu urteilen. Wie er uns
auch erscheinen mag, so ist er doch ein Diener des Gesetzes, also zum Gesetz
gehörig, also dem menschlichen Urteil entrückt. Man darf dann auch nicht
glauben, daß der Türhüter dem Manne untergeordnet ist. Durch seinen Dienst auch
nur an den Eingang des Gesetzes gebunden zu sein ist unvergleichlich mehr als
frei in der Welt zu leben. Der Mann kommt erst zum Gesetz, der Türhüter ist
schon dort. Er ist vom Gesetz zum Dienst bestellt, an seiner Würdigkeit zu
zweifeln, hieße am Gesetze zweifeln.” “Mit dieser Meinung stimme ich nicht
überein,” sagte K. kopfschüttelnd, “denn wenn man sich ihr anschließt, muß man
alles was der Türhüter sagt für wahr halten. Daß das aber nicht möglich ist,
hast Du ja selbst ausführlich begründet.” “Nein,” sagte der Geistliche, “man
muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.”
“Trübselige Meinung,” sagte K. “Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.”
K.
sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um
alle Folgerungen der Geschichte übersehn zu können, es waren auch ungewohnte
Gedankengänge in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur
Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache
Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie von sich abschütteln und der
Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.’s
Bemerkung schweigend auf, trotzdem sie mit seiner eigenen Meinung gewiß nicht
übereinstimmte.
Sie
giengen eine Zeitlang schweigend weiter, K. hielt sich eng neben dem
Geistlichen ohne in der Finsternis zu wissen, wo er sich befand. Die Lampe in
seiner Hand war längst erloschen. Einmal blinkte gerade vor ihm das silberne
Standbild eines Heiligen nur mit dem Schein des Silbers und spielte gleich
wieder ins Dunkel über. Um nicht vollständig auf den Geistlichen angewiesen zu
bleiben, fragte ihn K.: “Sind wir jetzt nicht in der Nähe des Haupteinganges?”
“Nein,” sagte der Geistliche, “wir sind weit von ihm entfernt. Willst Du schon
fortgeht” Trotzdem K. gerade jetzt nicht daran gedacht hatte, sagte er sofort:
“Gewiß, ich muß fortgehn. Ich bin Prokurist einer Bank, man wartet auf mich,
ich bin nur hergekommen, um einem ausländischen Geschäftsfreund den Dom zu
zeigen.” “Nun,” sagte der Geistliche und reichte K. die Hand, “dann geh.” “Ich
kann mich aber im Dunkel allein nicht zurechtfinden,” sagte K. “Geh links zur
Wand,” sagte der Geistliche, “dann weiter die Wand entlang ohne sie zu
verlassen und Du wirst einen Ausgang finden.” Der Geistliche hatte sich erst
paar Schritte entfernt aber K. rief schon sehr laut: “Bitte, warte noch.” “Ich
warte,” sagte der Geistliche. “Willst Du nicht noch etwas von mir?” fragte K.
“Nein,” sagte der Geistliche. “Du warst früher so freundlich zu mir,” sagte K.,
“und hast mir alles erklärt, jetzt aber entläßt Du mich, als läge Dir nichts an
mir.” “Du mußt doch fortgehn,” sagte der Geistliche. “Nun ja,” sagte K., “sieh
das doch ein.” “Sieh Du zuerst ein, wer ich bin,” sagte der Geistliche. “Du
bist der Gefängniskaplan,” sagte K. und gieng näher zum Geistlichen hin, seine
sofortige Rückkehr in die Bank war nicht so notwendig wie er sie dargestellt
hatte, er konnte recht gut noch hier bleiben. “Ich gehöre also zum Gericht,”
sagte der Geistliche. “Warum sollte ich also etwas von Dir wollen. Das Gericht
will nichts von Dir. Es nimmt Dich auf wenn Du kommst und es entläßt Dich wenn
Du gehst.”
Ende
Am
Vorabend seines einunddreißigsten Geburtstages – es war gegen neun Uhr abends,
die Zeit der Stille auf den Straßen – kamen zwei Herren in K.’s Wohnung. In
Gehröcken, bleich und fett, mit scheinbar unverrückbaren Cylinderhüten. Nach
einer kleinen Förmlichkeit bei der Wohnungstür wegen des ersten Eintretens
wiederholte sich die gleiche Förmlichkeit in größerem Umfange vor K.’s Tür.
Ohne daß ihm der Besuch angekündigt gewesen wäre, saß K. gleichfalls schwarz
angezogen in einem Sessel in der Nähe der Türe und zog langsam neue scharf sich
über die Finger spannende Handschuhe an, in der Haltung wie man Gäste erwartet.
Er stand gleich auf und sah die Herren neugierig an. “Sie sind also für mich
bestimmt?” fragte er. Die Herren nickten, einer zeigte mit dem Cylinderhut in
der Hand auf den andern. K. gestand sich ein, daß er einen andern Besuch
erwartet hatte. Er gieng zum Fenster und sah noch einmal auf die dunkle Straße.
Auch fast alle Fenster auf der andern Straßenseite waren noch dunkel, in vielen
die Vorhänge herabgelassen. In einem beleuchteten Fenster des Stockwerkes
spielten zwei kleine Kinder hinter einem Gitter mit einander und tasteten, noch
unfähig sich von ihren Plätzen fortzubewegen, mit den Händchen nach einander.
“Alte untergeordnete Schauspieler schickt man um mich,” sagte sich K. und sah
sich um, um sich nochmals davon zu überzeugen. “Man sucht auf billige Weise mit
mir fertig zu werden.” K. wendete sich plötzlich ihnen zu und fragte: “An
welchem Teater spielen Sie.” “Teater?” fragte der eine Herr mit zuckenden
Mundwinkeln den andern um Rat. Der andere geberdete sich wie ein Stummer, der
mit dem widerspenstigen Organismus kämpft. “Sie sind nicht darauf vorbereitet,
gefragt zu werden,” sagte sich K. und gieng seinen Hut holen.
Schon
auf der Treppe wollten sich die Herren in K. einhängen, aber K. sagte: “Erst auf
der Gasse, ich bin nicht krank.” Gleich aber vor dem Tor hängten sie sich in
ihn in einer Weise ein, wie K. noch niemals mit einem Menschen gegangen war.
Sie hielten die Schultern eng hinter den seinen, knickten die Arme nicht ein,
sondern benützten sie, um K.’s Arme in ihrer ganzen Länge zu umschlingen, unten
erfaßten sie K.’s Hände mit einem schulmäßigen, eingeübten, unwiderstehlichen
Griff. K. gieng straff gestreckt zwischen ihnen, sie bildeten jetzt alle drei
eine solche Einheit, daß wenn man einen von ihnen zerschlagen hätte, alle
zerschlagen gewesen wären. Es war eine Einheit, wie sie fast nur Lebloses
bilden kann.
Unter
den Laternen versuchte K. öfters, so schwer es bei diesem engen Aneinander
ausgeführt werden konnte, seine Begleiter deutlicher zu sehn, als es in der
Dämmerung seines Zimmers möglich gewesen war. Vielleicht sind es Tenöre dachte
er im Anblick ihres schweren Doppelkinns. Er ekelte sich vor der Reinlichkeit
ihrer Gesichter. Man sah förmlich noch die säubernde Hand, die in ihre Augenwinkel
gefahren, die ihre Oberlippe gerieben, die die Falten am Kinn ausgekratzt
hatte.
Als
K. das bemerkte blieb er stehn, infolgedessen blieben auch die andern stehn;
sie waren am Rand eines freien menschenleeren mit Anlagen geschmückten Platzes.
“Warum hat man gerade Sie geschickt!” rief er mehr als er fragte. Die Herren
wußten scheinbar keine Antwort, sie warteten mit dem hängenden freien Arm, wie
Krankenwärter, wenn der Kranke sich ausruhn will. “Ich gehe nicht weiter,”
sagte K. versuchsweise. Darauf brauchten die Herren nicht zu antworten, es
genügte daß sie den Griff nicht lockerten und K. von der Stelle wegzuheben
versuchten, aber K. widerstand. “Ich werde nicht mehr viel Kraft brauchen, ich
werde jetzt alle anwenden,” dachte er. Ihm fielen die Fliegen ein, die mit
zerreißenden Beinchen von der Leimrute wegstreben. “Die Herren werden schwere
Arbeit haben. “
Da
stieg vor ihnen aus einer tiefer gelegenen Gasse auf einer kleinen Treppe
Fräulein Bürstner zum Platz empor. Es war nicht ganz sicher, ob sie es war, die
Ähnlichkeit war freilich groß. Aber K. lag auch nichts daran, ob es bestimmt
Fräulein Bürstner war, bloß die Wertlosigkeit seines Widerstandes kam ihm
gleich zu Bewußtsein. Es war nichts Heldenhaftes wenn er widerstand, wenn er
jetzt den Herren Schwierigkeiten bereitete, wenn er jetzt in der Abwehr noch
den letzten Schein des Lebens zu genießen versuchte. Er setzte sich in Gang und
von der Freude, die er dadurch den Herren machte, gieng noch etwas auf ihn
selbst über. Sie duldeten es jetzt, daß er die Wegrichtung bestimmte und er
bestimmte sie nach dem Weg, den das Fräulein vor ihnen nahm, nicht etwa weil er
sie einholen, nicht etwa weil er sie möglichst lange sehen wollte, sondern nur
deshalb um die Mahnung, die sie für ihn bedeutete nicht zu vergessen. “Das
einzige was ich jetzt tun kann,” sagte er sich und das Gleichmaß seiner
Schritte und der Schritte der drei andern bestätigte seine Gedanken, “das
einzige was ich jetzt tun kann ist, bis zum Ende den ruhig einteilenden
Verstand behalten. Ich wollte immer mit zwanzig Händen in die Welt hineinfahren
und überdies zu einem nicht zu billigenden Zweck. Das war unrichtig, soll ich
nun zeigen, daß nicht einmal der einjährige Proceß mich belehren konnte? Soll
ich als ein begriffsstütziger Mensch abgehn? Soll man mir nachsagen dürfen, daß
ich am Anfang des Processes ihn beenden und jetzt an seinem Ende ihn wieder
beginnen will. Ich will nicht, daß man das sagt. Ich bin dankbar dafür, daß man
mir auf diesem Weg diese halbstummen verständnislosen Herren mitgegeben hat und
daß man es mir überlassen hat, mir selbst das Notwendige zu sagen.”
Das
Fräulein war inzwischen in eine Seitengasse eingebogen, aber K. konnte sie
schon entbehren und überließ sich seinen Begleitern. Alle drei zogen nun in
vollem Einverständnis über eine Brücke im Mondschein, jeder kleinen Bewegung,
die K. machte, gaben die Herren jetzt bereitwillig nach, als er ein wenig zum
Geländer sich wendete, drehten auch sie sich in ganzer Front dorthin. Das im
Mondlicht glänzende und zitternde Wasser teilte sich um eine kleine Insel, auf
der wie zusammengedrängt Laubmassen von Bäumen und Sträuchern sich aufhäuften.
Unter ihnen jetzt unsichtbar führten Kieswege mit bequemen Bänken, auf denen K.
in manchem Sommer sich gestreckt und gedehnt hatte. “Ich wollte ja gar nicht
stehn bleiben,” sagte er zu seinen Begleitern, beschämt durch ihre
Bereitwilligkeit. Der eine schien dem andern hinter K.’s Rücken einen sanften
Vorwurf wegen des mißverständlichen Stehenbleibens zu machen, dann giengen sie
weiter.
Sie
kamen durch einige ansteigende Gassen, in denen hie und da Polizisten standen
oder giengen, bald in der Ferne, bald in nächster Nähe. Einer mit buschigem
Schnurrbart, die Hand am Griff des Säbels trat wie mit Absicht nahe an die
nicht ganz unverdächtige Gruppe. Die Herren stockten, der Polizeimann schien
schon den Mund zu öffnen, da zog K. mit Macht die Herren vorwärts. Öfters
drehte er sich vorsichtig um, ob der Polizeimann nicht folge; als sie aber eine
Ecke zwischen sich und dem Polizeimann hatten fieng K. zu laufen an, die Herren
mußten trotz großer Atemnot auch mitlaufen.
So
kamen sie rasch aus der Stadt hinaus, die sich in dieser Richtung fast ohne
Übergang an die Felder anschloß. Ein kleiner Steinbruch, verlassen und öde, lag
in der Nähe eines noch ganz städtischen Hauses. Hier machten die Herren halt,
sei es daß dieser Ort von allem Anfang an ihr Ziel gewesen war, sei es daß sie
zu erschöpft waren, um noch weiter zu laufen. Jetzt ließen sie K. los der stumm
wartete, nahmen die Cylinderhüte ab und wischten sich, während sie sich im
Steinbruch umsahen, mit den Taschentüchern den Schweiß von der Stirn. Überall
lag der Mondschein mit seiner Natürlichkeit und Ruhe, die keinem andern Licht
gegeben ist.
Nach
Austausch einiger Höflichkeiten hinsichtlich dessen wer die nächsten Aufgaben
auszuführen habe, – die Herren schienen die Aufträge ungeteilt bekommen zu
haben – gieng der eine zu K. und zog ihm den Rock, die Weste und schließlich
das Hemd aus. K. fröstelte unwillkürlich, worauf ihm der Herr einen leichten beruhigenden
Schlag auf den Rücken gab. Dann legte er die Sachen sorgfältig zusammen, wie
Dinge die man noch gebrauchen wird, wenn auch nicht in allernächster Zeit. Um
K. nicht ohne Bewegung der immerhin kühlen Nachtluft auszusetzen, nahm er ihn
unter den Arm und gieng mit ihm ein wenig auf und ab, während der andere Herr
den Steinbruch nach irgendeiner passenden Stelle absuchte. Als er sie gefunden
hatte winkte er und der andere Herr geleitete K. hin. Es war nahe der
Bruchwand, es lag dort ein losgebrochener Stein. Die Herren setzten K. auf die
Erde nieder, lehnten ihn an den Stein und betteten seinen Kopf obenauf. Trotz
aller Anstrengung, die sie sich gaben, und trotz alles Entgegenkommens, das
ihnen K. bewies, blieb seine Haltung eine sehr gezwungene und unglaubwürdige.
Der eine Herr bat daher den andern ihm für ein Weilchen das Hinlegen K.’s
allein zu überlassen, aber auch dadurch wurde es nicht besser. Schließlich
ließen sie K. in einer Lage, die nicht einmal die beste von den bereits
erreichten Lagen war. Dann öffnete der eine Herr seinen Gehrock und nahm aus
einer Scheide, die an einem um die Weste gespannten Gürtel hing, ein langes
dünnes beiderseitig geschärftes Fleischermesser, hielt es hoch und prüfte die
Schärfen im Licht. Wieder begannen die widerlichen Höflichkeiten, einer reichte
über K. hinweg das Messer dem andern, dieser reichte es wieder über K. zurück.
K. wußte jetzt genau, daß es seine Pflicht gewesen wäre, das Messer, als es von
Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen und sich einzubohren. Aber er
tat es nicht, sondern drehte den noch freien Hals und sah umher. Vollständig
konnte er sich nicht bewähren, alle Arbeit den Behörden nicht abnehmen, die
Verantwortung für diesen letzten Fehler trug der, der ihm den Rest der dazu
nötigen Kraft versagt hatte. Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des
an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die
Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch schwach und dünn in
der Ferne und Höhe beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme
noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund Ein guter Mensch? Einer der teilnahm?
Einer der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe?
Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist
zwar unerschütterlich, aber einem Menschen der leben will, widersteht sie
nicht. Wo war der Richter den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht bis
zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
Aber
an K.’s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das
Messer ihm ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah
noch K. wie nahe vor seinem Gesicht die Herren Wange an Wange aneinandergelehnt
die Entscheidung beobachteten. “Wie ein Hund!” sagte er, es war, als sollte die
Scham ihn überleben.
Fragmente
B.’s Freundin
In
der nächsten Zeit war es K. unmöglich mit Fräulein Bürstner auch nur einige
wenige Worte zu sprechen. Er versuchte auf die verschiedenste Weise an sie
heranzukommen, sie aber wußte es immer zu verhindern. Er kam gleich nach dem
Bureau nachhause, blieb in seinem Zimmer ohne das Licht anzudrehn auf dem
Kanapee sitzen und beschäftigte sich mit nichts anderem als das Vorzimmer zu
beobachten. Gieng etwa das Dienstmädchen vorbei und schloß die Tür des
scheinbar leeren Zimmers, so stand er nach einem Weilchen auf und öffnete sie
wieder. Des Morgens stand er um eine Stunde früher auf als sonst, um vielleicht
Fräulein Bürstner allein treffen zu können, wenn sie ins Bureau gieng. Aber
keiner dieser Versuche gelang. Dann schrieb er ihr einen Brief sowohl ins
Bureau als auch in die Wohnung, suchte darin nochmals sein Verhalten zu
rechtfertigen, bot sich zu jeder Genugtuung an, versprach niemals die Grenzen
zu überschreiten, die sie ihm setzen würde und bat nur ihm die Möglichkeit zu
geben, einmal mit ihr zu sprechen, besonders da er auch bei Frau Grubach nichts
veranlassen könne, solange er sich nicht vorher mit ihr beraten habe,
schließlich teilte er ihr mit, daß er den nächsten Sonntag während des ganzen
Tages in seinem Zimmer auf ein Zeichen von ihr warten werde, das ihm die
Erfüllung seiner Bitte in Aussicht stelle oder das ihm wenigstens erklären
solle, warum sie die Ritte nicht erfüllen könne, trotzdem er doch versprochen
habe sich in allem ihr zu fügen. Die Briefe kamen nicht zurück, aber es
erfolgte auch keine Antwort. Dagegen gab es Sonntag ein Zeichen, dessen
Deutlichkeit genügend war. Gleich früh bemerkte K. durch das Schlüsselloch eine
besondere Bewegung im Vorzimmer, die sich bald aufklärte. Eine Lehrerin des
Französischen, sie war übrigens eine Deutsche und hieß Montag, ein schwaches
blasses, ein wenig hinkendes Mädchen, das bisher ein eigenes Zimmer bewohnt
hatte, übersiedelte in das Zimmer des Fräulein Bürstner. Stundenlang sah man
sie durch das Vorzimmer schlürfen. Immer war noch ein Wäschestück, oder ein
Deckchen oder ein Buch vergessen, das besonders geholt und in die neue Wohnung
hinübergetragen werden mußte.
Als
Frau Grubach K. das Frühstück brachte – sie überließ seitdem sie K. so erzürnt
hatte, auch nicht die geringste Bedienung dem Dienstmädchen – konnte sich K.
nicht zurückhalten, sie zum erstenmal seit fünf Tagen anzusprechen. “Warum ist
denn heute ein solcher Lärm im Vorzimmer?” fragte er während er den Kaffee
eingoß. “Könnte das nicht eingestellt werden? Muß gerade am Sonntag aufgeräumt
werden?” Trotzdem K. nicht zu Frau Grubach aufsah, bemerkte er doch, daß sie
wie erleichtert aufatmete. Selbst diese strengen Fragen K.’s faßte sie als
Verzeihung oder als Beginn der Verzeihung auf. “Es wird nicht aufgeräumt, Herr
K.” sagte sie, “Fräulein Montag übersiedelt nur zu Fräulein Bürstner und
schafft ihre Sachen hinüber.” Sie sagte nichts weiter, sondern wartete wie K.
es aufnehmen und ob er ihr gestatten würde, weiter zu reden. K. stellte sie
aber auf die Probe, rührte nachdenklich den Kaffee mit dem Löffel und schwieg.
Dann sah er zu ihr auf und sagte: “Haben Sie schon Ihren frühern Verdacht wegen
Fräulein Bürstner aufgegeben?” “Herr K.,” rief Frau Grubach die nur auf diese
Frage gewartet hatte und hielt K. ihre gefalteten Hände hin, “Sie haben eine
gelegentliche Bemerkung letzthin so schwer genommen. Ich habe ja nicht im
entferntesten daran gedacht, Sie oder irgendjemand zu kränken. Sie kennen mich
doch schon lange genug Herr K., um davon überzeugt sein zu können. Sie wissen
gar nicht wie ich die letzten Tage gelitten habe! Ich sollte meine Mieter
verleumden! Und Sie Herr K. glaubten es! Und sagten ich solle Ihnen kündigen!
Ihnen kündigen!” Der letzte Ausruf erstickte schon unter Tränen, sie hob die
Schürze zum Gesicht und schluchzte laut.
“Weinen
Sie doch nicht Frau Grubach,” sagte K. und sah zum Fenster hinaus, er dachte
nur an Fräulein Bürstner und daran daß sie ein fremdes Mädchen in ihr Zimmer
aufgenommen hatte. “Weinen Sie doch nicht,” sagte er nochmals als er sich ins
Zimmer zurückwendete und Frau Grubach noch immer weinte. “Es war ja damals auch
von mir nicht so schlimm gemeint. Wir haben eben einander gegenseitig
mißverstanden. Das kann auch alten Freunden einmal geschehn.” Frau Grubach
rückte die Schürze unter die Augen, um zu sehn, ob K. wirklich versöhnt sei.
“Nun ja, es ist so,” sagte K. und wagte nun, da nach dem Verhalten der Frau
Grubach zu schließen, der Hauptmann nichts verraten hatte, noch hinzuzufügen:
“Glauben Sie denn wirklich, daß ich mich wegen eines fremden Mädchens mit Ihnen
verfeinden könnte.” “Das ist es ja eben Herr K.,” sagte Frau Grubach, es war
ihr Unglück, daß sie sobald sie sich nur irgendwie freier fühlte gleich etwas
Ungeschicktes sagte, “ich fragte mich immerfort: Warum nimmt sich Herr K. so
sehr des Fräulein Bürstner an? Warum zankt er ihretwegen mit mir, trotzdem er
weiß, daß mir jedes böse Wort von ihm den Schlaf nimmt Ich habe ja über das
Fräulein nichts anderes gesagt als was ich mit eigenen Augen gesehen habe.” K.
sagte dazu nichts, er hätte sie mit dem ersten Wort aus dem Zimmer jagen müssen
und das wollte er nicht. Er begnügte sich damit den Kaffee zu trinken und Frau
Grubach ihre Überflüssigkeit fühlen zu lassen. Draußen hörte man wieder den
schleppenden Schritt des Fräulein Montag, welche das ganze Vorzimmer
durchquerte. “Hören Sie es?” fragte K. und zeigte mit der Hand nach der Tür.
“Ja,” sagte Frau Grubach und seufzte, “ich wollte ihr helfen und auch vom
Dienstmädchen helfen lassen, aber sie ist eigensinnig, sie will alles selbst
übersiedeln. Ich wundere mich über Fräulein Bürstner. Mir ist es oft lästig,
daß ich Fräulein Montag in Miete habe, Fräulein Bürstner aber nimmt sie sogar
zu sich ins Zimmer.” “Das muß Sie gar nicht kümmern,” sagte K. und zerdrückte
die Zuckerreste in der Tasse. “Haben Sie denn dadurch einen Schaden?” “Nein,”
sagte Frau Grubach, “an und für sich ist es mir ganz willkommen, ich bekomme
dadurch ein Zimmer frei und kann dort meinen Neffen den Hauptmann unterbringen.
Ich fürchtete schon längst, daß er Sie in den letzten Tagen, während derer ich
ihn nebenan im Wohnzimmer wohnen lassen mußte, gestört haben könnte. Er nimmt
nicht viel Rücksicht.” “Was für Einfälle!” sagte K. und stand auf, “davon ist
ja keine Rede. Sie scheinen mich wohl für überempfindlich zu halten, weil ich
diese Wanderungen des Fräulein Montag – jetzt geht sie wieder zurück – nicht
vertragen kann.” Frau Grubach kam sich recht machtlos vor. “Soll ich, Herr K.,
sagen, daß sie den restlichen Teil der Übersiedlung aufschieben soll? Wenn Sie
wollen, tue ich es sofort.” “Aber sie soll doch zu Fräulein Bürstner
übersiedeln!” sagte K. “Ja,” sagte Frau Grubach, sie verstand nicht ganz, was
K. meinte. “Nun also,” sagte K., “dann muß sie doch ihre Sachen hinübertragen.”
Frau Grubach nickte nur. Diese stumme Hilflosigkeit, die äußerlich nicht anders
aussah als Trotz reizte K. noch mehr. Er fieng an im Zimmer vom Fenster zur Tür
auf- und abzugehn und nahm dadurch Frau Grubach die Möglichkeit sich zu entfernen,
was sie sonst wahrscheinlich getan hätte.
Gerade
war K. einmal wieder bis zur Tür gekommen, als es klopfte. Es war das
Dienstmädchen, welches meldete, daß Fräulein Montag gern mit Herrn K. paar
Worte sprechen möchte und daß sie ihn deshalb bitte ins Eßzimmer zu kommen, wo
sie ihn erwarte. K. hörte das Dienstmädchen nachdenklich an, dann wandte er
sich mit einem fast höhnischen Blick nach der erschrockenen Frau Grubach um.
Dieser Blick schien zu sagen, daß K. diese Einladung des Fräulein Montag schon
längst vorausgesehen habe und daß sie auch sehr gut mit der Quälerei
zusammenpasse, die er diesen Sonntagvormittag von den Mietern der Frau Grubach
erfahren mußte. Er schickte das Dienstmädchen zurück mit der Antwort daß er
sofort komme, gieng dann zum Kleiderkasten, um den Rock zu wechseln und hatte
als Antwort für Frau Grubach, welche leise über die lästige Person jammerte,
nur die Bitte, sie möge das Frühstücksgeschirr schon forttragen. “Sie haben ja
fast nichts angerührt,” sagte Frau Grubach. “Ach tragen Sie es doch weg,” rief
K., es war ihm, als sei irgendwie allem Fräulein Montag beigemischt und mache
es widerwärtig.
Als
er durch das Vorzimmer gieng, sah er nach der geschlossenen Tür von Fräulein
Bürstners Zimmer. Aber er war nicht dorthin eingeladen, sondern in das
Eßzimmer, dessen Tür er aufriß ohne zu klopfen.
Es
war ein sehr langes aber schmales einfenstriges Zimmer. Es war dort nur soviel
Platz vorhanden, daß man in den Ecken an der Türseite zwei Schränke schief
hatte aufstellen können, während der übrige Raum vollständig von dem langen
Speisetisch eingenommen war, der in der Nähe der Tür begann und bis knapp zum
großen Fenster reichte, welches dadurch fast unzugänglich geworden war. Der
Tisch war bereits gedeckt undzwar für viele Personen, da am Sonntag fast alle
Mieter hier zu Mittag aßen.
Als
K. eintrat, kam Fräulein Montag vom Fenster her an der einen Seite des Tisches
entlang K. entgegen. Sie grüßten einander stumm. Dann sagte Fräulein Montag,
wie immer den Kopf ungewöhnlich aufgerichtet: “Ich weiß nicht, ob Sie mich
kennen.” K. sah sie mit zusammengezogenen Augen an. “Gewiß,” sagte er, “Sie
wohnen doch schon längere Zeit bei Frau Grubach.” “Sie kümmern sich aber, wie
ich glaube, nicht viel um die Pension,” sagte Fräulein Montag. “Nein,” sagte K.
“Wollen Sie sich nicht setzen,” sagte Fräulein Montag. Sie zogen beide
schweigend zwei Sessel am äußersten Ende des Tisches hervor und setzten sich
einander gegenüber. Aber Fräulein Montag stand gleich wieder auf, denn sie
hatte ihr Handtäschchen auf dem Fensterbrett liegen gelassen und gieng es
holen; sie schleifte durch das ganze Zimmer. Als sie, das Handtäschchen leicht
schwenkend, wieder zurückkam, sagte sie: “Ich möchte nur im Auftrag meiner
Freundin ein paar Worte mit Ihnen sprechen. Sie wollte selbst kommen, aber sie
fühlt sich heute ein wenig unwohl. Sie möchten sie entschuldigen und mich statt
ihrer anhören. Sie hätte Ihnen auch nichts anderes sagen können, als ich Ihnen
sagen werde. Im Gegenteil, ich glaube, ich kann Ihnen sogar mehr sagen, da ich
wohl verhältnismäßig unbeteiligt bin. Glauben Sie nicht auch?” “Was wäre denn
zu sagen!” antwortete K., der dessen müde war, die Augen des Fräulein Montag
fortwährend auf seine Lippen gerichtet zu sehn. Sie maßte sich dadurch eine
Herrschaft schon darüber an, was er erst sagen wollte. “Fräulein Bürstner will
mir offenbar die persönliche Aussprache um die ich sie gebeten habe, nicht
bewilligen.” “Das ist es,” sagte Fräulein Montag, “oder vielmehr so ist es gar
nicht, Sie drücken es sonderbar scharf aus. Im allgemeinen werden doch
Aussprachen weder bewilligt noch geschieht das Gegenteil. Aber es kann
geschehn, daß man Aussprachen für unnötig hält und so ist es eben hier. Jetzt
nach Ihrer Bemerkung kann ich ja offen reden. Sie haben meine Freundin schriftlich
oder mündlich um eine Unterredung gebeten. Nun weiß aber meine Freundin, so muß
ich wenigstens annehmen, was diese Unterredung betreffen soll, und ist deshalb
aus Gründen die ich nicht kenne überzeugt, daß es niemandem Nutzen bringen
würde, wenn die Unterredung wirklich zustandekäme. Im übrigen erzählte sie mir
erst gestern und nur ganz flüchtig davon, sie sagte hiebei daß auch Ihnen
jedenfalls nicht viel an der Unterredung liegen könne, denn Sie wären nur durch
einen Zufall auf einen derartigen Gedanken gekommen, und würden selbst auch
ohne besondere Erklärung wenn nicht schon jetzt so doch sehr bald die
Sinnlosigkeit des Ganzen erkennen. Ich antwortete darauf, daß das richtig sein
mag, daß ich es aber zur vollständigen Klarstellung doch für vorteilhaft halten
würde, Ihnen eine ausdrückliche Antwort zukommen zu lassen. Ich bot mich an,
diese Aufgabe zu übernehmen, nach einigem Zögern gab meine Freundin mir nach.
Ich hoffe nun aber auch in Ihrem Sinne gehandelt zu haben, denn selbst die
kleinste Unsicherheit in der geringfügigsten Sache ist doch immer quälend und
wenn man sie, wie in diesem Falle leicht beseitigen kann, so soll es doch
besser sofort geschehn.” “Ich danke Ihnen,” sagte K. sofort, stand langsam auf,
sah Fräulein Montag an, dann über den Tisch hin, dann aus dem Fenster – das
gegenüberliegende Haus stand in der Sonne – und gieng zur Tür. Fräulein Montag
folgte ihm paar Schritte als vertraue sie ihm nicht ganz. Vor der Tür mußten
aber beide zurückweichen, denn sie öffnete sich und der Hauptmann Lanz trat
ein. K. sah ihn zum erstenmal aus der Nähe. Es war ein großer etwa
vierzigjähriger Mann mit braungebranntem fleischigen Gesicht. Er machte eine
leichte Verbeugung, die auch K. galt, gieng dann zu Fräulein Montag und küßte
ihr ehrerbietig die Hand. Er war sehr gewandt in seinen Bewegungen. Seine
Höflichkeit gegen Fräulein Montag stach auffallend von der Behandlung ab, die
sie von K. erfahren hatte. Trotzdem schien Fräulein Montag K. nicht böse zu
sein, denn sie wollte ihn sogar wie K. zu bemerken glaubte, dem Hauptmann
vorstellen. Aber K. wollte nicht vorgestellt werden, er wäre nicht imstande
gewesen, weder dem Hauptmann noch Fräulein Montag gegenüber irgendwie
freundlich zu sein, der Handkuß hatte sie für ihn zu einer Gruppe verbunden,
die ihn unter dem Anschein äußerster Harmlosigkeit und Uneigennützigkeit von
Fräulein Bürstner abhalten wollte. K. glaubte jedoch nicht nur das zu erkennen,
er erkannte auch daß Fräulein Montag ein gutes, allerdings zweischneidiges
Mittel gewählt hatte. Sie übertrieb die Bedeutung der Beziehung zwischen
Fräulein Bürstner und K., sie übertrieb vor allem die Bedeutung der erbetenen
Aussprache und versuchte es gleichzeitig so zu wenden, als ob es K. sei, der
alles übertreibe. Sie sollte sich täuschen, K. wollte nichts übertreiben, er
wußte, daß Fräulein Bürstner ein kleines Schreibmaschinenfräulein war, das ihm
nicht lange Widerstand leisten sollte. Hiebei zog er absichtlich gar nicht in
Berechnung, was er von Frau Grubach über Fräulein Bürstner erfahren hatte. Das
alles überlegte er, während er kaum grüßend das Zimmer verließ. Er wollte
gleich in sein Zimmer gehn, aber ein kleines Lachen des Fräulein Montag, das er
hinter sich aus dem Eßzimmer hörte, brachte ihn auf den Gedanken, daß er
vielleicht beiden, dem Hauptmann wie Fräulein Montag eine Überraschung bereiten
könnte. Er sah sich um und horchte, ob aus irgendeinem der umliegenden Zimmer
eine Störung zu erwarten wäre, es war überall still, nur die Unterhaltung aus
dem Eßzimmer war zu hören und aus dem Gang, der zur Küche führte, die Stimme
der Frau Grubach. Die Gelegenheit schien günstig, K. gieng zur Tür von Fräulein
Bürstners Zimmer und klopfte leise. Da sich nichts rührte, klopfte er nochmals,
aber es erfolgte noch immer keine Antwort. Schlief sie? Oder war sie wirklich
unwohl? Oder verleugnete sie sich nur deshalb, weil sie ahnte, daß es nur K.
sein konnte, der so leise klopfte? K. nahm an, daß sie sich verleugne und
klopfte stärker, öffnete schließlich, da das Klopfen keinen Erfolg hatte,
vorsichtig und nicht ohne das Gefühl, etwas unrechtes und überdies nutzloses zu
tun, die Tür. Im Zimmer war niemand. Es erinnerte übrigens kaum mehr an das
Zimmer wie es K. gekannt hatte. An der Wand waren nun zwei Betten
hintereinander aufgestellt, drei Sessel in der Nähe der Tür waren mit Kleidern
und Wäsche überhäuft, ein Schrank stand offen. Fräulein Bürstner war
wahrscheinlich fortgegangen, während Fräulein Montag im Eßzimmer auf K.
eingeredet hatte. K. war davon nicht sehr bestürzt, er hatte kaum mehr erwartet
Fräulein Bürstner so leicht zu treffen, er hatte diesen Versuch fast nur aus
Trotz gegen Fräulein Montag gemacht. Umso peinlicher war es ihm aber, als er
während er die Tür wieder schloß, in der offenen Tür des Eßzimmers Fräulein
Montag und den Hauptmann sich unterhalten sah. Sie standen dort vielleicht
schon seitdem K. die Tür geöffnet hatte, sie vermieden jeden Anschein als ob
sie K. etwa beobachteten, sie unterhielten sich leise und verfolgten K.’s
Bewegungen mit den Blicken nur so wie man während eines Gespräches zerstreut
umherblickt. Aber auf K. lagen diese Blicke doch schwer, er beeilte sich an der
Wand entlang in sein Zimmer zu kommen.
Staatsanwalt
Trotz
der Menschenkenntnis und Welterfahrung, welche K. während seiner langen
Dienstzeit in der Bank erworben hatte, war ihm doch die Gesellschaft seines
Stammtisches immer als außerordentlich achtungswürdig erschienen und er
leugnete sich selbst gegenüber niemals, daß es für ihn eine große Ehre war
einer solchen Gesellschaft anzugehören. Sie bestand fast ausschließlich aus
Richtern, Staatsanwälten und Advokaten, auch einige ganz junge Beamte und
Advokatursgehilfen waren zugelassen, sie saßen aber ganz unten am Tisch und
durften sich in die Debatten nur einmischen, wenn besondere Fragen an sie
gestellt wurden. Solche Fragestellungen aber hatten meist nur den Zweck die
Gesellschaft zu belustigen, besonders Staatsanwalt Hasterer der gewöhnlich K.’s
Nachbar war liebte es auf diese Weise die jungen Herren zu beschämen. Wenn er
die große stark behaarte Hand mitten auf dem Tisch spreizte und sich zum untern
Tischende wandte, horchte schon alles auf. Und wenn dann dort einer die Frage
aufnahm aber entweder sie nicht einmal enträtseln konnte oder nachdenklich in
sein Bier sah oder statt zu reden bloß mit den Kiefern schnappte oder gar – das
war das Ärgste – in unaufhaltsamem Schwall eine falsche oder unbeglaubigte
Meinung vertrat, dann drehten sich die ältern Herren lächelnd auf ihren Sitzen
und es schien ihnen erst jetzt behaglich zu werden. Die wirklich ernsten
fachgemäßen Gespräche blieben nur ihnen vorbehalten.
K.
war in diese Gesellschaft durch einen Advokaten, den Rechtsvertreter der Bank
gebracht worden. Es hatte eine Zeit gegeben, da K. mit diesem Advokaten in der
Bank lange Besprechungen bis spät in den Abend hatte führen müssen und es hatte
sich dann von selbst gefügt, daß er mit dem Advokaten an dessen Stammtisch
gemeinsam genachtmahlt und an der Gesellschaft Gefallen gefunden hatte. Er sah
hier lauter gelehrte, angesehene, in gewissem Sinne mächtige Herren, deren
Erholung darin bestand, daß sie schwierige mit dem gewöhnlichen Leben nur
entfernt zusammenhängende Fragen zu lösen suchten und hiebei sich abmühten.
Wenn er selbst natürlich nur wenig eingreifen konnte, so bekam er doch die
Möglichkeit vieles zu erfahren, was ihm früher oder später auch in der Bank
Vorteil bringen konnte und außerdem konnte er zum Gericht persönliche
Beziehungen anknüpfen, die immer nützlich waren. Aber auch die Gesellschaft
schien ihn gern zu dulden. Als geschäftlicher Fachmann war er bald anerkannt und
seine Meinung in solchen Dingen galt – wenn es dabei auch nicht ganz ohne
Ironie abgieng – als etwas Unumstößliches. Es geschah nicht selten, daß zwei,
die eine Rechtsfrage verschieden beurteilten, K. seine Ansicht über den
Tatbestand abverlangten und daß dann K.’s Name in allen Reden und Gegenreden
wiederkehrte und bis in die abstraktesten Untersuchungen gezogen wurde, denen
K. längst nicht mehr folgen konnte. Allerdings klärte sich ihm allmählich
vieles auf, besonders da er in Staatsanwalt Hasterer einen guten Berater an
seiner Seite hatte, der ihm auch freundschaftlich nähertrat. K. begleitete ihn
sogar öfters in der Nacht nachhause. Er konnte sich aber lange nicht daran
gewöhnen Arm in Arm neben dem riesigen Mann zu gehn, der ihn in seinem Radmantel
ganz unauffällig hätte verbergen können.
Im
Laufe der Zeit aber fanden sie sich derartig zusammen, daß alle Unterschiede
der Bildung, des Berufes, des Alters sich verwischten. Sie verkehrten mit
einander, als hätten sie seit jeher zu einander gehört und wenn in ihrem
Verhältnis äußerlich manchmal einer überlegen schien, so war es nicht Hasterer
sondern K., denn seine praktischen Erfahrungen behielten meistens Recht, da sie
so unmittelbar gewonnen waren, wie es vom Gerichtstisch aus niemals geschehen
kann.
Diese
Freundschaft wurde natürlich am Stammtisch bald allgemein bekannt, es geriet
halb in Vergessenheit, wer K. in die Gesellschaft gebracht hatte, nun war es
jedenfalls Hasterer der K. deckte; wenn K.’s Berechtigung hier zu sitzen auf
Zweifel stoßen würde, konnte er sich mit gutem Recht auf Hasterer berufen.
Dadurch aber erlangte K. eine besonders bevorzugte Stellung, denn Hasterer war
ebenso angesehn als gefürchtet. Die Kraft und Gewandtheit seines juristischen
Denkens waren zwar sehr bewundernswert, doch waren in dieser Hinsicht viele
Herren ihm zumindest ebenbürtig, keiner jedoch reichte an ihn heran in der
Wildheit, mit welcher er seine Meinung verteidigte. K. hatte den Eindruck, daß
Hasterer, wenn er seinen Gegner nicht überzeugen konnte, ihn doch wenigstens in
Furcht setzte, schon vor seinem gestreckten Zeigefinger wichen viele zurück. Es
war dann als ob der Gegner vergessen würde, daß er in Gesellschaft von guten
Bekannten und Kollegen war, daß es sich doch nur um teoretische Fragen
handelte, daß ihm in Wirklichkeit keinesfalls etwas geschehen konnte – aber er
verstummte und Kopfschütteln war schon Mut. Ein fast peinlicher Anblick war es,
wenn der Gegner weit entfernt saß, Hasterer erkannte, daß auf die Entfernung
hin keine Einigung zustandekommen könnte, wenn er nun etwa den Teller mit dem
Essen zurückschob und langsam aufstand, um den Mann selbst aufzusuchen. Die in
der Nähe beugten dann die Köpfe zurück, um sein Gesicht zu beobachten.
Allerdings waren das nur verhältnismäßig seltene Zwischenfälle, vor allem
konnte er fast nur über juristische Fragen in Erregung geraten, undzwar
hauptsächlich über solche, welche Processe betrafen, die er selbst geführt
hatte oder führte. Handelte es sich nicht um solche Fragen, dann war er
freundlich und ruhig, sein Lachen war liebenswürdig und seine Leidenschaft
gehörte dem Essen und Trinken. Es konnte sogar geschehn, daß er der allgemeinen
Unterhaltung gar nicht zuhörte, sich zu K. wandte, den Arm über dessen
Sessellehne legte, ihn halblaut über die Bank ausfragte, dann selbst über seine
eigene Arbeit sprach oder auch von seinen Damenbekanntschaften erzählte, die
ihm fast soviel zu schaffen machten wie das Gericht. Mit keinem andern in der
Gesellschaft sah man ihn derartig reden und tatsächlich kam man oft, wenn man etwas
von Hasterer erbitten wollte – meistens sollte eine Versöhnung mit einem
Kollegen bewerkstelligt werden – zunächst zu K. und bat ihn um seine
Vermittlung, die er immer gerne und leicht durchführte. Er war überhaupt, ohne
etwa seine Beziehung zu Hasterer in dieser Hinsicht auszunützen, allen
gegenüber sehr höflich und bescheiden und er verstand es, was noch wichtiger
als Höflichkeit und Bescheidenheit war, zwischen den Rangabstufungen der Herren
richtig zu unterscheiden und jeden seinem Range gemäß zu behandeln. Allerdings
belehrte ihn Hasterer darin immer wieder, es waren dies die einzigen
Vorschriften, die Hasterer selbst in der erregtesten Debatte nicht verletzte.
Darum richtete er auch an die jungen Herren unten am Tisch, die noch fast gar
keinen Rang besaßen, immer nur allgemeine Ansprachen, als wären es nicht
einzelne, sondern bloß ein zusammengeballter Klumpen. Gerade diese Herren aber
erwiesen ihm die größten Ehren und wenn er gegen elf Uhr sich erhob, um
nachhause zu gehn, war gleich einer da, der ihm beim Anziehn des schweren
Mantels behilflich war und ein anderer der mit großer Verbeugung die Türe vor
ihm öffnete und sie natürlich auch noch festhielt wenn K. hinter Hasterer das
Zimmer verließ.
Während
in der ersten Zeit K. Hasterer oder auch dieser K. ein Stück Wegs begleitete,
endeten später solche Abende in der Regel damit, daß Hasterer K. bat mit ihm in
seine Wohnung zu kommen und ein Weilchen bei ihm zu bleiben. Sie saßen dann
noch wohl eine Stunde bei Schnaps und Zigarren. Diese Abende waren Hasterer so
lieb, daß er nicht einmal auf sie verzichten wollte, als er während einiger
Wochen ein Frauenzimmer namens Helene bei sich wohnen hatte. Es war eine dicke
ältliche Frau mit gelblicher Haut und schwarzen Locken, die sich um ihre Stirn
ringelten. K. sah sie zunächst nur im Bett, sie lag dort gewöhnlich recht
schamlos, pflegte einen Lieferungsroman zu lesen und kümmerte sich nicht um das
Gespräch der Herren. Erst wenn es spät wurde, streckte sie sich, gähnte und
warf auch, wenn sie auf andere Weise die Aufmerksamkeit nicht auf sich lenken
konnte, ein Heft ihres Romans nach Hasterer. Dieser stand dann lächelnd auf und
K. verabschiedete sich. Später allerdings als Hasterer Helene’s müde zu werden
anfieng, störte sie die Zusammenkünfte empfindlich. Sie erwartete nun immer die
Herren vollständig angekleidet undzwar gewöhnlich in einem Kleid, das sie
wahrscheinlich für sehr kostbar und kleidsam hielt, das aber in Wirklichkeit
ein altes überladenes Ballkleid war und besonders unangenehm durch einige Reihen
langer Fransen auffiel, mit denen es zum Schmuck behängt war. Das genaue
Aussehn dieses Kleides kannte K. gar nicht, er weigerte sich gewissermaßen sie
anzusehn und saß stundenlang mit halbgesenkten Augen da, während sie sich
wiegend durch das Zimmer gieng oder in seiner Nähe saß und später als ihre
Stellung immer unhaltbarer wurde, in ihrer Not sogar versuchte, durch
Bevorzugung K.’s Hasterer eifersüchtig zu machen. Es war nur Not, nicht
Bosheit, wenn sie sich mit dem entblößten rundlichen fetten Rücken über den
Tisch lehnte, ihr Gesicht K. näherte und ihn so zwingen wollte, aufzublicken.
Sie erreichte damit nur, daß K. sich nächstens weigerte zu Hasterer zu gehn,
und als er nach einiger Zeit doch wieder hinkam, war Helene endgiltig
fortgeschickt; K. nahm das als selbstverständlich hin. Sie blieben an diesem
Abend besonders lange beisammen, feierten auf Hasterers Anregung Bruderschaft
und K. war auf dem Nachhauseweg vom Rauchen und Trinken fast ein wenig betäubt.
Gerade
am nächsten Morgen machte der Direktor in der Bank im Laufe eines
geschäftlichen Gespräches die Bemerkung, er glaube gestern abend K. gesehen zu
haben. Wenn er sich nicht getäuscht habe, so sei K. Arm in Arm mit dem
Staatsanwalt Hasterer gegangen. Der Direktor schien das so merkwürdig zu finden,
daß er – allerdings entsprach dies auch seiner sonstigen Genauigkeit – die
Kirche nannte, an deren Längsseite in der Nähe des Brunnens jene Begegnung
stattgefunden habe. Hätte er eine Luftspiegelung beschreiben wollen, er hätte
sich nicht anders ausdrücken können. K. erklärte ihm nun, daß der Staatsanwalt
sein Freund sei und daß sie wirklich gestern abend an der Kirche
vorübergegangen wären. Der Direktor lächelte erstaunt und forderte K. auf, sich
zu setzen. Es war einer jener Augenblicke, wegen deren K. den Direktor so
liebte, Augenblicke, in denen aus diesem schwachen kranken hüstelnden mit der
verantwortungsvollsten Arbeit überlasteten Mann eine gewisse Sorge um K.’s Wohl
und um seine Zukunft ans Licht kam, eine Sorge, die man allerdings nach Art anderer
Beamten, die beim Direktor ähnliches erlebt hatten, kalt und äußerlich nennen
konnte, die nichts war als ein gutes Mittel, wertvolle Beamte durch das Opfer
von zwei Minuten für Jahre an sich zu fesseln – wie es auch sein mochte, K.
unterlag dem Direktor in diesen Augenblicken. Vielleicht sprach auch der
Direktor mit K. ein wenig anders als mit den andern, er vergaß nämlich nicht
etwa seine übergeordnete Stellung, um auf diese Weise mit K. gemein zu werden –
dies tat er vielmehr regelmäßig im gewöhnlichen geschäftlichen Verkehr – hier
aber schien er gerade K.’s Stellung vergessen zu haben und sprach mit ihm wie
mit einem Kind oder wie mit einem unwissenden jungen Menschen, der sich erst um
eine Stellung bewirbt und aus irgendeinem unverständlichen Grunde das
Wohlgefallen des Direktors erregt. K. hätte gewiß eine solche Redeweise weder
von einem andern noch vom Direktor selbst geduldet, wenn ihm nicht die Fürsorge
des Direktors wahrhaftig erschienen wäre oder wenn ihn nicht wenigstens die
Möglichkeit dieser Fürsorge, wie sie sich ihm in solchen Augenblicken zeigte,
vollständig bezaubert hätte. K. erkannte seine Schwäche; vielleicht hatte sie
ihren Grund darin, daß in dieser Hinsicht wirklich noch etwas Kindisches in ihm
war, da er die Fürsorge des eigenen Vaters, der sehr jung gestorben war,
niemals erfahren hatte, bald von zuhause fortgekommen war und die Zärtlichkeit
der Mutter, die halbblind noch draußen in dem unveränderlichen Städtchen lebte
und die er zuletzt vor etwa zwei Jahren besucht hatte, immer eher abgelehnt als
hervorgelockt hatte.
“Von
dieser Freundschaft wußte ich gar nichts,” sagte der Direktor und nur ein
schwaches freundliches Lächeln milderte die Strenge dieser Worte.
Zu Elsa
Eines
Abends wurde K. knapp vor dem Weggehn telephonisch angerufen und aufgefordert
sofort in die Gerichtskanzlei zu kommen. Man warne ihn davor ungehorsam zu
sein. Seine unerhörten Bemerkungen darüber, daß die Verhöre unnütz seien, kein
Ergebnis haben und keines haben können, daß er nicht mehr hinkommen werde, daß
er telephonische oder schriftliche Einladungen nicht beachten und Boten aus der
Türe werfen werde – alle diese Bemerkungen seien protokolliert und hätten ihm
schon viel geschadet. Warum wolle er sich denn nicht fügen? Sei man nicht etwa
ohne Rücksicht auf Zeit und Kosten bemüht in seine verwickelte Sache Ordnung zu
bringen? Wolle er darin mutwillig stören und es zu Gewaltmaßregeln kommen
lassen, mit denen man ihn bisher verschont habe? Die heutige Vorladung sei ein
letzter Versuch. Er möge tun was er wolle, jedoch bedenken, daß das hohe
Gericht seiner nicht spotten lassen könne.
Nun
hatte K. für diesen Abend Elsa seinen Besuch angezeigt und konnte schon aus
diesem Grunde nicht zu Gericht kommen, er war froh darüber, sein
Nichterscheinen vor Gericht dadurch rechtfertigen zu können, wenn er auch
natürlich niemals von dieser Rechtfertigung Gebrauch machen würde und außerdem
sehr wahrscheinlich auch dann nicht zu Gericht gegangen wäre, wenn er für
diesen Abend nicht die geringste sonstige Verpflichtung gehabt hätte. Immerhin
stellte er im Bewußtsein seines guten Rechtes durch das Telephon die Frage, was
geschehen würde, wenn er nicht käme. “Man wird Sie zu finden wissen,” war die
Antwort. “Und werde ich dafür bestraft werden, weil ich nicht freiwillig
gekommen bin,” fragte K. und lächelte in Erwartung dessen, was er hören würde.
“Nein,” war die Antwort. “Vorzüglich,” sagte K., “was für einen Grund sollte
ich dann aber haben, der heutigen Vorladung Folge zu leisten.” “Man pflegt die
Machtmittel des Gerichtes nicht auf sich zu hetzen,” sagte die schwächer
werdende und schließlich vergehende Stimme. “Es ist sehr unvorsichtig, wenn man
das nicht tut,” dachte K. im Weggehn, “man soll doch versuchen die Machtmittel
kennen zu lernen.”
Ohne
zu zögern fuhr er zu Elsa. Behaglich in die Wagenecke gelehnt, die Hände in den
Taschen des Mantels – es begann schon kühl zu werden – überblickte er die
lebhaften Straßen. Mit einer gewissen Zufriedenheit dachte er daran, daß er dem
Gericht, falls es wirklich in Tätigkeit war, nicht geringe Schwierigkeiten
bereitete. Er hatte sich nicht deutlich ausgesprochen, ob er zu Gericht kommen
würde oder nicht; der Richter wartete also, vielleicht wartete sogar die ganze
Versammlung, nur K. würde zur besondern Enttäuschung der Gallerie nicht
erscheinen. Unbeirrt durch das Gericht fuhr er dorthin wohin er wollte. Einen
Augenblick lang war er nicht sicher, ob er nicht aus Zerstreutheit dem Kutscher
die Gerichtsadresse angegeben hatte, er rief ihm daher laut Elsas Adresse zu;
der Kutscher nickte, ihm war keine andere gesagt worden. Von da an vergaß K.
allmählich an das Gericht und die Gedanken an die Bank begannen ihn wieder wie
in frühern Zeiten ganz zu erfüllen.
Kampf mit dem Direktor-Stellvertreter
Eines
Morgens fühlte sich K. viel frischer und widerstandsfähiger als sonst. An das
Gericht dachte er kaum; wenn es ihm aber einfiel, schien es ihm als könne diese
ganz unübersichtlich große Organisation an irgend einer allerdings verborgenen
im Dunkel erst zu ertastenden Handhabe leicht gefaßt, ausgerissen und
zerschlagen werden. Sein außergewöhnlicher Zustand verlockte K. sogar den
Direktor-Stellvertreter einzuladen in sein Bureau zu kommen und eine
geschäftliche Angelegenheit, die schon seit einiger Zeit drängte, gemeinsam zu
besprechen. Immer bei solchem Anlaß tat der Direktor-Stellvertreter so, als
hätte sich sein Verhältnis zu K. in den letzten Monaten nicht im Geringsten
geändert. Ruhig kam er wie in den frühern Zeiten des ständigen Wettbewerbes mit
K., ruhig hörte er K.’s Ausführungen an, zeigte durch kleine vertrauliche ja
kameradschaftliche Bemerkungen seine Teilnahme und verwirrte K. nur dadurch,
worin man aber keine Absicht sehen mußte, daß er sich durch nichts von der
geschäftlichen Hauptsache ablenken ließ, förmlich bis in den Grund seines
Wesens aufnahmsbereit für diese Sache war, während K.’s Gedanken vor diesem
Muster von Pflichterfüllung sofort nach allen Seiten zu schwärmen anfiengen und
ihn zwangen, die Sache selbst fast ohne Widerstand dem Direktor-Stellvertreter
zu überlassen. Einmal war es so schlimm, daß K. schließlich nur bemerkte, wie
der Direktor-Stellvertreter plötzlich aufstand und stumm in sein Bureau
zurückkehrte. K. wußte nicht was geschehen war, es war möglich daß die
Besprechung regelrecht abgeschlossen war, ebensomöglich aber war es, daß sie
der Direktor-Stellvertreter abgebrochen hatte, weil ihn K. unwissentlich
gekränkt oder weil er Unsinn gesprochen hatte oder weil es dem
Direktor-Stellvertreter unzweifelhaft geworden war, daß K. nicht zuhörte und
mit andern Dingen beschäftigt war. Es war aber sogar möglich, daß K. eine
lächerliche Entscheidung getroffen oder daß der Direktor-Stellvertreter sie ihm
entlockt hatte und daß er sich jetzt beeilte sie zum Schaden K.’s zu
verwirklichen. Man kam übrigens auf diese Angelegenheit nicht mehr zurück, K.
wollte nicht an sie erinnern und der Direktor-Stellvertreter blieb
verschlossen; es ergaben sich allerdings vorläufig auch weiterhin keine
sichtbaren Folgen. Jedenfalls war aber K. durch den Vorfall nicht abgeschreckt
worden, wenn sich nur eine passende Gelegenheit ergab und er nur ein wenig bei
Kräften war, stand er schon bei der Tür des Direktor-Stellvertreters um zu ihm
zu gehn oder ihn zu sich einzuladen. Es war keine Zeit mehr sich vor ihm zu
verstecken, wie er es früher getan hatte. Er hoffte nicht mehr auf einen
baldigen entscheidenden Erfolg, der ihn mit einem Mal von allen Sorgen befreien
und von selbst das alte Verhältnis zum Direktor-Stellvertreter herstellen
würde. K. sah ein, daß er nicht ablassen dürfe, wich er zurück, so wie es
vielleicht die Tatsachen forderten, dann bestand die Gefahr, daß er
möglicherweise niemals mehr vorwärts kam. Der Direktor-Stellvertreter durfte
nicht im Glauben gelassen werden, daß K. abgetan sei, er durfte mit diesem Glauben
nicht ruhig in seinem Bureau sitzen, er mußte beunruhigt werden, er mußte so
oft als möglich erfahren daß K. lebte und daß er wie alles was lebte, eines
Tages mit neuen Fähigkeiten überraschen konnte, so ungefährlich er auch heute
schien. Manchmal sagte sich zwar K., daß er mit dieser Methode um nichts
anderes als um seine Ehre kämpfe, denn Nutzen konnte es ihm eigentlich nicht
bringen, wenn er sich in seiner Schwäche immer wieder dem
Direktor-Stellvertreter entgegenstellte, sein Machtgefühl stärkte und ihm die
Möglichkeit gab Beobachtungen zu machen und seine Maßnahmen genau nach den
augenblicklichen Verhältnissen zu treffen. Aber K. hätte sein Verhalten gar
nicht ändern können, er unterlag Selbsttäuschungen, er glaubte manchmal mit
Bestimmtheit er dürfe sich gerade jetzt unbesorgt mit dem
Direktor-Stellvertreter messen, die unglückseligsten Erfahrungen belehrten ihn
nicht, was ihm bei zehn Versuchen nicht gelungen war, glaubte er mit dem elften
durchsetzen zu können trotzdem alles immer ganz einförmig zu seinen Ungunsten
abgelaufen war. Wenn er nach einer solchen Zusammenkunft erschöpft, in Schweiß,
mit leerem Kopf zurückblieb, wußte er nicht, ob es Hoffnung oder Verzweiflung
gewesen war, die ihn an den Direktor-Stellvertreter gedrängt hatte, ein nächstes
Mal war es aber wieder vollständig eindeutig nur Hoffnung, mit der er zu der
Türe des Direktor-Stellvertreters eilte.
So
war es auch heute. Der Direktor-Stellvertreter trat gleich ein, blieb dann nahe
bei der Tür stehn, putzte einer neu angenommenen Gewohnheit gemäß seinen
Zwicker und sah zuerst K. und dann, um sich nicht allzu auffallend mit K. zu
beschäftigen, auch das ganze Zimmer genauer an. Es war als benütze er die
Gelegenheit, um die Sehkraft seiner Augen zu prüfen. K. widerstand den Blicken,
lächelte sogar ein wenig und lud den Direktor-Stellvertreter ein sich zu
setzen. Er selbst warf sich in seinen Lehnstuhl, rückte ihn möglichst nahe zum
Direktor-Stellvertreter, nahm gleich die nötigen Papiere vom Tisch und begann
seinen Bericht. Der Direktor-Stellvertreter schien zunächst kaum zuzuhören. Die
Platte von K.’s Schreibtisch war von einer niedrigen geschnitzten Balustrade
umgeben. Der ganze Schreibtisch war vorzügliche Arbeit und auch die Balustrade
saß fest im Holz. Aber der Direktor-Stellvertreter tat, als habe er gerade
jetzt dort eine Lockerung bemerkt, und versuchte den Fehler dadurch zu
beseitigen, daß er mit dem Zeigefinger auf die Balustrade loshieb. K. wollte
daraufhin seinen Bericht unterbrechen, was aber der Direktor-Stellvertreter nicht
duldete, da er wie er erklärte, alles genau höre und auffasse. Während ihm aber
vorläufig K. keine sachliche Bemerkung abnötigen konnte, schien die Balustrade
besondere Maßregeln zu verlangen, denn der Direktor-Stellvertreter zog jetzt
sein Taschenmesser hervor, nahm als Gegenhebel K.’s Lineal und versuchte die
Balustrade hochzuheben, wahrscheinlich um sie dann leichter desto tiefer
einstoßen zu können. K. hatte in seinen Bericht einen ganz neuartigen Vorschlag
aufgenommen, von dem er sich eine besondere Wirkung auf den
Direktor-Stellvertreter versprach und als er jetzt zu diesem Vorschlag
gelangte, konnte er gar nicht innehalten, so sehr nahm ihn die eigene Arbeit
gefangen oder vielmehr so sehr freute er sich an dem immer seltener werdenden
Bewußtsein, daß er hier in der Bank noch etwas zu bedeuten habe und daß seine
Gedanken die Kraft hatten, ihn zu rechtfertigen. Vielleicht war sogar diese Art
sich zu verteidigen nicht nur in der Bank sondern auch im Proceß die beste,
viel besser vielleicht als jede andere Verteidigung, die er schon versucht
hatte oder plante. In der Eile seiner Rede hatte K. gar nicht Zeit, den
Direktor-Stellvertreter ausdrücklich von seiner Arbeit an der Balustrade
abzuziehn, nur zwei oder dreimal strich er während des Vorlesens mit der freien
Hand wie beruhigend über die Balustrade hin, um damit, fast ohne es selbst
genau zu wissen, dem Direktor-Stellvertreter zu zeigen, daß die Balustrade
keinen Fehler habe und daß selbst wenn sich einer vorfinden sollte,
augenblicklich das Zuhören wichtiger und auch anständiger sei als alle
Verbesserungen. Aber den Direktor-Stellvertreter hatte, wie dies bei lebhaften
nur geistig tätigen Menschen oft geschieht, diese handwerksmäßige Arbeit in
Eifer gebracht, ein Stück der Balustrade war nun wirklich hochgezogen und es
handelte sich jetzt darum die Säulchen wieder in die zugehörigen Löcher
hineinzubringen. Das war schwieriger als alles bisherige. Der
Direktor-Stellvertreter mußte aufstehn und mit beiden Händen versuchen die
Balustrade in die Platte zu drücken. Es wollte aber trotz alles
Kraftverbrauches nicht gelingen. K. hatte während des Vorlesens – das er
übrigens viel mit freier Rede untermischte – nur undeutlich wahrgenommen, daß
der Direktor-Stellvertreter sich erhoben hatte. Trotzdem er die Nebenbeschäftigung
des Direktor-Stellvertreters kaum jemals ganz aus den Augen verlor, hatte er
doch angenommen, daß die Bewegung des Direktor-Stellvertreters doch auch mit
seinem Vortrag irgendwie zusammenhieng, auch er stand also auf und den Finger
unter eine Zahl gedrückt reichte er dem Direktor-Stellvertreter ein Papier
entgegen. Der Direktor-Stellvertreter aber hatte inzwischen eingesehn, daß der
Druck der Hände nicht genügte, und so setzte er sich kurz entschlossen mit
seinem ganzen Gewicht auf die Balustrade. Jetzt glückte es allerdings, die
Säulchen fuhren knirschend in die Löcher, aber ein Säulchen knickte in der Eile
ein und an einer Stelle brach die zarte obere Leiste entzwei. “Schlechtes
Holz,” sagte der Direktor-Stellvertreter ärgerlich, ließ vom Schreibtisch ab
und setzte
Das Haus
Ohne
zunächst eine bestimmte Absicht damit zu verbinden, hatte K. bei verschiedenen
Gelegenheiten in Erfahrung zu bringen gesucht, wo das Amt seinen Sitz habe, von
welchem aus die erste Anzeige in seiner Sache erfolgt war. Er erfuhr es ohne
Schwierigkeiten, sowohl Titorelli als auch Wolfhart nannten ihm auf die erste
Frage hin die genaue Nummer des Hauses. Später vervollständigte Titorelli mit
einem Lächeln, das er immer für geheime ihm nicht zur Begutachtung vorgelegte
Pläne bereit hatte, die Auskunft dadurch, daß er behauptete, gerade dieses Amt
habe nicht die geringste Bedeutung, es spreche nur aus, was ihm aufgetragen
werde und sei nur das äußerste Organ der großen Anklagebehörde selbst, die
allerdings für Parteien unzugänglich sei. Wenn man also etwas von der
Anklagebehörde wünsche – es gäbe natürlich immer viele Wünsche, aber es sei
nicht immer klug, sie auszusprechen – dann müsse man sich allerdings an das
genannte untergeordnete Amt wenden, doch werde man dadurch weder selbst zur
eigentlichen Anklagebehörde dringen, noch seinen Wunsch jemals dorthin leiten.
K.
kannte schon das Wesen des Malers, er widersprach deshalb nicht, erkundigte
sich auch nicht weiter sondern nickte nur und nahm das Gesagte zur Kenntnis.
Wieder schien ihm wie schon öfters in der letzten Zeit, daß Titorelli soweit es
auf Quälerei ankam, den Advokaten reichlich ersetzte. Der Unterschied bestand
nur darin, daß K. Titorelli nicht so preisgegeben war und ihn, wann es ihm
beliebte, ohne Umstände hätte abschütteln können, daß ferner Titorelli überaus
mitteilsam, ja geschwätzig war wenn auch früher mehr als jetzt und daß
schließlich K. sehr wohl auch seinerseits Titorelli quälen konnte.
Und
das tat er auch in dieser Sache, sprach öfters von jenem Haus in einem Ton, als
verschweige er Titorelli etwas, als habe er Beziehungen mit jenem Amte
angeknüpft, als seien sie aber noch nicht so weit gediehn, um ohne Gefahr
bekannt gemacht werden zu können, suchte ihn dann aber Titorelli zu nähern
Angaben zu drängen, lenkte K. plötzlich ab und sprach lange nicht mehr davon.
Er hatte Freude von solchen kleinen Erfolgen, er glaubte dann, nun verstehe er
schon viel besser diese Leute aus der Umgebung des Gerichts, nun könne er schon
mit ihnen spielen, rücke fast selbst unter sie ein, bekomme wenigstens für
Augenblicke die bessere Übersicht, welche ihnen gewissermaßen die erste Stufe
des Gerichtes ermöglichte, auf der sie standen. Was machte es, wenn er seine
Stellung hier unten doch endlich verlieren sollte? Dort war auch dann noch eine
Möglichkeit der Rettung, er mußte nur in die Reihen dieser Leute schlüpfen,
hatten sie ihm infolge ihrer Niedrigkeit oder aus andern Gründen in seinem
Processe nicht helfen können, so konnten sie ihn doch aufnehmen und verstecken,
ja sie konnten sich, wenn er alles genügend überlegt und geheim ausführte, gar
nicht dagegen wehren, ihm auf diese Weise zu dienen, besonders Titorelli nicht,
dessen naher Bekannter und Wohltäter er doch jetzt geworden war.
Von
solchen und ähnlichen Hoffnungen nährte sich K. nicht etwa täglich, im
allgemeinen unterschied er noch genau und hütete sich irgendeine Schwierigkeit
zu übersehn oder zu überspringen, aber manchmal – meistens waren es Zustände
vollständiger Erschöpfung am Abend nach der Arbeit – nahm er Trost aus den
geringsten und überdies vieldeutigsten Vorfällen des Tages. Gewöhnlich lag er
dann auf dem Kanapee seines Bureaus – er konnte sein Bureau nicht mehr
verlassen, ohne eine Stunde lang auf dem Kanapee sich zu erholen – und fügte in
Gedanken Beobachtung an Beobachtung. Er beschränkte sich nicht peinlich auf die
Leute, welche mit dem Gericht zusammenhingen, hier im Halbschlaf mischten sich
alle, er vergaß dann an die große Arbeit des Gerichtes, ihm war als sei er der
einzige Angeklagte und alle andern giengen durcheinander wie Beamte und
Juristen auf den Gängen eines Gerichtsgebäudes, noch die stumpfsinnigsten
hatten das Kinn zur Brust gesenkt, die Lippen aufgestülpt und den starren Blick
verantwortungsvollen Nachdenkens. Immer traten dann als geschlossene Gruppe die
Mieter der Frau Grubach auf, sie standen beisammen Kopf an Kopf mit offenen
Mäulern wie ein anklagender Chor. Es waren viele Unbekannte unter ihnen, denn
K. kümmerte sich schon seit langem um die Angelegenheiten der Pension nicht im
Geringsten. Infolge der vielen Unbekannten machte es ihm aber Unbehagen sich
näher mit der Gruppe abzugeben, was er aber manchmal tun mußte, wenn er dort
Fräulein Bürstner suchte. Er überflog z. B. die Gruppe und plötzlich glänzten
ihm zwei gänzlich fremde Augen entgegen und hielten ihn auf. Er fand dann
Fräulein Bürstner nicht, aber als er dann, um jeden Irrtum zu vermeiden
nochmals suchte, fand er sie gerade in der Mitte der Gruppe, die Arme um zwei
Herren gelegt, die ihr zur Seite standen. Es machte unendlich wenig Eindruck
auf ihn, besonders deshalb da dieser Anblick nichts neues war, sondern nur die
unauslöschliche Erinnerung an eine Photographie vom Badestrand, die er einmal
in Fräulein Bürstners Zimmer gesehen hatte. Immerhin trieb dieser Anblick K.
von der Gruppe weg und wenn er auch noch öfters hierher zurückkehrte so
durcheilte er nun mit langen Schritten das Gerichtsgebäude kreuz und quer. Er
kannte sich immer sehr gut in allen Räumen aus, verlorene Gänge, die er nie
gesehen haben konnte, erschienen ihm vertraut, als wären sie seine Wohnung seit
jeher, Einzelheiten drückten sich ihm mit schmerzlichster Deutlichkeit immer
wieder ins Hirn, ein Ausländer z. B. spazierte in einem Vorsaal, er war
gekleidet ähnlich einem Stierfechter, die Taille war eingeschnitten wie mit
Messern, sein ganz kurzes ihn steif umgebendes Röckchen bestand aus gelblichen
grobfädigen Spitzen und dieser Mann ließ sich, ohne sein Spazierengehn einen
Augenblick einzustellen, unaufhörlich von K. bestaunen. Gebückt umschlich ihn
K. und staunte ihn mit angestrengt aufgerissenen Augen an. Er kannte alle
Zeichnungen der Spitzen, alle fehlerhaften Fransen, alle Schwingungen des
Röckchens und hatte sich doch nicht sattgesehn. Oder vielmehr er hatte sich
schon längst sattgesehn oder noch richtiger er hatte es niemals ansehen wollen
aber es ließ ihn nicht. “Was für Maskeraden bietet das Ausland!” dachte er und
riß die Augen noch stärker auf. Und im Gefolge dieses Mannes blieb er bis er
sich auf dem Kanapee herumwarf und das Gesicht ins Leder drückte.
Fahrt zur Mutter
Plötzlich
beim Mittagessen fiel ihm ein er solle seine Mutter besuchen. Nun war schon das
Frühjahr fast zu Ende und damit das dritte Jahr seitdem er sie nicht gesehen
hatte. Sie hatte ihn damals gebeten an seinem Geburtstag zu ihr zu kommen, er hatte
auch trotz mancher Hindernisse dieser Bitte entsprochen und hatte ihr sogar das
Versprechen gegeben jeden Geburtstag bei ihr zu verbringen, ein Versprechen,
das er nun allerdings schon zweimal nicht gehalten hatte. Dafür wollte er aber
jetzt nicht erst bis zu seinem Geburtstag warten, obwohl dieser schon in
vierzehn Tagen war, sondern sofort fahren. Er sagte sich zwar, daß kein
besonderer Grund vorlag gerade jetzt zu fahren, im Gegenteil, die Nachrichten,
die er regelmäßig alle zwei Monate von einem Vetter erhielt, der in jenem
Städtchen ein Kaufmannsgeschäft besaß und das Geld, welches K. für seine Mutter
schickte, verwaltete, waren beruhigender als jemals früher. Das Augenlicht der
Mutter war zwar am Erlöschen, aber das hatte K. nach den Aussagen der Ärzte
schon seit Jahren erwartet, dagegen war ihr sonstiges Befinden ein besseres
geworden, verschiedene Beschwerden des Alters waren statt stärker zu werden
zurückgegangen, wenigstens klagte sie weniger. Nach der Meinung des Vetters
hieng dies vielleicht damit zusammen, daß sie seit den letzten Jahren – K.
hatte schon bei seinem Besuch leichte Anzeichen dessen fast mit Widerwillen
bemerkt – unmäßig fromm geworden war. Der Vetter hatte in einem Brief sehr
anschaulich geschildert, wie die alte Frau, die sich früher nur mühselig
fortgeschleppt hatte, jetzt an seinem Arm recht gut ausschritt, wenn er sie
Sonntags zur Kirche führte. Und dem Vetter durfte K. glauben, denn er war
gewöhnlich ängstlich und übertrieb in seinen Berichten eher das Schlechte als
das Gute.
Aber
wie es auch sein mochte, K. hatte sich jetzt entschlossen zu fahren; er hatte
neuerdings unter anderem Unerfreulichem eine gewisse Wehleidigkeit an sich
festgestellt, ein fast haltloses Bestreben allen seinen Wünschen nachzugeben –
nun, in diesem Fall diente diese Untugend wenigstens einem guten Zweck.
Er
trat zum Fenster, um seine Gedanken ein wenig zu sammeln, ließ dann gleich das
Essen abtragen, schickte den Diener zu Frau Grubach um seine Abreise ihr
anzuzeigen und die Handtasche zu holen, in die Frau Grubach einpacken möge was
ihr notwendig scheine, gab dann Herrn Kühne einige geschäftliche Aufträge für
die Zeit seiner Abwesenheit, ärgerte sich diesmal kaum darüber, daß Herr Kühne
in einer Unart die schon zur Gewohnheit geworden war, die Aufträge mit
seitwärts gewendetem Gesicht entgegennahm, als wisse er ganz genau was er zu
tun habe und erdulde diese Auftragerteilung nur als Ceremonie, und gieng
schließlich zum Direktor. Als er diesen um einen zweitägigen Urlaub ersuchte,
da er zu seiner Mutter fahren müsse, fragte der Direktor natürlich, ob K.’s
Mutter etwa krank sei. “Nein,” sagte K. ohne weitere Erklärung. Er stand in der
Mitte des Zimmers, die Hände hinten verschränkt. Mit zusammengezogener Stirn
dachte er nach. Hatte er vielleicht die Vorbereitungen zur Abreise übereilt?
War es nicht besser hierzubleiben? Was wollte er dort? Wollte er etwa aus
Rührseligkeit hinfahren? Und aus Rührseligkeit hier möglicherweise etwas
Wichtiges versäumen, eine Gelegenheit zum Eingriff, die sich doch jetzt jeden
Tag jede Stunde ergeben konnte, nachdem der Proceß nun schon wochenlang
scheinbar geruht hatte und kaum eine bestimmte Nachricht an ihn gedrungen war?
Und würde er überdies die alte Frau nicht erschrecken, was er natürlich nicht
beabsichtigte, was aber gegen seinen Willen sehr leicht geschehen konnte, da
jetzt vieles gegen seinen Willen geschah. Und die Mutter verlangte gar nicht
nach ihm. Früher hatten sich in den Briefen des Vetters die dringenden
Einladungen der Mutter regelmäßig wiederholt, jetzt schon lange nicht. Der
Mutter wegen fuhr er also nicht hin, das war klar. Fuhr er aber in irgendeiner
Hoffnung seinetwegen hin, dann war er ein vollkommener Narr und würde sich dort
in der schließlichen Verzweiflung den Lohn seiner Narrheit holen. Aber als wären
alle diese Zweifel nicht seine eigenen, sondern als suchten sie ihm fremde
Leute beizubringen, verblieb er, förmlich erwachend, bei seinem Entschluß zu
fahren. Der Direktor hatte sich indessen zufällig oder was wahrscheinlicher war
aus besonderer Rücksichtnahme gegen K. über eine Zeitung gebeugt, jetzt hob
auch er die Augen, reichte aufstehend K. die Hand und wünschte ihm, ohne eine
weitere Frage zu stellen, glückliche Reise.
K.
wartete dann noch, in seinem Bureau auf und abgehend, auf den Diener, wehrte fast
schweigend den Direktor-Stellvertreter ab, der mehrere Male hereinkam um sich
nach dem Grund von K.’s Abreise zu erkundigen, und eilte, als er die Handtasche
endlich hatte, sofort hinunter zu dem schon vorherbestellten Wagen. Er war
schon auf der Treppe, da erschien oben im letzten Augenblicke noch der Beamte
Kullych, in der Hand einen angefangenen Brief, zu dem er offenbar von K. eine
Weisung erbitten wollte. K. winkte ihm zwar mit der Hand ab, aber
begriffsstützig, wie dieser blonde großköpfige Mensch war, mißverstand er das
Zeichen und raste das Papier schwenkend in lebensgefährlichen Sprüngen hinter
K. her. Dieser war darüber so erbittert, daß er, als ihn Kullych auf der
Freitreppe einholte, den Brief ihm aus der Hand nahm und zerriß. Als K. sich dann
im Wagen umdrehte, stand Kullych, der seinen Fehler wahrscheinlich noch immer
nicht eingesehen hatte, auf dem gleichen Platz und blickte dem davonfahrenden
Wagen nach, während der Portier neben ihm tief die Mütze zog. K. war also doch
noch einer der obersten Beamten der Bank, wollte er es leugnen, würde ihn der
Portier widerlegen. Und die Mutter hielt ihn sogar trotz aller Widerrede für
den Direktor der Bank und dies schon seit Jahren. In ihrer Meinung würde er
nicht sinken, wie auch sonst sein Ansehen Schaden gelitten hatte. Vielleicht
war es ein gutes Zeichen, daß er sich gerade vor der Abfahrt davon überzeugt
hatte, daß er noch immer einem Beamten, der sogar mit dem Gericht Verbindungen
hatte, einen Brief wegnehmen und ohne jede Entschuldigung zerreißen durfte. Das
allerdings was er am liebsten getan hätte, hatte er nicht tun dürfen, Kullych
zwei laute Schläge auf seine bleichen runden Wangen zu geben.